Auf zwei Meeren spitzen sich geopolitische Konflikte zwischen den Grossmächten zu: dem Schwarzen und dem Südchinesischen. Während im Schwarzen Meer nach der Annexion der Krim durch Russland und dem kurzen russisch-georgischen Krieg von 2008 eine Patt-Situation entstanden ist, eskaliert der Territorialstreit im Fernen Osten
Chinas Anspruch
Durch das Südchinesische Meer verläuft eine der wichtigsten Handelsrouten der Welt. Frachtschiffe und Öltanker mit Ladungen im Wert von rund 5000 Milliarden Franken jährlich benutzen diese Wasserstrasse. Japan, Südkorea und China sind weitgehend von diesen Transporten abhängig. Sie führen Erdöl aus dem Persischen Golf in die eine Richtung und Industriewaren in die andere. Seit dem Zweiten Weltkrieg kontrollieren die USA und ihre Verbündeten im pazifischen Raum diese Seewege. In den letzten Jahrzehnten hat aber China seine „neue Seidenstrasse“ auf dem Wasser um den asiatischen Kontinent herum mächtig ausgebaut.
Peking weist den Vorwurf zurück, die freie Schifffahrt durch das Südchinesische Meer behindern zu wollen. Es gehe China nur darum, seine verbrieften Rechte auf Inselgruppen und exklusive Wirtschaftszonen einschliesslich der Ausbeutung des Fischreichtums und möglicher Bodenschätze zu verteidigen. Das von den Philippinen angerufene Ständige Internationale Schiedsgericht in Den Haag urteilte jedoch am 12. Juli, dass China keine historisch begründeten Ansprüche auf das umstrittene Gebiet geltend machen könne.
Was ist eine Insel?
Das einzige von Peking vorgelegte Dokument ist eine 1947 unter dem Regime Tschiang Kai-Sheks skizzierte Karte, auf der mit neun Strichen fast 90 Prozent des Südchinesischen Meeres zum Hoheitsgebiet des Reichs der Mitte erklärt werden. Die Striche der Siegermacht des Zweiten Weltkriegs verlaufen vor den Küsten Vietnams, der Philippinen, Malaysias und Bruneis. Diese Staaten waren damals noch westliche Kolonien oder Protektorate. Nach ihrer Unabhängigkeit akzeptierte keiner von ihnen die von China vorgenommene einseitige Grenzziehung.
Das Ständige Schiedsgericht stellte eine weitere Sache klar: Nicht jeder Felsen im Meer ist nach dem Völkerrecht eine Insel, um die herum der Hoheitsstaat eine exklusive Wirtschaftszone von 200 Seemeilen Ausdehnung beanspruchen kann. Gemäss der Seerechtskonvention, die 1982 nach jahrzehntelangen Verhandlungen im Rahmen der Vereinten Nationen unterzeichnet wurde, müssen Inseln oder Archipele bewohnbar sein, also Trinkwasserquellen aufweisen und Landwirtschaft ermöglichen. Künstlich aufgeschütteter Boden auf Korallenriffe, wie es die Chinesen jetzt praktizieren, gilt nicht.
Der Spruch des Schiedsgerichts hat nicht nur die Regierung in Peking auf die Palme gebracht, sondern auch jene Taiwans. Beide betrachten sich als Rechtsnachfolger des chinesischen Reichs. Taiwan kontrolliert die Insel Taiping im Spratly-Archipel, der die Richter in Den Haag keinen Status zuerkennen, weil die dortigen Quellen nicht das ganze Jahr über fliessen. Taiwans Ex-Präsident Ma Ying-Jeou trank auf einer Pressekonferenz einen Schluck Wasser, das angeblich von der Insel Taiping stammte. „Dieses Wasser ist ebenso gut wie das aus Evian importierten Flaschen“, behauptete Ma und bezeichnete die Haager Juristen als Ignoranten.
Das Schiedsgericht
Was ist ein Urteil des Ständigen Internationalen Schiedsgerichts wert? Viel ist darüber in den letzten Wochen publiziert worden, doch die meisten Journalisten offenbarten nur ihre Unkenntnis. Sie schrieben faktenfrei von einem „Uno-Gerichtshof“, einem „Seerechtstribunal“ und ähnlichem. In Wirklichkeit ist das Ständige Schiedsgericht in Den Haag eine Institution aus dem 19. Jahrhundert, sozusagen die Mutter der internationalen Gerichtsbarkeit.
Es war der russische Zar Nikolaus II., der die Haager Friedenskonferenz von 1899 zustande brachte. Eines der Ergebnisse dieser Konferenz war die Schaffung eines ständigen Schiedsgerichts. Unter den ersten Unterzeichnerstaaten waren die USA, Russland, Grossbritannien, das Kaiserreich China, Österreich-Ungarn und die Schweiz. Derzeit zählt die Organisation 121 Mitglieder, die mit jeweils einem Richter und einem Ersatzmann vertreten sind.
Keine Lösung in Sicht
Es handelt sich aber nicht um ein eigentliches Gericht, sondern um eine Einrichtung, die laut ihrem Statut „Dienste zur Lösung von Konflikten zwischen Mitgliedstaaten“ anbieten soll. Ihre Urteile sind nicht bindend. Für die Behandlung von Streitigkeiten über die Auslegung der Uno-Seerechtskonvention gibt es ein anderes Gericht, das seinen Sitz in Hamburg hat.
Der Streit um den Besitz des Südchinesischen Meers wird also weiter gehen. Trotz ihrer Drohgebärden sind alle Parteien bemüht, keinen Krieg zu entfesseln. China wird im September gemeinsam mit Russland Flottenmanöver in der umstrittenen Zone abhalten. Gleichzeitig nimmt China an den von den USA veranstalteten Militärübungen im Pazifik (Rimpac) teil. Die Chinesen wollen mit den anderen Anrainerstaaten des Südchinesischen Meers getrennt verhandeln, um sie gegeneinander auszuspielen. Eine Lösung des unnötigen Konflikts kann aber nur in einem kollektiven Ausgleich der Interessen liegen.