Der „Islamische Staat“ (IS) ist dabei, die letzten Städte, die er noch beherrscht, zu verlieren. Im Irak ist dies Rawa nahe der syrischen Grenze im Euphrattal. In Syrien ist es Albu Kamal, ein Ort an der Grenze um Irak, ebenfalls im Euphrattal.
Rawa gilt bereits als erobert. Doch die irakische Armee muss noch Minen und Sprengstofffallen entfernen, bevor die Bevölkerung in den Ort zurückkehren kann.
Ende des „Kalifats“
In Albu Kamal kämpfen noch immer IS-Einheiten mit der syrischen Regierungsarmee. Diese hat in den letzten Wochen zuerst die Provinzhauptstadt Deir az-Zor erobert und ist dann dem rechten Euphratufer entlang bis nach Albu Kamal vorgestossen. In wenigen Tagen wird die Stadt wohl fallen. Dann kontrolliert der IS keine festen Territorien mehr. Die Namen „Islamischer Staat“ und „Kalifat“ kann er dann nur noch als politisches Programm in Anspruch nehmen, nicht mehr als eine territoriale Realität.
Kämpfer des IS werden jedoch, soweit sie überleben und nicht gefangen genommen werden, weiterhin in der Wüste zwischen Syrien und den beiden Strömen Mesopotamiens über einige Bewegungsfreiheit verfügen. Andere werden sich in Untergrundzellen in den irakischen und syrischen Städten zu verbergen suchen.
Ist die Bevölkerung für oder gegen die Regierung?
Der Kampf gegen sie wird in eine neue Phase eintreten. Sie wird weniger einen rein militärischen Einsatz verlangen, als vielmehr einen solchen von Polizei und Geheimpolizei. Entscheidend in dieser neuen Phase wird sein, welche Positionen die Zivilbevölkerung einnimmt: Steht sie aufseiten ihrer Regierung oder ist sie gegen sie. Solange sich grössere Teile der Bevölkerungen von ihrer Regierung unterdrückt fühlen, mit oder ohne Berechtigung, hat der IS gute Aussichten fortzubestehen. Dann kann er möglicherweise neue Ansatzpunkte für eine territoriale Macht entwickeln.
Wenn es den Regierungen aber gelingt, die Zustimmung der Bevölkerung zu erhalten, oder mindestens von dieser als die bessere Alternative zum IS betrachtet wird, bestehen Aussichten, dass auch diese neue Phase der IS-Bekämpfung erfolgreich verlaufen wird. Doch in beiden Staaten, dem Irak wie Syrien, ist es heute ungewiss, inwieweit die bestehenden Regimes in der Lage sein werden, die Zustimmung ihrer Bevölkerung in allen Landesteilen zu erlangen. Nur wenn ihnen das gelingt, werden sie dem IS oder dessen ideologischen Nachfolgern keine neuen Erfolgschancen bieten.
Integrierung der Sunniten und Kurden
In Syrien gibt es immer noch viele Rebellen, die zwar kaum in der Lage sein werden, das Regime von Damaskus zu stürzen, die aber, sollten sie sich ergeben, befürchten müssen, vom Asad-Regime grausam liquidiert zu werden. Daher wird es in Syrien schwierig sein, genügend Zustimmung oder auch nur soviel passive Duldung für das Regime zu erlangen, dass Stabilität erreicht werden kann. Doch auch Bagdad steht vor schwierigen politischen Integrationsaufgaben, bevor es als abgesichertes Machtzentrum für den Irak gelten kann.
Im Irak geht es um Versöhnung und Zufriedenstellung der Sunniten und der irakischen Kurden. Ferner müssen jene Teile der irakischen Schiiten, die Sympathien für das Nachbarland Iran haben, überzeugt werden, dass es ihnen im Irak besser geht als in Iran.
In Syrien kann ein Regime nur dann eine gewisse Stabilität erlangen, wenn es ihm gelingt, die sunnitische Mehrheit wieder zu integrieren. Zudem muss es einen Modus Vivendi mit den syrischen Kurden finden. All dies sollte geschehen, ohne die bisherigen Verbündeten des Regimes vor den Kopf zu stossen. Dazu gehören die Alawiten und auch die Christen.
Schleppender Wiederaufbau
Im Irak wird es schon bald um die politisch und finanziell schwierigen Fragen des Wiederaufbaus gehen. Ein solcher muss in erster Linie zuerst in sunnitischen Landesteilen geschehen, die im Krieg am meisten zerstört wurden. Es geht dabei auch um die Reintegration der arabischen Sunniten.
Wenn dieser Wiederaufbau vorankommt, sind die Aussichten für eine Wiedereingliederung der Sunniten in den irakischen Staat bedeutend besser, als wenn er stagniert. Bisher hat ein Wiederaufbau noch kaum begonnen. Dazu kommt auch im Irak die Kurdenfrage, wobei immerhin ein Lösungsansatz mit der durch die Verfassung gegebenen föderalen Lösung besteht.
