Mali, einer der afrikanischen Sahara Staaten, einst französische Kolonie und immer noch unter französischen Einfluss, konnte als eine Domäne Frankreichs und Westafrikas angesehen werden.
Doch in der Gasförderungsanlage von In Amenas wurden Norweger, Franzosen, Engländer, Schotten, Japaner, Amerikaner, Iren, Rumänier, Österreicher, Kolumbianer, Thailänder, Philippiner, Südkoreaner und (ein?) Deutscher sowie eine grosse Zahl von algerischen Arbeitern gefangen genommen. Die Algerier scheinen in der Zwischenzeit freigelassen worden zu sein. Doch die europäischen und amerikanischen Geiseln wurden, nach den Aussagen eines Betroffenen, "gezwungen, Explosivgürtel zu tragen".
Warnungen und Verhandlungsansätze
Die algerischen Behörden bestanden darauf, die Verhandlungen zu führen und allenfalls Aktionen gegen Geiselnehmer in eignener Regie zu unternehmen. Ihre Soldaten umstellten die Wohnquartiere der Gasanlage, in denen die Geiseln gehalten wurden. Sie scheinen im Morgengrauen von Donnerstag versucht zu haben, diese Gebäudekomplexe anzugreifen. Jedenfalls fielen Schüsse. Die Geiselnehmer warnten darauf sowohl übers Internet via Mauretanien wie auch offenbar über einzelne der Geiseln, die sie zum Reden aufforderten und die mit einigen Presseagenturen und Fernsehstationen telefonieren konnten, sie würden die Geiseln ermorden, falls es zu einem Angriff käme.
Die Forderungen der Geiselnehmer, soweit sie bekannt wurden, betreffen die Freilassung von 100 islamistischen Gefangenen aus den algerischen Gefängnissen sowie "ein Ende des Kreuzzugs der Franzosen in Mali", auch die Zurücknahme der algerischen Überflugerlaubnis für die französischen Kriegsflugzeuge, die nach Mali unterwegs sind. Diese und ähnliche dürften Maximalforderungen sein, mit denen Verhandlungen anfangen.
Ein doppelter Angriff
Über den Verlauf des Überfalls weiss man, oder kann man aus den vorliegenden Darstellungen vermuten, dass er mit einem Angriff von drei schwer bewaffneten Automobilen auf einen Bus begann, der Angestellte und Ingenieure der beiden Firmen, BP und die norwegische Statoil, zur Arbeit brachte, die zusammen mit der algerischen Sonatrach die Gasförderstation betreiben. Algerische Soldaten oder bewaffnete Wächter, die den Bus bewachten, sollen nach den algerischen Angaben diese Aggression "zurückgewiesen" haben. Dabei gab es offenbar drei Todesopfer, einen Engländer und einen algerischen Gendarmen oder Soldaten sowie sechs Verwundete.
Die "Zurückweisung" der Angreifer bedeutete offenbar nicht deren Gefangennahme oder Aussergefechtsetzung. Ihre Aktion ging weiter. Die Geiselnehmer griffen darauf Wohnquartiere und Aufenthaltsräume der Gasstation an, die sich mehrere Kilometer entfernt von den Erdgas-Depots und der Förderstelle befindet, und sie bemächtigten sich dieser Lokale. Dieser Angriff sei von zwei Seiten gleichzeitig erfolgt, erklärten die Algerier.
Dort scheinen die Geiselnehmer eine grosse Zahl von Algeriern, anscheinend gegen 130, nach anderen Aussagen sogar über 300 und gegen 40 ausländische, darunter europäische und amerikanische Fachleute, überrascht zu haben. Die Algerier liessen sie wieder frei, doch die Europäer und Amerikaner und anderen Ausländer hielten sie fest.
Ein Ersatzplan?
Möglicherweise war der Angriff auf die Wohnquartiere ein Zweitplan, der zur Ausführung kam, weil der erste, sich des Autobusses mit den ausländischen Fachkräften zu bemächtigen, fehlgeschlagen war. Man kann dies vermuten, weil es natürlich viel weniger riskant und aussichtsreicher für die Geiselnehmer gewesen wäre, mit dem Autobus und seinen Insassen in die Wüste zu fahren und dort zu verschwinden, als sich in die der offenbar durch Truppen bewachten Wohnquartiere zu wagen und sich dort zusammen mit ihren Geiseln umzingeln zu lassen. Doch die Geiselnehmer waren offenbar entschlossen genug, um auch diesen, für sie gefährlicheren, Zweitplan zu riskieren.
