Zur Zeit erleidet die syrische Regierung Rückschläge in ihrem Kampf mit den Aufständischen, und im Irak sucht der IS die Scharten auszuwetzen, die das "Kalifat" dort hinnehmen musste. In beiden Staaten will der IS die Offensive aufrecht erhalten.
Das Schicksal der Flüchtlinge
Der IS hat in den letzten Wochen einige Rückschläge hinnehmen müssen. Seine Kämpfer wurden schon im Februar aus Diyala zurückgedrängt; das ist die sunnitisch-schiitisch gemischte Provinz nordöstlich von Bagdad. Darauf folgte die Niederlage nach bitteren Kämpfen mit den Kurden in Kobane, an der syrisch-türkischen Grenze. Dann kam der Kampf um Tikrit, der mit einer Entvölkerung der Stadt und der Vertreibung vom IS aus ihren Ruinen endete.
Bisher konnte die aus Tikrit entflohene Zivilbevölkerung nicht dorthin zurückkehren. Warum, ist unklar, teilweise, so wird gesagt, weil es immer noch Tretminen und ähnliche explosive Fallen gibt, teils aber auch, weil sich die schiitischen Milizen der Stadt bemächtigt haben. Die sunnitischen Bewohner von Tikrit fürchten sich, dorthin zurückzukehren und dann von den schiitischen Milizen angeklagt zu werden, sie hätten - als Sunniten - mit dem IS kollaboriert.
Gegenangriffe in Baiji und Anbar
Nach Tikrit setzte der IS zu einem Gegenangriff an, den das "Kalifat" sowohl gegen Baiji richtete, die grösste Raffinerie des Iraks und die nahe gelegene Stadt gleichen Namens. Beide haben mehrmals die Hand gewechselt. Der IS konnte sich in Teilen der Raffiniere festsetzen. Sie bildet ein riesiges ummauertes und umzäuntes Gelände. Dass die Raffinerie in den Kämpfen funktionsunfähig geworden sei, wie amerikanische Militärs berichteten, kann man leicht glauben.
Der wichtigere der beiden Gegenangriffe richtet sich auf die Anbar Provinz. Diese weite Wüstenprovinz westlich von Bagdad ist die Heimat von überwiegend sunnitischen Stämmen. Ihre Bedeutung liegt darin, dass von dieser Wüste aus Infiltrationen nach Osten in das Tigristal, nach Bagdad und auch in die schiitischen Städte südlich von Bagdad leicht möglich sind, solange die Infiltratoren die Wege und Pisten der westlichen Wüste beherrschen.
Die Hauptstadt von Anbar, Ramadi, nur 110 Kilometer von Bagdad entfernt, war seit Januar 2014 umkämpft. Die Regierung hatte dort ein Gebiet im Zentrum der Stadt in Besitz behalten, wo die Fäden der Polizei und der zivilen Administration zusammenlaufen. Dieses "Regierungscompound" ist in der vergangenen Woche in die Hände vom IS gefallen. Der IS hatte einen Bulldozer und fünf separate Selbstmordattentäter eingesetzt, um einzudringen. Etwa 50 Polizisten wurden vom IS gefangen genommen. Die irakische Armee soll sich ausserhalb Ramadis zurückgezogen haben und versuchen, weiter Widerstand zu leisten. Luftschläge fanden keine statt, weder von amerikanischer noch von irakischer Seite. Die verbliebenen Reste der Bevölkerung flohen aus der Stadt, soweit sie es irgend konnten.
Misstrauen gegen Sunniten
Um in Bagdad Zuflucht zu finden, müssen die Flüchtlinge aus Tikrit und aus Ramadi (beinahe alles Sunniten), mehrere Hundertausend Personen, je einen Bürgen in Bagdad finden, der bezeugt, dass sie keine Infiltratoren vom IS seien. Dieser Bürge muss vermutlich mit Strafe rechnen, falls sich erweisen sollte, dass sie es dennoch sind. Ohne Bürgschaft bleiben die Flüchtlinge im äusseren Umfeld der Hauptstadt, wo sie nicht die gleiche Sicherheit gegen Übergriffe durch schiitische bewaffnete Banden finden, die sie innerhalb der Hauptstadt genössen.
