In der Coronakrise verschafft sich ein neualter Jargon der Natürlichkeit Gehör. Ein amerikanisches Magazin für Wellness – mit dem alles sagenden Namen «Purist» – publizierte im April 2020 eine Liste «natürlicher» Mittel im Kampf gegen das Coronavirus. Sie reicht von Resonanzatmung und Meditation über rohe Knoblauchzehen, Zink, Alkazyl, Vitamin D bis zu einem Bad in Bleichmittel, zum Heimtrainer («zur Anreicherung des Sauerstoffs im Blut») und zum portablen elektromagnetischen Pulsgeber.
Nun soll hier nicht die Wirkkraft dieser Mittel zur Debatte stehen, sondern die Frage: Wie kann man die Kategorie «natürlich» auf eine solche Palette disparater Mittel anwenden? Gibt es verbindende Merkmale? Was bedeutet überhaupt «natürlich»? Ein dorniges Problem. Ein kursorischer Blick in die Geschichte mag eine Antwortrichtung andeuten. Traditionell vermischten sich in den Heilmethoden natürliche und übernatürliche Faktoren. So ist etwa der Goldlauch – «Moly» – in der antiken Heilkunde ein natürliches Mittel, das seine Wirkkraft aber göttlicher Beihilfe verdankt. Im Wort «Pharmakon» schwingt immer auch die Bedeutung «Zauber» mit. Als die alten griechischen Ärzte die Heilkunde zu naturalisieren begannen, wandten sie sich gegen das Übernatürliche. Die Hippokratischen Schriften berufen sich zwar immer wieder auf «natürliche» Ursachen, als «natürliche» Interventionen gelten freilich auch künstliche, sprich chirurgische Eingriffe oder die Einnahme von hergestellten Chemikalien. Man kann natürliche Prozesse mit künstlichen Mitteln nachahmen und beschleunigen, sagte später Paracelsus.
Der Körper ist ein natürlich-künstliches Hybrid
Zweifellos verfügt der Körper über heilende und regenerative Kräfte. Der kritische Punkt liegt in der Interpretation dieser Kräfte. Für die alten Griechen, welche die Natur als Bühne von Göttern und Dämonen betrachteten, war es «natürlich», in den Heilkräften das Wirken übernatürlicher Akteure zu sehen. Wir nennen das heute mythologisches Denken. Unsere wissenschaftliche Sicht auf die Natur ist entmythologisiert: «entzaubert». Für die moderne Medizin tritt an die Stelle der Götter – oder Gottes – die Natur als Arena kausaler Kräfte und Interaktionen. Natürlich ist, was den Naturgesetzen entspricht, und insofern ist auch Technik – im Besonderen die Impftechnik – natürlich.
Der menschliche Körper ist eigentlich ein Hybrid aus natürlichen und künstlichen Komponenten. Man denke nur an die moderne Prothetik, an künstliche Hände, Herzklappen oder Bauchspeicheldrüsen. Mit zunehmender Verkünstlichung des Körpers wird die Medizin immer technischer. Wir leben schon heute in einer technologischen Matrix, und futuristische Utopien zeichnen das Bild eines «post-natürlichen» Lebens als Cyborg, dank des permanenten «Enhancements» unserer Physis. Es könnte aber auch sein – wie Dystopien uns aufschrecken –, dass der Mensch in Zukunft zur Prothese seiner technischen Hervorbringungen mutiert.
«Die Natur» gibt es nicht
Wie auch immer, das postmoderne Denken hat den Blick auf die Natur folgenreich verändert. Im Sinn und Geist von Nietzsche lautet jetzt das Credo: «Die Natur» gibt es nicht, sondern immer nur Interpretationen der Natur. Das Credo gilt der kunterbunten Branche paramedizinischer Heiler als Freibrief, sich je auf «ihre» Natur zu berufen. Der Jargon der Natürlichkeit gedeiht hier formidabel. Die Schulmedizin ist heute umlagert von einem schwirrenden Basar «natürlicher» Heilmethoden. Nicht selten gesellt sich – speziell in diesen Tagen – zum Glauben an die «Natürlichkeit» die Kritik am Experten-Establishment und an der Korrumpiertheit von Big Pharma – also der altbekannte konspirative Giftcocktail.
Im Grunde handelt es sich beim Jargon der Natürlichkeit um Restbestände mythischen und religiösen Denkens. Dieses Denken lässt sich zu einer einfachen Formel komprimieren: In allem, was geschieht, wirken insgeheim natürliche oder auch übernatürliche Mächte. Meist personifizierte man diese Mächte. Der wissenschaftliche Begriff der Inkubation zum Beispiel entstammt dem mythischen Jargon der Inkuben und Sukkuben: Dämoninnen und Dämonen, die sich im Schlaf mit dem Menschen paaren und ihnen Lebensenergie entziehen – sie krank machen. Quasi eine frühe Verschwörungstheorie des Krankseins.
