Bis Ende 2014 wollen die USA ihre derzeit 66.000 Soldaten aus Afghanistan heimholen. Deutschland, Frankreich, Grossbritannien und die anderen Nato-Staaten, die die „Internationalen Streitkräfte für Sicherheitsbeistand“ (Isaf) stellen, werden folgen. Die derzeit 352.000 Mann starke afghanische Regierungsarmee soll dann den Krieg gegen die Rebellen allein führen. Nur eine Anzahl von Instruktoren und Anti-Terror-Spezialisten aus Nato-Staaten sollen im Land bleiben. Vorgesehen sind 8000 bis 12.000 Mann, darunter zwischen 600 und 800 Deutsche. Die deutsche Bundeswehr wird auch Waffen im Neuwert von 150 Millionen Euro hinterlassen, deren Rücktransport sich nicht lohne. Die Elektronik soll ausgebaut werden, damit sie nicht in falsche Hände fällt.
Dieser Plan geht aber nur auf, wenn die USA mit ihrer unbotmässigen Marionette, dem afghanischen Präsidenten Hamid Karzai, klarkommen. Die Verhandlungen über ein bilaterales Sicherheitsabkommen sind aber seit Juni festgefahren. Karzai beschuldigt die Amerikaner, ein doppeltes Spiel zu treiben. Als Beweis dient ihm die Eröffnung eines Büros der Taliban mit dem Segen der USA in Katar. Die Taliban hissten auf dem Gebäude die Flagge des „Islamischen Emirats Afghanistan“, wie sie das Land am Hindukusch während ihrer Herrschaft nannten. Das derzeitige Regime in Kabul sieht in diesem Vorgang den ersten Schritt zur Gründung einer Exilregierung.
Kontakte mit den Taliban
Die USA machen gar kein Geheimnis daraus, dass sie einen Kompromiss mit „moderaten“ Taliban anstreben. „Wir versuchen, 20 Jahre Geschichte aufzuarbeiten und die Taliban mit dem afghanischen Volk zu versöhnen“, erklärte der Oberbefehlshaber der Isaf, General Joseph Dunford, vergangene Woche in Kabul.
Um nicht von den Amerikanern ausmanövriert zu werden, hat auch Präsident Karzai Kontakte mit Taliban-Vertretern aufgenommen. Man sei dabei nicht über unverbindliche Vorgespräche hinausgekommen, heisst es aus Regierungskreisen. In der afghanischen Bevölkerung wächst aber die Angst vor der Zukunft. Wird gerade der Friedensnobelpreisträger Barack Obama die Rückkehr ihrer früheren Peiniger zulassen?
Blutige Geschichte
Diese Entwicklungen sind nur im Rückblick auf die blutige Geschichte des Landes zu verstehen. Afghanistan war stets ein umkämpfter Vielvölkerstaat. Schon die Briten holten sich dort blutige Nasen. Die seit dem 18. Jahrhundert regierenden Könige hatten nur beschränkte Macht. 1973 wurde der letzte König verjagt und die Republik ausgerufen. Die Folge war eine Reihe blutiger Staatsstreiche, aus denen ein prosowjetisches Regime hervorging. Heterogene islamischen Kampfgruppen, die sich „Mudschahedin“ nannten, griffen gegen die „Kommunisten“ zu den Waffen. 1979 beschloss der bereits sterbenskranke sowjetische Staats- und Parteichef Leonid Breschnew, in Afghanistan militärisch zu intervenieren, gemäss seiner Doktrin von der „brüderlichen Hilfe“ für in Bedrängnis geratene Teile der „sozialistischen Staatengemeinschaft“.
Zehn Jahre später, unter Gorbatschow, zogen die Sowjettruppen nach schweren Verlusten wieder ab. Ein 1988 unter der Ägide der UNO in Genf ausgehandeltes Friedensabkommen erlaubte es der Sowjetunion, ihre Soldaten in geordneter Weise über den Grenzfluss Amu-Darja zu repatriieren. Vermittler des Friedensabkommens war der ecuadorianische Diplomat und spätere Aussenminister Diego Cordovez. Auf die Frage an einer Pressekonferenz, ob das Blutvergiessen jetzt zu Ende sei, antwortete Cordovez: „Der Krieg ist die Lebensart der Afghanen.“
Zerstrittene Sieger
Der Diplomat in UNO-Diensten sollte mit seinem überspitzten Spruch recht behalten. Der Abzug der Sowjets brachte keinen Frieden; die Mudschahedin belagerten Kabul und die anderen afghanischen Städte. Unter den ausländischen Journalisten, die im Frühjahr 1989 vor Ort den Lauf der Dinge verfolgten, befand sich auch der Schreiber dieser Zeilen. Die Aufständischen beschossen Kabul und besonders den Flughafen von den umliegenden Hügeln aus, die Verteidiger feuerten mit Scud-Raketen zurück.