Die meisten der Stämme von Anbar erklären, sie wären bereit, sich gegen den IS selbst zu verteidigen, wenn sie nur von der Regierung Waffen erhielten. Doch die Politiker des Parlamentes von Badgad, unter denen die Schiiten die Mehrheit bilden, haben sich bisher nicht bereit gefunden, die sunnitsichen Stämme zu bewaffnen. Die Abgeordneten fürchten, dass solche Waffen möglicherweise in die Hände vom IS gelangen könnten, oder dass sie künftig gegen die überwiegend schiitische Zentralmacht eingesetzt würden.
Ein Gefälle zu Gunsten vom IS
All dies bedeutet, dass der IS in Anbar ein Gelände vorfindet, in dem er auf die Hilfe weiter Teile der Bevölkerung zählen kann, denn ohne Waffen haben die Stämme keine andere Wahl, als sich dem IS gefällig zu zeigen. Im Gegensatz zu der Regierung betreibt der IS eine aktive Stammespolitik.
Das "Kalifat" ist bemüht, die stets bestehenden Spannungen und Zerwürfnisse unter den Stämmen und Klans so zu vertiefen und zu instrumentalisieren, dass jeweils mindestens eine Hälfte der streitenden Gruppen sich vom IS „helfen“ lässt - wenn es dem "Kalifat" nicht sogar gelingt, beide Seiten seiner angeblich geheim gehaltenen Unterstützung zu versichern und die entsprechende Zusammenarbeit einzufordern.
Dreifaches Ringen In Syrien
Auf der syrischen Seite des Kalifates ist die Lage komplexer. Während der IS im Irak als einzige Kraft gegen die Regierungskräfte, Armee und Milizen, sowie gegen die Kurden im Feld steht, findet sich in Syrien eine Dreierkombination: die Fronten der zahlreichen Kampfgruppen gegen Asad, die nun versuchen, sich zu grösseren "Heeren" zusammenzuschliessen; dagegen die Asad Armee mit ihren libanesischen Verbündeten von Hizbullah, ihrer Volksarmee und anderen Milizen; als dritte Kraft steht der IS im Feld.
Die beiden Erstgenannten kämpfen um den Sturz oder das Verbleiben des Asad-Regimes. Aber der IS geht primär darauf aus, sein eigenes Territorium auszuweiten. Wenn sich Gelegenheiten dazu ergeben, sowohl auf Kosten der Feinde Asads wie auch auf die des Regimes. Gleichzeitig bildet der IS das wichtigste Ziel der Luftangriffe der USA und ihrer Verbündeten in den syrischen Kampfgebieten. Die Amerikaner und die Mitwirkenden haben ein "informelles", das heisst geheim gehaltenes Stillhalteabkommen mit Asad in Bezug auf die Luftangriffe. Während die Feinde Asads, die nicht zum IS gehören, gelegentlich auch zu Zielen der amerikanischen Angriffe werden, weil es unter ihnen Gruppen gibt, die von den Amerikanern als "terroristisch" eingestuft werden, in erster Linie die Nusra Front. Neben ihr gelten den Amerikanern auch andere, manchmal im Verein mit ihr handelnde, „zahmere“ Islamisten als Terroristen.
In der Region von Mayadin, im Euphrattal nah an der irakischen Grenze, haben die Amerikaner am vergangenen Freitag eine Kommandoaktion durchgeführt, ihre erste erfolgreiche Operation dieser Art. Der "Erdölminister" vom IS, Abu Sayyaf, offenbar ein Tunesier, wurde bei dieser Aktion zusammen mit mehreren anderen IS Kämpfern erschossen und seine Frau gefangen genommen. Auch eine Jeziden Frau wurde befreit, welche die beiden als Sklavin hielten.
