Er weitet sich aus von einer ursprünglich vermuteten „vorsätzlichen Mordtat“, als welche ihn die türkischen anonymen Sprecher anfangs bezeichneten, zu einer Frage der politischen Beziehungen Saudi-Arabiens mit den USA einerseits. Sowie andererseits zu Fragen über den angeblichen politischen Modernisierer, Kronprinz MBS (Muhammed Bin Sultan) und die Methoden seiner Machtausübung und Machtabsicherung gegenüber möglichen Rivalen in Saudi-Arabien selbst.
Informationstropfen aus der Türkei
Dass die Mordtat – neuerdings eingestanden von Saudi-Arabien – dermassen schwerwiegende Folgen nach sich zieht, geht zurück auf das Verhalten der Türkei und Saudi-Arabiens. Ankara erkannte, dass möglichwerweise Washington und Präsident Trump ihre Hand dazu bieten würden, die Angelegenheit unter den Teppich zu kehren, um den saudischen Kronprinzen und sein Regime zu entlasten. Ankara hatte ein Interesse dran, dass dies nicht geschieht, einerseits aus Prestigegründen, andererseits wohl auch, weil die Sachlage die Möglichkeit bot, Saudi-Arabien zu politischen und finanziellen Konzessionen gegenüber Ankara zu bewegen, falls der Skandal der Mordaktion nicht ad acta gelegt werde.
Die Türkei schritt zu einer Informationspolitk der Tropf-Offensive. Offiziell äusserte die Regierung sich nicht, doch sie sorgte dafür, dass die Presse im Inland und in den USA durch anonyme Gewährsleute in Atem gehalten wurde, indem Einzelinformationen, Stück für Stück, durchsickerten. Das Verbrechen war sensationell genug, dass die türkische und die Weltpresse mitspielten. Sie veröffentlichten die durchgesickerten neuen Details so gut wie jeden Tag, während einer Periode von nun schon über drei Wochen.
Saudische Reaktionen, türkisches Spiel
Die saudischen Behörden spielten in die Richtung der türkischen Tropfen-Aktion, indem sie ihrerseits ihre Darstellung der Ereignisse völlig veränderten. Sie begannen mit empörten Dementis und endeten mit der ebenso unglaubwürdigen Behauptung, der Journalist sei gewissermassen versehentlich im Verlauf eines Streites im Konsulat getötet worden. Das gab auch zu schreiben und zu reden, zusätzlich zu den türkischen offiziösen Durchsagen.
Die Dauerpräsenz des Khashoggi -Mordes in den Medien wurde dadurch gesichert. Trump kam unter den Druck der amerikanischen Parlamentarier und sah sich veranlasst, die Sache ernster zu nehmen, als ihm das eigentlich lieb gewesen wäre. Er musste sogar von möglichen Strafmassnahmen gegenüber Riad und dem dort allmächtigen Prinzen zwitschern.
Eine Rettungsaktion für den Kronprinz
Auf der saudischen Seite sahen die Anhänger des Kronprinzen sich gezwungen, eine „fire wall“ rund um MBS aufzubauen, um möglichst glauben zu machen, der Kronprinz selbst habe von dem Verbrechen und seiner Planung und Vorbereitung „nichts gewusst“. Um dies zu tun, mussten sie andere angeblich Schuldige vorschieben. Und um Sündenböcke zu finden, mussten sie auch zugeben, dass Khashoggi im Konsulat „verstorben“ war. So kam die Fama zustande, durch die die vorsätzliche Mordaktion der saudischen Geheimdienste, ohne Zweifel auf Befehl des Kornprinzen, in einen quasi Unfall verwandelt werden sollte. Einige Sündenböcke wurden in der Gestalt der ausübenden Geheimdienstfunktionäre und Kommandanten gefunden, die nach Istanbul geflogen waren, um den Mord durchzuführen.
Zusammenbruch einer PR-Fassade
Die Dauerpräsenz der Khashoggi-Frage vor der Öffentlichkeit löste unvermeidlich auch Fragen aus über die Natur des „Reform“-Regimes von MBS. Der Kronprinz hatte Millionen für Public-Relations-Firmen ausgegeben, die sein internationales Image als modernisierenden Reform-Staatsmann in Saudi-Arabien aufpolieren und hochhalten sollten. Es gab einge Massnahmen, an welche die PR-Leute anknüpfen konnten, und sie verfehlten nicht, das zu tun. Dass den Frauen endlich erlaubt wurde, Auto zu fahren, kam sehr gross aufs Tapet. Dass einige der Frauen, die sich dafür eingesetzt hatten, Auto fahren zu dürfen, in die Gefängisse des Königreiches eingeschlossen wurden, wurde weniger unterstrichen. Was den Opfern des Prinzen dort geschah und weiter geschehen könnte, weiss man nicht. Auch nicht, warum genau sie dem Prinzen zum Opfer fielen. Es könnte entweder sein, weil sie weitere Liberalisierungsmassnahmen forderten, oder auch einfach, weil MBS für sich selbst den Ruhm für die Fahrerlaubnis für Frauen beanspruchen wollte.