Der Anschluss an al-Qaida
Geiselnahmen und Bombenanschläge sind die weitaus häufigsten Operationen der Kampfgruppen von Sahara-Bewohnern und maghrebinischen Islamisten, die sich heute "al-Qaida im arabischen Maghreb (AQIM)" nennen. Zuvor sind sie unter anderen Namen aufgetreten, doch sie haben sich 2007 auf diesen neuen geeinigt, um wie sie selbst mitteilten, ihre neue Afliliation bei al-Qaida zu markieren. Ob diese Zugehörigkeit auch Geldmittel mit sich gebracht hat und wie bedeutend diese sein könnten, ist ungewiss. Doch kann als deutlich erkennbar gilt, dass der Anschluss an al-Qaida die maghebinischen und Sahara-Jihadi-Gruppen zu einem Richtungswechsel angeregt hat. Ursprünglich galten ihre Aktivitäten mehr den Maghreb-Staaten ihrer Heimat, Algerien in erster Linie. Die neue Affiliation hat sie zu Aktionen von internationalem Gewicht angeregt, die sich gegen den industrialisierten "Westen" (Japan und Südkorea sind auch dabei, China wohl eher nicht?) und seine Interessen richten.
Ursprung im algerischen Bürgerkrieg
Solche Aktionen, im Falle, dass sie aus Geiselnahmen bestehen, haben sich auch als die am meisten gewinnbringenden für die Täter erwiesen. Die Wurzeln dieser Gruppen liegen im Bürgerkrieg in Algerien, der von 1992 an tobte, heute in Algerien als überwunden gilt, jedoch im Rückzugsgebiet der Sahara nie restlos beigelegt war und mehrmals wiederauflebte. Der Einfluss der Islamisten hat sich über die Berberstämme auf die Sahara ausgedehnt und dort neue Nahrung gefunden, weil alle Randstaaten der grossen Wüste, in besonderem Masse jene des Südens, die keine Erdölförderung besitzen, unter der sich ausbreitenden Dürre leiden, die ihrerseits ohne Zweifel mit dem durch die Industriewelt hervorgerufenen Klimawechsel verbunden ist.
Neue Waffen aus Libyen
Die Waffenströme aus Libyen, ursprünglich von der Industriewelt an Ghaddafi verkauft, trugen dazu bei, dass die Verzweiflungsstimmung der Sahara-Anrainer und -Bewohner, die seit Jahren bekannt ist, umschlug in bewaffnete Aktionen. Dabei gab es zwei Ideologien, die fast überall in der arabischen Welt genutzt werden können, um Waffenträger zu mobilisieren, einerseits den Nationalismus, in diesem Falle des Berbervolkes der Touareg, andererseit den Islamismus, das heisst eine zur Ideologie verzerrte Version des Islams.
Wie vielerorts in der islamischen Welt zeigt sich gegenwärtig die islamistische Ideologie der nationalistischen überlegen. Die Touareg haben seit 1960, dem Jahr des Endes des Kolonialismus in weiten Teilen von Afrika, versucht, ihre Wüstengebiete in Mali und in den angrenzenden Teilen der Sahara, die den willkürlichen Grenzziehungen nach zu Nachbarstaaten gehören, zu einem eigenen Touareg-Staat oder Staatengebilde zu entwickeln und sind dabei regelmässig in Konflikte mit den Zentralbehörden der verschiedenen Anrainerstaaten der Sahara geraten, unter die ihre Wüstengebiete geteilt worden waren, in erster Linie Mali und Niger.
Vorübergehende Zuflucht in Libyen
Es waren unterlegene Stammesgruppen der zu Mali gehörigen Touareg, die 2009 einen ihrer Aufstandsversuche gegenüber Bamako verloren und sich aus diesem Grunde, um Unterschlupf und Auskommen zu finden, Ghaddafi als Söldner zur Verfügung stellten. Nach dessen Sturz sind sie mit dessen Waffen und Automobilen in ihre Heimat zurückgekehrt und haben erneut versucht, ihren Traum von einem autonomen oder unabhängigen Touareg-Staat im Nordteil von Mali zu verwirklichen. Sie haben sich dabei in zwei Hauptgruppen gespalten, und sie sind in ein Aktionsbündnis mit den Qaida-Leuten eingetreten.