Asad auf dem Rückzug?
Die Dynamik der Lage in Syrien bewirkt, dass im gegenwärtigen Zeitpunkt viele der Analysten die Frage aufwerfen, ob Asads Regime im Niedergang sei. Sie begründen diese Möglichkeit mit den Niederlagen der Regierungskräfte in Idlib und Dschisr al-Scharur. Das sind zwei strategischen Positionen, die die Regierung zu halten versuchte, aber aufzugeben gezwungen war, und mit den Rückschlägen an der südlichen Front mit der Einnahme von Busra, nah an der jordanischen Grenze, durch die dort vereinigten Kräfte des islamistischen und des säkularen Widerstandes, in erster Linie der FSA (Freie Syrische Armee) und der Nusra Front.
Gemeinsam mit anderen kleineren Gruppen nennt sich dieser Zusammenschluss nun die "Siegesarmee". Dazu kommen in den Augen der Analysten wachsende Finanzschwierigkeiten, die sie mit der vermuteten Unwilligkeit oder Unfähigkeit Irans in Zusammenhang bringen, mit immer neuen Milliardenbeträgen auszuhelfen. Weiter verweisen sie auf eine Welle von Streitigkeiten unter den Spitzen der syrischen Geheimdienste. Manche von diesen führten zu tödlichen Zwischenfällen, andere nur zu Dementis durch die Regierungssprecher.
Wird Damaskus zum zentralen Schlachtfeld?
Man kann annehmen, dass auch die Führung vom IS solche Gerüchte kennt und aufnimmt. Soweit sie ihm glaubhaft scheinen, werfen sie für den IS die Frage auf, was geschähe, wenn das Regime von Damaskus ganz oder teilweise einstürzte. Ihre Strategen müssen sich sagen: In einem solchen Falle stünde ihr Rivale von Nusra dem Ort des Geschehens viel näher als sie selbst.
Es ginge im Falle des Eintretens solcher Hoffnungen darum, im Zentrum, Damaskus, Einfluss zu gewinnen und Schwächen des Regimes rasch auszunützen. Dafür wären jene Kampfgruppen am besten positioniert, die in der Nähe der Hauptstadt stehen. Das heisst Nusra Front und Verbündete. Die Vorstösse nach Westen, die der IS gegenwärtig in Syrien unternimmt, könnten mit solchen Erwartungen zusammenhängen.
Der IS auf dem Marsch nach Westen
Im April gab es Infiltrationsversuche durch den IS in das Palästinenserlager Yarmuk südlich von Damaskus und an der südlichen Front von Qunaitra. Beide wurden von den lokalen Kampfgruppen abgewehrt. Doch es gibt auch einen militärischen Vorstoss vom IS quer durch die Provinz Homs von Osten, aus dem Euphrat Tal, nach Westen zum Tal des Orontes. Dieser Vorstoss hat Palmyra erreicht, das heisst die Ansammlung von Oasen ziemlich genau zwischen den beiden bewohnten Gebieten.
Die Regierung in Damaskus warnte, die berühmte Ruinenstadt befinde sich in Gefahr, und löste damit ein weltweites Echo aus. Der syrische Archäologe, Amr al-Azm, der sich im Ausland befindet, merkte an, das laute Echo, das die Gefährdung der Ruinen hervorrufe, könnte den IS erst recht dazu animieren, sich gegen Palmyra zu vergehen, weil es deutlich mache, welch grossen Widerhall solche Aktionen auslösen. Gewissermassen erweisen sie sich für die IS-Propagandisten als ebenso lohnend oder noch lohnender als Enthauptungen. Al-Azm sagte, es sei so, wie wenn Verbrecher in eine Wohnung eindrängen, um Wertsachen zu rauben, und die Bewohner den Blick beständig auf das Bett richten würden, unter dem sie diese versteckt hielten.
