Seit dem 27. März beherrscht die türkische Armee gemeinsam mit den von der Türkei eingesetzten FSA Milizen (Freie Syrische Armee) die rund 2000 Quadratkilometer der Region Afrin und ihrer gleichnamigen Hauptstadt.
Ende der Plünderungen
Nach der türkischen Darstellung hat der Feldzug gegen Afrin, der am 20. Januar begonnen hatte, 51 türkischen Soldaten das Leben gekostet. Die Verluste der kurdischen YPG sollen nach der türkischen Darstellung 3’790 Mann sein, Gefangene, Tote und Verwundete zusammengenommen. Diese zweite Zahl scheint sehr hoch gegriffen. Doch andere Zahlen gibt es nicht, weil die YPG ihre eigenen Verluste nicht bekannt geben. Auch die Verluste der FSA, die als Verbündete der Türken kämpfen, blieben unerwähnt. Die YPG sagen, sie würden als Guerilla in Afrin weiterkämpfen.
Die Stadt Afrin konnte mit bedeutend weniger Zerstörungen eingenommen werden als andere Städte im syrischen und im irakischen Bürgerkrieg. Es gab anfänglich Plünderungen durch FSA-Einheiten. Doch Ankara soll diesen rasch ein Ende bereitet haben. Die Türkei hat bis zu 72 Kampfflugzeuge eingesetzt. Russland, das die Lufthoheit über Nordsyrien innehat, liess das zu. Die Russen hatten auch eigene Truppen im Rahmen der „De-Eskalationspläne“ im Norden von Afrin in Bereitschaft. Sie zogen sie jedoch ab, bevor die türkische Invasion begann.
Das Gleiche wiederholte sich in der Stadt Tell Rifaat Ende März. Dieser Ort liegt westlich von Afrin in der Nachbarprovinz Aleppo. Er ist von strategischem Gewicht, weil die wichtigste Strasse, die Aleppo mit der Türkei verbindet, diese Ortschaft durchquert. Auch in Tell Rifaat standen russische Soldaten. Die kurdischen YPG hielten die überwiegend arabische Stadt. Als die pro-türkischen Milizen sich Tell Rifaat näherten, zogen die Russen ihre Soldaten ab. Auch die YPG räumte die Stadt. Für die Kurden war sie als Glied der Ost-West-Verbindung zwischen Afrin und den östlich davon gelegenen kurdisch beherrschten Gebieten von Gewicht. Doch nach dem Verlust von Afrin wurde Tell Rifaat für sie unbedeutend. Die Türken und ihre Verbündeten konnten so die Stadt kampflos besetzen.
Wer beerbt den IS?
Ein gewisses Zusammenspiel zwischen Türken und Russen in Nordsyrien ist unverkennbar. Es dürfte darauf beruhen, dass es im Interesse der Russen liegt, die Zusammenarbeit zwischen den Kurden der YPG und den Amerikanern zu untergraben. Diese Zusammenarbeit ist eine grundlegende Voraussetzung für die amerikanische Präsenz in den weiten Gebieten östlich des Euphrats, der syrischen sogenannten „Jazira“ („Insel“ zwischen Euphrat und Tigris), welche die von den YPG-Kämpfern gesteuerten Milizen der kurdisch-arabisch gemischten DSF (Syrische Demokratische Kräfte) mit Hilfe der amerikanischen Luftwaffe und amerikanischer Hilfstruppen und Berater dem IS entrissen haben.
Russland, Iran und Damaskus sind der Ansicht, dass die amerikanische Präsenz in jenen Teilen Syriens „illegal“ sei. Bisher war die amerikanische Politik darauf ausgegangen, gemeinsam mit den SDF-Kräften die Gebiete östlich des Euphrats zu halten. Mit der doppelten Rechtfertigung, die letzten Überreste des IS müssten niedergekämpft und eine Ausdehnung der iranischen Präsenz in Ost-Syrien müsse verhindert werden.
Bleibt Washington in Syrien?
