Von den Lernprozessen ist kaum mehr die Rede. Diesen Eindruck erhält, wer den Diskurs um Schule und Unterricht verfolgt. Das Eigentliche verkommt zur Nebensache. Eine Rückbesinnung aufs Wesentliche.
Jeder junge Mensch hat nur eine Bildungsbiographie. Darum ist es so entscheidend, wer im Schulzimmer steht – und wie diese Person wirkt. Erfahren hat das auch Peter Bichsel, später selber Lehrer. Er erzählt: «Ich hatte in der 5. und 6. Klasse in Olten einen wunderbaren Primarlehrer: Er hat mich von mir selber überzeugt, mich zum Schriftsteller gemacht. Weil er unter dem ganzen Schlamassel von Rechtschreibefehlern entdeckt hat, dass ich gute Aufsätze schreibe. Ich habe ihn geliebt.»
Im Kern vollziehen sich die grundlegenden Bildungsprozesse
Die jungen Menschen zu sich selbst und sie aus sich heraus zu ihren Möglichkeiten führen, beispielsweise zum Schreiben, wie das Bichsels Lehrer getan hat. Darin liegt die zentrale Aufgabe der Schule. Wer hier hineinzoomt, entdeckt ein pädagogisches Dreieck. Es ist der Kern jeder Schule: der Dreiklang zwischen Lehrperson – Schulkindern – Unterrichtsinhalt. In diesem Dreieck vollziehen sich die individuellen und sozialen Lern- und Bildungsprozesse.
An diesen Resonanzraum erinnert der französische Literaturnobelpreisträger Albert Camus im Buch «Le Premier Homme». Mit der Figur «Der erste Mensch» meint er seinen Primarlehrer. Ihm verdankt er alles. Camus wächst im damaligen französischen Algerien auf. In ärmlichen Lebensverhältnissen. Die Schule führt ihn in eine andere Welt. Von seinem Lehrer sagt Camus: Er sei «aus dem einfachen Grund, dass er seinen Beruf leidenschaftlich liebte, ständig interessant» gewesen. In seiner Klasse fühlten die Kinder «zum ersten Mal, dass sie existierten und Gegenstand höchster Achtung waren: Man hielt sie für würdig, die Welt zu entdecken.»
Flucht in unzählige Strukturreformen
Camus skizziert das pädagogische Dreieck des schulischen Alltags. Hier ereignet sich das Α und O von Schule und Unterricht, die Grundbildung als Basis für alles weitere Lernen. Hier werden beispielsweise die Grundfertigkeiten Lesen, Schreiben, Rechnen aufgebaut. Dazu gehören das Verstehen und Konsolidieren, das Festigen und Üben von Wissen und Können, das Anwenden des Gelernten und das Zusammenspiel dieser Teilprozesse mit all den vielfältigen Verknüpfungen im aktivierten Gedächtnis. Es sind die Kernprozesse des Lernens.
Doch der Wesenskern der Schule ist gefährdet durch die bildungspolitische Flucht aus dem pädagogischen Dreieck in die Strukturreformen. Die Schule hat eine Kaskade von Top-down-Innovationen erlebt: zusätzliche Fächer mit den zwei Fremdsprachen Frühenglisch und Frühfranzösisch in der Primarschule, das ganze Qualitätsmanagement, altersdurchmischtes oder jahrgangsübergreifendes Lernen, der Lehrplan 21 mit den eng gerasterten Kompetenzen und ihren Kontrollen, die Integrative Schule mit dem Ziel der Inklusion und den vielen Absprachen zwischen den zuständigen Personen. Das alles braucht mehr Vorgaben und Vorschriften von oben, mehr Direktiven aus der Bildungsbürokratie.
Wenn private Lerninstitute wichtig werden
Manches ist dazugekommen – weggenommen wurde wenig. Die Folgen sind spürbar: Druck und Hektik steigen, Verweilen und Vertiefen nehmen ab. Viele Dinge können nur noch flüchtig gestreift werden. Inhalte lösen einander schnell ab. Sie prägen sich nicht tief ein, werden kaum Erfahrung und bleiben Bruchstück. Zu vieles muss in zu kurzer Zeit erarbeitet werden – und zwar von den Kindern selber. Eigenverantwortet und selbstgesteuert. Lernschwächere und mittelmässige Schüler sind benachteiligt. Das zeigt die Unterrichtsforschung. Darum erstaunt es nicht, dass selbst intelligente Kinder am Ende der Primarschule in den Grundfertigkeiten des Rechnens und Schreibens oft grosse Lücken aufweisen. Wenn sie diese Grundlagen beherrschen, stehen nicht selten engagierte Eltern oder private Nachhilfeinstitute dahinter.
Auf den Wesenskern rückbesinnen
Albert Camus führt uns zum Kern der Schule, zu den Mikroprozessen des Lernens. Seine Lebensgeschichte veranschaulicht, wie zentral sie für die Kinder sind. Am Tag der Nobelpreis-Übergabe schreibt er seinem Lehrer: «Ohne Sie, ohne Ihre liebevolle Hand, die Sie dem armen kleinen Kind, das ich war, gereicht haben, ohne Ihre Unterweisung und Ihr Beispiel wäre nichts von alldem geschehen.» Das tönt wie eine Rückbesinnung auf das pädagogische Dreieck.