Palmyra ist auch ein strategisches Ziel
Noch wird erst im Umfeld der Ruinen und des Fleckens Plamyra (Tadhmor) gekämpft. Die Regierung will Verstärkungen nach Palmyra gesandt haben. Doch die Gefahr, dass die Stadt und die Ruinen eingenommen werden, ist akut. Palmyra ist nicht bloss der antiken Ruinen wegen von Bedeutung. Es bildet auch einen Knotenpunkt der Strassen, die nach Homs und nach Damaskus führen. In der Nähe liegt das grösste Erdgasvorkommen Syriens.
Ein Militärflugplatz und grosse Munitionslager der syrischen Armee befinden sich an den äusseren Rändern der grossen Oase aus Palmenwäldern. Es gibt auch ein berüchtigtes Zuchthaus in Tadhmor (Palmyra), von dem es heisst, es beherberge weiterhin viele der islamistischen Feinde des Regimes. Für den Vorstoss von IS nach Westen würde der Besitz der Oasenstadt ein Sprungbrett abgeben, um wahlweise in Richtung Homs oder in Richtung Damaskus vorzudringen.
Kampf gegen den IS durch Nusra und Verbündete
Es gab bis vor kurzem eine Zusammenarbeit zwischen Nusra und dem IS im Westen Syriens, besonders an der libanesischen Grenze, wo sich weiterhin Kämpfe an den Qalamoun Bergen abspielen. Dies ist ein nördlicher Teil des Anti-Libanon Gebirges, von dem aus die Hauptverkehrsachse Syriens, die Strasse zwischen Damaskus und Aleppo, beschossen und gesperrt werden kann. Jebel Qalamoun bietet auch Schmuggelwege von Libanon nach Syrien, auf denen noch immer Waffen für den Widerstand nach Syrien gelangen. Die dortige lokale Zusammenarbeit zwischen Nusra und IS scheint jedoch zusammengebrochen zu sein. Dies wegen Übergriffen der Kämpfer vom IS gegen Gruppen von Nusra. Auch die Hizbullah Milizen, die für Asad kämpfen, haben gelobt, sie würden IS in den Qalamoun Bergen eliminieren.
Auch in Aleppo ein Krieg im Krieg
Eine Zusammenarbeit gab es bisher auch in Sektoren von Aleppo. Doch auch von dort wird gemeldet, dass der IS verbündete Kampfgruppen überfallen und niedergemacht habe. Dies sogar mit Hilfe von Selbstmordanschlägen. Natürlich mit der Folge, dass die Zusammenarbeit in Feindschaft umschlug. Gleichzeitig stehen die bisher verbündeten und nun verfeindeten Kämpfer in einer Abwehrschlacht gegen die Truppen des Regimes, die versuchen, die westlichen vom Widerstand gehaltenen Stadtteile von ihren Verbindungen zum Hinterland abzuschneiden und sie so des Nachschubs zu berauben. Dies ist ihnen bisher misslungen.
Die "Fassbomben" töten Zivilisten
Dafür halten sich die Regierungskräfte durch den skrupellosen Gebrauch von "Fassbomben" schadlos. Dies sind Metallkanister voller Explosivstoffe und Eisenstücken, die aus Helikoptern auf zivile Stadtviertel abgeworfen werden. Sie können ganze Häuserblocks zerstören und sie fallen manchmal auf Menschenansammlungen wie Warteschlangen vor den Bäckereien, die noch funktionieren, und auch auf Märkte, Schulen und Spitäler. Sie haben viele Hunderte von Menschenleben gekostet und ihre Verwendung geht weiter. Nach der Statistik einer der syrischen Beobachtergruppen, die sich Syrische Monitor Gruppe nennt, haben die Fassbomben zwischen Januar 2014 und März 2015 3124 Zivilisten getötet sowie 35 Kämpfer. Amnesty international hat die Wirkung von 8 Fassbomben im Detail untersucht und stellte fest, dass diese 188 Zivilisten sowie einem Kämpfer das Leben kosteten.