Doch Präsident Trump hat wider Erwarten in einer Rede in Ohio am 29. März erklärt, die Amerikaner würden sich „wahrscheinlich“ schon bald aus Syrien zurückziehen. Andere sollten sich künftig um Syrien kümmern. Die „72’000 Milliarden Dollar“, die Amerika für seine Nahostkriege ausgegeben habe, seien vergeblich gewesen.
Seither ist nicht mehr so klar, welche Linie Washington in Ostsyrien verfolgen wird. Die Kurden sind natürlich bereits durch den Verlust von Afrin, wo sie keine amerikanische Hilfe genossen, verunsichert. Gegenwärtig versuchen sie sich selbst einzureden, dass die Amerikaner sie in Ostssyrien wahrscheinlich nicht im Stich lassen werden.
Testfall Membij
Was in Membij geschehen wird, dürfte einen Hinweis auf die weitere Entwicklung in Nord- und Ostsyrien geben. Die Stadt Membij liegt westlich des Euphrats. Seit Monaten spricht Präsident Erdogan davon, dass sie das nächste Ziel der türkischen Offensive sein werde. In Membij stehen irreguläre amerikanische Hilfstruppen, die mit den SDF zusammenarbeiten. Ankara sagt, die Amerikaner hätten der Türkei zugesagt, dass die YPG Membij räumen würden. Die Stadt steht unter der Aufsicht eines lokalen Stadtrates, der über eigene Sicherheitskräfte verfügt. Doch diese sind in türkischen Augen nichts anderes als YPG-Milizen, die sich dem Stadtrat zur Verfügung stellten. Hinter ihnen stehen die Amerikaner.
Ankara versucht gegenwärtig, seinen „amerikanischen Verbündeten“ klar zu machen, dass sie von ihnen erwartet, sich in Membij wie die Russen in Afrin und in Tell Rifaat zu verhalten, nämlich entweder abzuziehen oder die pro-türkischen Milizen dabei zu unterstützen, Membij einzunehmen: „Wie sie dies versprochen haben“.
Gewaltandrohung
Membij und seine Umgebung ist das letzte grössere Gebiet westlich des Euphrats, das sich nicht in den Händen der türkischen Angreifer oder der Armee von Damaskus befindet. Die Stadt war bereits im vergangenen Sommer Ziel der ersten türkische Offensive in Nordsyrien gewesen, die sich „Operation Euphrat Schild“ genannt hatte. Doch die amerikanischen Soldaten hatten damals dafür gesorgt, dass Membij nicht von den pro-türkischen Kräften besetzt werden konnte. Die Amerikaner führten Patrouillen durch, um den Türken und ihren Hilfskräften den Zugang nach Membij abzuschneiden.
Ankara macht klar, dass es diesmal Membij besetzen will. Wenn dies nicht kampflos erreicht werden könne, werde Ankara kämpfen. Präsident Erdogan spricht bereits öffentlich von weitergesteckten Zielen. Die ganze Nordgrenze Syriens bis zur irakischen Grenze, so sagt er, müsse von den YPG gesäubert werden. Diese werden in der Türkei als Filiale der PKK eingestuft und daher als für die Türkei gefährliche Terroristen.
Vielvölkerstreit
Gegenwärtig gibt es fünf Kräfte, die in Ostsyrien ringen: die Türkei, die Amerikaner, gestützt auf die Kurden, die Russen und die Streitkräfte Asads, sowie die Iraner und pro-iranischen Milizen. Dazu kommen die Überreste des IS und neuerdings möglicherweise irakische Kräfte, weil Ministerpräsident Haidar Abadi in Bagdad erklärt hat, irakische Truppen stünden bereit, die syrische Grenze zu überschreiten, um gegen die Reste des IS vorzugehen.
Die „Astana“-Kräfte: Russland, die Türkei, Iran und syrische Beobachter, sollen diesen Monat zusammentreten, um über das weitere Vorgehen in Syrien zu beraten.Die Amerikaner müssen sich ihrerseits entschliessen, ob sie in Syrien bleiben, wie dies der bisherige Plan unter dem entlassenen Aussenminister Tillerson war, oder ob sie „baldmöglichst“ aus Syrien abziehen wollen, wie es Präsident Trump wohl am liebsten hätte.