Als das Parlament in der Herbstsession zur Verabschiedung schritt, durfte der Demissionär manche Sympathie- und Anerkennungsgesten entgegennehmen. Die Haupteloge kam aus dem Munde der jungen sozialdemokratischen Ratsvorsitzenden.
Sie holte zu einer fast überschäumenden Lobeshymne aus, die den Eindruck erweckte, ein Unikat, ein Wunderkind, ein Genie ziehe sich zurück, ein Heilsbringer, der dem Land das Heil in Gestalt eines verkleinerten Schuldenberges gebracht hat.
Wo in Europa, fragte sie, gibt es sonst noch einen Finanzminister, dem eine solche Tat in solch schweren Zeiten gelingt? Der Lorbeerkranz sei dem Demissionär gegönnt – doch zu sagen wäre da noch, dass Merz sein Amt in einem Moment (2004) antrat, als die Konjunktur anzog, die Umsätze stiegen, die Produktivität ebenso, und dank der Arbeitsleistung des arbeitenden Volkes Steuereinnahmen in die Kassen flossen, die deutlich über dem Budget des Budgetministers lagen.
Mit fliegenden Fahnen war der im Dezember 2003 zusammen mit Christoph Blocher in den Bundesrat gewählte Merz gestartet. Nur, das Fliegen der Fahnen schlug ziemlich rasch in eine Flaute um. Wenige Monate später schickte das Volk ein Milliarden schweres Steuerpaket (das Merz noch als Ständerat mitgestaltet hatte) haushoch bachab: Ein Paket, das den kleinen Leuten ein paar Brosamen, den Gutbetuchten, Hausbesitzern und Grossunternehmen aber massive Erleichterungen gebracht und zur Folge gehabt hätte, dass Sparpakete die Ausfälle hätten kompensieren müssen. Das Volk hatte eine Politik desavouiert, für deren Umsetzung der Appenzeller in die Exekutive gewählt worden war.
Ein unkonventioneller Mann
Ein Unikat war Merz vielleicht schon. Im Gegensatz zu den Früheinsteigern hatten bei ihm, der spät in die Politik kam, die Kompromiss-Rituale Ideen und Denkansätze noch nicht ausgewaschen und angepasst. Ausserdem fabulierte er gerne (nicht nur in der Freizeit mit seinen Romanversuchen). Der schlanke Staat – das war der bevorzugte Gegenstand seines Fabulierens. Mal dachte er über die Privatisierung der AHV nach, mal über eine 30prozentige Einsparung der Bundesausgaben. Den Finanzminister umgab jedenfalls eine Aura des Unkonventionellen, und weil er seine Ideen meist charmant und launig und burschikos darreichte (doch kaum vertiefte), erschlossen sich ihm manche Herzen.
Aber dann kam die Finanzkrise und mit ihr das Fiasko. Merz sah nichts voraus. Man sagt: Gouverner, c’est prévoir. In diesem Fall galt eher: Gouverner, c’est fermer les yeux.
Als das Ausmass der Krise unübersehbar war, setzte der Finanzminister auf Durchhalteparolen wie „das Bankgeheimnis ist nicht verhandelbar!“ oder „an uns werden sie sich die Zähne ausbeissen!“
Was folgte, war ein einmaliges Schauspiel. Der souveräne Staat Schweiz sah sich zu einer ganzen Reihe von Konzessionen gezwungen, seine liberale Elite musste in Windeseile eine Rettungsaktion für die stolze – zu stolze – UBS starten: eine staatliche Intervention, die allen gepredigten, besungenen, heruntergebeteten Bekenntnissen zu Markt und Liberalismus diametral zuwiderlief.
Ausgerechnet auf dem Feld der Finanzindustrie, ihrer Domäne, die sie seit Jahrzehnten wie eine Erbpacht hegte und pflegte, versagte die Partei des Liberalismus. Sie hatte die Zeichen am Horizont nicht wahrgenommen, hatte nicht gesehen oder nicht sehen wollen, dass die Zeit der unanständigen Hehlerdienste beim Verstecken des grossen Geldes um ist.
Und als ob der Unbill nicht genug gewesen wäre, traf den freisinnigen Finanzminister im Herbst 2008, auf dem Höhepunkt der Krise, ein höchst persönlicher Schlag: Herzinfarkt, Koma. Auch in jener schwierigen Lage zeigte sich die unkonventionelle Seite des Appenzellers. Es wäre der Moment gewesen, mit wirklich gutem Grund der Politik den Rücken zu kehren. Das tat Merz nicht. Er kam wieder und warf sich mit neuem Schwung in den Kampf.
Das Publikum nahm Anteil, bezeugte Mitgefühl und Respekt. Doch als der Politiker, für alle unfassbar, in die Rolle des tapferen Schneiderleins schlüpfte und sich anschickte, in Libyen den bösen Riesen zu bezwingen, wich der Respekt einem allgemeinen Kopfschütteln.
Der eine Merz und der andere Merz
Viele stellten sich damals die Frage: Wer ist er nun eigentlich, dieser Herr Merz? Wir sehen auf der einen Seite: den Mann mit Mutterwitz, in stetiger Begleitung des Faust in seiner Tasche, nett, charmant, hin und wieder geistreich.
Auf der andern wird ein Mann sichtbar, der wie selten ein Bundesrat die Interessen ganz bestimmter Lobbys verfolgte. Noch als die Finanzkrise höchste Wellen warf, beschäftigte er sich mit steuerlichen Sonderregeln, um ausländische Hedge-Funds-Manager in die Schweiz zu locken. Alles in allem hinterlässt er den Eindruck, als habe er die Emanzipation von seinen einstigen Beratertätigkeiten (u.a. für Schmidheiny) und die Wandlung zur Magistratsperson nie ganz geschafft.
Was bleibt? Seine Appelle zum Sparen, gegen Schulden, für Steuerwettbewerb, eine Flat Tax, den schlanken Staat. Auch sein Libyen-Abenteuer oder der von Bündnerfleisch ausgelöste Lachanfall. Tiefere, über den Tag hinausreichende Reflexionen darüber, wie die Schweiz ihre Zukunft gestalten, die gemeinsame Wohlfahrt (Art. 2 der Bundesverfassung) fördern und die zunehmend stärker divergierenden Individual- und Gemeinschaftsinteressen austarieren soll, sind dagegen kaum zu verzeichnen.
Staatsmännische Ausmasse hat der Fussabdruck, den dieser Finanzminister hinterlässt, nicht.