Ein Beispiel aus Kanada
Im Klima des medizinischen Multiexpertismus tritt ein bedenkenswertes Problem zutage. Von sich reden machte ein Fall in Kanada, im Jahre 2014. Zwei Irokesenmädchen litten an Leukämie. Ihre Eltern wollten sie nicht den «Schrecken» moderner Medizin – etwa Chemotherapie oder Bestrahlung – ausliefern und überantworteten sie dem Hippocrates Health Institute des Naturarztes Brian Clement in Florida. Ein Mädchen starb prompt innert kurzer Zeit dank einer Kombination aus Weizensprossendiät, Vitamin-C-Spritzen, veganer Rohkost und Kaltlasertherapie. Das andere Mädchen hatte mehr Glück. Nachdem es im Hippocrates Health Institute einen Rückfall erlitten hatte, liessen die Eltern sich doch zur «unnatürlichen» Chemotherapie umstimmen. Im Verbund mit traditioneller «natürlicher» Irokesenmedizin überlebte das Mädchen.
Das wirkliche Problem
Selbstverständlich wenden Verfechter der Naturheilkunde hier ein, das sei eine typische Verunglimpfung mittels einseitiger schlechter Beispiele. Naturheilung wirke durchaus in vielen Fällen, zudem könne man auch der Schulmedizin solche Fehler nachweisen. Und wenn man Naturheilmethoden als blosse Rituale abqualifiziere, sollte man sich auch einmal bewusst machen, von wie vielen Ritualen die moderne medizinische Behandlung sekundiert sei. Nun geht es in solchen Auseinandersetzungen nie bloss um die Wirksamkeit von Heilpraktiken, sondern immer auch um die Anerkennung von Heilpraktikern, um ein soziales Problem also. Deshalb wird dieses Hickhack zwischen Biomedizin und Paramedizin wahrscheinlich auch nie ein Ende finden. Vor allem aber lenkt es ab von einem tieferen medizinischen Widerspruch.
Das Subjekt der Krankheit
Denn bei genauerer Betrachtung ist «natürlich» häufig einfach ein Kürzel für «ausserhalb des medizinisch-pharmazeutisch-technischen Komplexes». Und damit rückt der Widerspruch scharf ins Visier. Er betrifft ein Gefühl, das viele Menschen kennen: Krank, vielleicht sogar hospitalisiert, ist man einer fremden Welt der Apparate, der Tests, der Arzneien ausgeliefert, deren Wirkungsweise man meist nicht versteht. Das Gefühl des Kontrollverlustes, des Objektwerdens, der Entwürdigung befällt einen. Der Blick der modernen Medizin ist auf die Körper-Maschine (oder besser: das Körper-Intranet) gerichtet, nicht auf das Körper-Subjekt – er ist systematisch einäugig. Und genau hier setzen «natürliche» Methoden an. Wie man über sie auch urteilen mag, sie alle kommen einem Bedürfnis des Patienten entgegen: Er will Subjekt der Krankheit sein. Die Rhetorik der «natürlichen» Methoden lautet: Dein Körper heilt dich selber. Der Körper ist nicht nur ein Stück intelligentes Fleisch, sondern ein Stück Fleisch, das «ich» sagt. Heilen erweist sich deshalb nie als blosser physiologischer Prozess, sondern als ein bedeutungsgeladener Prozess, der über die klinische Wirksamkeit von Heilmitteln hinausreicht. Er ist eine Selbstermächtigung.
Die Abschaffung des Patienten
Selbstermächtigung scheint mir der geeignete Begriff zu sein, um den Jargon der Natürlichkeit in einem erweiterten Rahmen zu begreifen. Er benennt eine Lücke im modernen Standardansatz des Heilens: die (Selbst-)Entmächtigung des Patienten. Sie kommt schon in einer Definition des Oxford English Dictionary deutlich zum Ausdruck: «Der Patient ist eine Person, die Schmerz, Leid, Unbilden usw. erduldet, gelassen, ohne Unbehagen oder Klage, in ruhiger Erwartung.» So gesehen entpuppt sich der Jargon der Natürlichkeit als implizites Plädoyer für die Abschaffung des Patienten. Nicht in dem Sinn, dass er auf moderne medizinische Behandlung verzichtet, sondern dass er – um hier den alten Kant zu bemühen – wagt, sich seines eigenen Körperverstandes zu bedienen. An die Stelle des Patienten tritt der körpermündige Mensch – das könnte der Anfang einer echten Kultur des Heilens sein.