Warum sie dies taten, ist nicht genau bekannt. Man kann vermuten, dass es um Geld ging, das der Qaida immer noch zur Verfügung steht, während es den Berbernationalisten fehlte. Gewiss haben die Berbernationalisten auch die Schlagkraft der Islamisten unterschätzt. Jedenfalls erwies es sich, dass diese in der Lage waren, ihre Verbündeten auszustechen. Gegenwärtig gibt es Fühler gewisser Touareg-Gruppen, die sich bereit erklären, nun wieder mit Bamako und mit den Franzosen gegen die Islamisten zusammenzuarbeiten.
Spaltungen in der staatlichen Armee
Die Touaregnationalisten und die Islamisten hatten offensichtlich sowohl bittere Feinde wie auch Sympathisanten innerhalb der staatlichen Armee Malis. Offiziere, unter ihnen auch Elitetruppen, die von den Amerikanern ausgebildet und bewaffnet worden waren, um im "Anti-Terrorkrieg" Bushs zu dienen, versuchten im vergangenen März einen Staatsstreich in Bamako, der teils gelang, aber teils misslang, und jedenfalls das ohnehin fragile staatliche Gefüge von Mali tief erschütterte.
Dies führte dazu, dass die Berber und ihre damaligen islamistischen Verbündeten im Norden ihre Unabhängigkeit von Bamako erklärten. Doch im Juni überkamen die islamistischen Kämpfer ihre nationalistischen Kollegen zumindest in den grösseren Wüstenstädten des Nordens, Timbuktu und Gao.
Zwei Hälften Malis
Gesamtresultat all dieser Entwicklungen war, dass islamistische Kampfgruppen sich des gesamten Nordens von Mali und der dortigen Wüstenstädte Timboktu und Gao bemächtigten. Sie drohten nach dem südlichen, dichter besiedelten Teil Malis vorzudringen, und ihre ersten Erfolge in dieser Richtung waren es, die das Eingreifen der Franzosen auslösten.
Das Geiseldrama in Algerien als Alarmsignal
Die Geiselnahme in der viele hundert Kilometer entfernten Gasförderstation an der libysch-algerischen Grenze ist wahrscheinlich geplant worden, bevor die französische Aktion in Mali stattfand. Mindestens als Eventualplan muss sie über längere Zeit hin ausgekundschaftet und vorbereitet worden sein. Was nicht ausschliesst, dass sie dann ausgelöst wurde, weil die "Kreuzfahrerunternehmung" der Franzosen eine Reaktion forderte. Sie hat jedenfalls dazu beigetragen, den Alarm von Mali, der zuerst in Paris vernommen wurde, auszudehnen bis nach Oslo, London, Washington, Tokio und in die gesamte industrialisierte Welt.
Nach noch unvollständigen Berichten hat die algerische Armee am Donnerstag die Geiselnehmer angegriffen. Diese erklärten in Meldungen, die sie nach Mauretanien durchgaben, 14 der Ihrigen und 34 der Geiseln seien durch die Angriffe umgekommen. Sieben Geiseln würden sie weiter festhalten. Die Algerier bestätigen dies nicht. Doch sie geben ihrerseits noch keine detaillierten Nachrichten. Gleich wie die Sache endgültig ausgeht und ob sich die Schreckensnachrichten bestätigen oder nicht, werden die Geschehnissse von In Asemas entscheidend dazu beitragen, dass der Mali-Krieg mehr wird als eine Aktion der Franzosen und der bereits beteiligten ECOWAS-Staaten.
Noch ein Afghanistan ?
Afghanistan war - ist noch immer, aber offenbar nicht mehr für lange - eine vergleichbare Aktion betroffener Staaten der industriellen Welt. Man kann sich fragen, ob die Sahara ein leichter zu befriedendes Aktionsfeld für den nun beginnenden dortigen Krieg abgeben wird als der Hindukush.
Vielleicht darf man hoffen, dass nicht die gleichen schwerwiegenden Fehler in der Sahara gemacht werden wie in Afghanistan. Diese Hoffnungen beruhen auf dem Umstand, dass jedenfalls weniger Geld zur Verfügung steht als die gegen 400 Milliarden Dollar, die kontraproduktiv in Afghanistan dazu verwendet wurden, die Korruption der dortigen Regierung ins nahezu Unermessliche hochzutreiben und damit den islamistischen Kämpfern und Tätern der Gegenseite in die Hände zu spielen.