Die Regierungstruppen hielten dem Ansturm der von den USA bewaffneten Mudschahedin drei Jahre lang stand und gewannen die wichtige Schlacht um Jalalabad, einem Ferienort wohlhabender Hauptstädter, der die Strasse von Pakistan über den Khyberpass nach Kabul verriegelt. Erst im April 1992, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, trat der von den Russen in Stich gelassene Präsident Mohammed Najibullah zurück. Zwei Wochen später marschierten die Mudschahedin in Kabul ein.
Die Sieger waren aber bald heillos zerstritten. Die alten ethnischen, ideologischen und persönlichen Feindschaften brachen wieder aus. Das Land wurde unregierbar – sehr zum Leidwesen amerikanischer Ölkonzerne, die den Bau einer Erdgas-Pipeline von Turkmenistan durch Afghanistan bis an die Küste Pakistans planten.
Eine Million für eine Stinger-Rakete
Der kürzere Weg durch Iran zum Persischen Golf wurde von den Ölkonzernen aus verständlichen politischen Gründen verworfen. Voraussetzung für den Bau einer Pipeline durch Afghanistan war aber die Befriedung des Landes. Für diese Aufgabe schien eine neue politische Kraft geeignet, die sich unter den drei Millionen afghanischen Flüchtlingen in Pakistan entwickelte: die Taliban (Religionsstudenten). Die CIA, der pakistanische Militärgeheimdienst ISI und Saudi-Arabien waren 1994 die Schöpfer und Geldgeber dieser Vereinigung fundamentalistischer Gotteskrieger.
Zwei Jahre später waren 90 Prozent von Afghanistan in der Hand der Taliban, die von der ländlichen Bevölkerung anfangs als Friedensstifter begrüsst wurden. Doch die Rechnung ihrer Hintermänner ging nicht auf. Die Taliban wandten sich gegen die USA und gewährten dem Al-Kaida-Führer Osama bin Laden Unterschlupf. Zwei Monate nach dem Anschlag vom 11. September 2001 in New York, der Al-Kaida zugeschrieben wird, starteten die USA mit anderen Nato-Staaten eine gross angelegte Militäroperation in Afghanistan und vertrieben die Taliban. Zuvor versuchten sie die einst den Mudschahedin gelieferten tragbaren Flugzeugabwehrraketen Stinger zum angebotenen Stückpreis von einer Million Dollar aufzukaufen. Ob die Aktion Erfolg zeitigte, wurde nicht bekannt.
Immer mehr Tote
Jetzt zieht die Nato-Streitmacht unter ähnlichen Umständen wie 1989 die Sowjetarmee aus Afghanistan ab. Die Taliban verstärken ihre punktuellen Angriffe. Offensichtlich geht es ihnen um Geländegewinn. Die Beistandsmission der UNO für Afghanistan (Unama) hat dieser Tage einen Bericht vorgelegt, wonach 2013 im Vergleich zum Vorjahr die Zahl der Kriegstoten um 14 Prozent und jene der Verwundeten um 28 Prozent gestiegen ist. Zwischen Januar und Juni zählte die Unama 1319 getötete und 2533 verwundete Zivilisten. Die afghanischen Sicherheitskräfte haben dieses Jahr nach eigenen Angaben bereits 1087 Mann verloren.
Ein vergangene Woche veröffentlichter Bericht des Pentagons fordert die Regierung in Kabul auf, „die Korruption zu verringern und die Verwaltung der ländlichen Gebiete effektiver zu gestalten“. Die US-Militärs weisen auch darauf hin, dass es nach ihrem Abzug aus Afghanistan „schwierig, wenn nicht unmöglich“ sein wird, die Taliban auf dem Schlachtfeld zu besiegen, so lange diese von Pakistan aus operieren können. Pakistan hat aber ein grundsätzliches Problem mit Afghanistan. Keine afghanische Regierung hat die 1893 von den Briten gezogene Grenze zwischen den beiden Ländern (Durand-Linie) anerkannt, die quer durch das Gebiet der Paschtunen verläuft. Von einem dauerhaften Frieden ist man also noch weit entfernt.