Stillschweigen über die anderen Opfer
Es gab keine Durchsickerungs- und Tropfinformationskampagne zu Gunsten der anderen Intellektuellen, Geistlichen, Prinzen, Geschäftsleute und vor allen anderen: saudischen Schiiten, die zu Dutzenden, wenn nicht zu Hunderten, in den Verliessen Saudi Arabiens verschwunden sind. Einige wurden offiziell hingerichtet, andere in geheim durchgeführten angeblichen Prozessen zum Tode verurteilt und viele weitere blieben einfach verschwunden. Auch Sippenhaft wurde geübt. Wenn die angeblichen Feinde des Regimes nicht aufgespürt werden konnten, wurden in mehreren Fällen deren Verwandte verhaftet.
Der Fall Khashoggi steht nun für sie alle. Er allein führte dazu, dass die PR-Figur des Kronprinzen und seine Reformfassade hinterfragt wurden. MBS muss als die Hauptperson angesehen werden, die den Jemen-Krieg befürwortete, auslöste und mit zunehmend inhumanen Methoden immer weitertreibt, weil er ihn nicht verlieren will, obgleich er bis jetzt nicht zu gewinnen war. Auf MBS dürfte der Streit zwischen Qatar und Saudi-Arabien zurückgehen. Er hat die Erpressungsaktion gegen seine Prinzen und Geschäftsleute im Riad Ritz-Carlton-Luxushotel organisiert, die als Anti-Korruptionsfeldzug eingekleidet wurde. Er hat versucht, den libanesischen Ministerpräsidenten, Saad Hariri, in Riad festzuhalten und zum Rücktritt von seinem Amt in Libanon zu zwingen.
Politische Ziele werden als Vorwände sichtbar
Die Vorwände, die dazu dienten, diese Gewalt- und Abruptaktionen zu rechtfertigen, waren der angeblich notwendige Kampf gegen Iran und die Bekämpfung der Korruption. Sie sind angesichts der Khashoggi-Mordaktion durchsichtig oder hinfällig geworden. Es geht daher nun um die politische Zukunft des Kronprinzen und vielleicht auch um die seines Vaters, des Königs. Sowie auch um das Verhältnis zwischen dem Königreich und den USA, das am Ende des Zweiten Weltkriegs eingerichtet und seither zum Wohl beider Seiten solide geblieben war. Damit verbunden sind finanzielle Fragen, weil die Saudis weltweit investieren, besonders intensiv in den USA.
Drohungen, dass das Königreich auf mögliche amerikanische Sanktionen, von denen Präsident Trump zwitscherte, seinerseits zurückschlagen könnte, sind schon gefallen. Doch neben diesen gibt es auch Hinweise auf das Gegenteil, nämlich dass Trump sein bisher privilegiertes Verhältnis zu MBS soweit wie möglich zu bewahren sucht.
MBS, Sturz oder Machtfestigung?
Es geht aber auch um die Zukunft von MBS. Möglicherweise kommt es noch zu einer Erhebung der riesigen saudischen Königsfamilie gegen ihn in einer Palastrevolution. Doch möglicherweise geschieht auch das Gegenteil. MBS könnte seine Situation weiter festigen und durchhalten, indem er noch absoluter herrscht. Der Kronprinz verfügt über Anhänger und Schmeichler. Es heisst, die saudische Jugend stimme ihm zu und glaube weiter an seine grossen Pläne und Versprechen. Einen Hinweis auf weitere Machtkonzentration zu Gunsten des Königs und seines Lieblingssohnes gibt der Umstand, dass MBS neben seiner Tätigkeit als saudischer Kriegsminister und oberster Wirtschaftsdirigent nun, nach dem Khashoggi-Mord, auch noch den Vorsitz einer Kommission übernommen hat, die sich der „Reinigung und Modernisierung“ der saudischen Geheimdienste widmen soll.
Mögliche Zielsetzungen Erdogans
Neben den USA steht natürlich auch die Türkei in dem politischen Ringen. Als Freunde Qatars und Schutzmacht der Muslim-Brüder waren die Türken bisher nicht gut angeschrieben in Riad und in den mit Riad verbündeten VAE. Vielleicht könnte es Erdogan jedoch gelingen, sich die Dankbarkeit von Riad zu verschaffen. Ihn interessiert das saudische Geld, weil die Türkei sich in einer Wirtschaftskrise befindet. Mit etwas Glück könnte Erdogan sich gut stellen, entweder mit einem neuen Regime in Riad, das jenem von MBS nachfolgen würde, oder mit MBS selbst, den er stärken würde, indem er ihm hilft, der Verantwortung für den Mord zu entgehen.
Doch welche der beiden entgegengesetzten Wege Erdogan einschlagen müsste, hängt natürlich davon ab, wer in Riad an der Macht bleibt oder neu an sie kommt. Um dies zu wissen, muss Ankara abwarten, seine Durchsickerungs-Informationskampagne zu Handen der türkischen und der Weltmedien fortsetzen und den Druck auf Riad zunächst weiter steigern.
Teheran schweigt
Man könnte erwarten, dass Teheran angesichts des saudischen Prestigeverlustes laut triumphiert. Doch dies ist bis jetzt nicht geschehen. Wahrscheinlich, weil Teheran weiss und auch sehr deutlich zu spüren bekommt, dass seine wahren Feinde in der Trump-Administration in Washington sitzen und von dort aus einen Wirtschaftskrieg gegen die Islamische Republik führen, der in den kommenden Wochen droht, seinen Höhepunkt zu erreichen. Saudi-Arabien ist demgegenüber für Iran Nebensache.