Noch keine Rückkehr der Flüchtlinge
In Syrien ist noch ein weiterer Krieg entweder zu gewinnen oder beizulegen: der Krieg gegen die verbleibenden Rebellen. Einerseits gibt es Gruppen, mit denen eine Versöhnung schwerlich in Frage kommt. Dazu gehört die ehemalige Nusra-Front (heute: HTS für „Hay'at Tahrir Suriya“/„Syrische Befreiungsgruppierung“) und ihre Verbündeten. Ihnen gegenüber stehen viele kleinere Rebellenverbände. Im Rahmen eines „De-Konfliktierungs-Programms“ sehen Damaskus und Moskau ihre Entwaffnung und ihre Aussöhnung mit ihnen vor.
Bevor der noch andauernde Kampf gegen diese beiden Flügel der bewaffneten Opposition beendet ist, kann man nicht an einen ernsthaften Wiederaufbau denken. Auch eine Rückkehr der Millionen von syrischen Flüchtlingen und Vertriebenen liegt noch in weiter Ferne. Dazu kommt: Auch Damaskus steht vor einer Kurdenfrage.
Gegen kurdische Autonomie
In Syrien ist diese noch schwieriger zu lösen als im Irak. In Damaskus besteht zur Zeit keinerlei Neigung, eine föderale oder auch nur eine dezentralisierte Lösung zuzulassen. Moskau deutet gelegentlich an, dass es eine solche befürworten würde. Doch der türkische Nachbarstaat wehrt sich eisern entschlossen dagegen. Was Iran denkt, ist unklar. Es ist jedoch zu erwarten, dass Teheran Asad unterstützt, vor allem auch deshalb, weil Iran seinerseits den Kurden keine Autonomie geben will.
Die syrischen Kurden sind zurzeit dabei, ihre Position für künftige Verhandlungen mit Damaskus zu stärken. Dazu wollen sie einige Gebiete beherrschen, die sie bei den Verhandlungen als Pfand ausspielen können. Aus diesem Grund sind sie nach Raqqa vorgestossen. Zurzeit sind sie dabei, über Raqqa hinaus dem linken Ufer des Euphrat nach in die Wüste vorzudringen. Dort liegen die wichtigsten syrischen Erdölfelder.
Wer wird der syrische Putin?
Die syrischen Kurden genossen dabei und geniessen noch weiterhin die Unterstützung der amerikanischen Luftwaffe und deren Koalition. Dies vor allem deshalb, weil die Kurden auch gegen die Überreste des IS kämpfen. Diese sind weiterhin östlich und nördlich des Euphrats aktiv. Doch die Kurden selbst wissen, dass diese Unterstützung wegfallen wird. Vor allem dann, wenn es darum geht, das von ihnen besetzte arabische Territorium in der sogenannten „Jazira“ (der „Insel“ zwischen Euphrat und Tigris) gegen Damaskus und dessen Helfer zu halten.
Die syrischen Kurden halten Kontakt nicht nur zu den Amerikanern, sondern auch zu den Russen. Putin hat mehrmals durchblicken lassen, dass er sich ein „föderales“ Syrien vorstellen könnte, „ähnlich wie die russische Föderation“. Wer allerdings der syrische Putin dieser Föderation werden soll – vielleicht doch Baschar al-Asad? – sagt Russland nicht. Jedenfalls, so wissen die kurdischen Strategen, wird ihre Verhandlungsposition, wenn es um ihren künftigen Teilstaat gehen wird, umso besser sein, je grössere und je wichtigere Teile des syrischen Staatsgebietes sie zum Zeitpunkt des Verhandlungsbeginns beherrschen.
Die Türkei gegen einen kurdischen Teilstaat
Die Kurden wissen, dass die Türken alles tun werden, um einen kurdischen Teilstaat im Norden Syriens zu verhindern. Ankara hat seine Verbündeten unter den syrischen Rebellen. Diese bestehen aus Teilen der sogenannten „Freien Syrischen Armee“ (FSA), die von der Türkei bewaffnet und unterhalten werden. Diese Kampfverbände waren im vergangenen August eingesetzt worden, um mit türkischer Unterstützung jene Teile Nordsyriens an der türkischen Grenze zu besetzen, die zwischen den kurdischen „Kantonen“ Kobane und Afrin liegt. Dies geschah, um zu verhindern, dass die Kurden ein zusammenhängendes Gebiet entlang der türkischen Grenze einrichten konnten.
Die gleiche FSA – ebenfalls mit Hilfe und Unterstützung der türkischen Streitkräfte – steht auch seit dem vergangenen Monat an der Grenze im Nordwesten Syriens, dort an der Grenze zwischen der syrischen Provinz Idlib und der türkischen Provinz von Hatay (Antiochien). Das beunruhigt die Kurden, denn jetzt stehen Truppen, die von der Türkei unterstützt werden, nahe ihrem Einflussgebiet.
Eine neuer Friedensplan Moskaus
Moskau hat eine Konferenz in Sotschi angeregt, an der Russland, die Türkei und Iran mit der Asad-Regierung, der syrischen „Opposition“ und den syrischen Kurden verhandeln sollen. Damaskus hat zugesagt. Wer von der „Opposition“ anwesend sein wird, bleibt noch offen. Es gibt eine von Damaskus aus gesehen „legale“ Opposition. Diese ist unbewaffnet und könnte deshalb Asad genehm sein – im Gegensatz zu zahlreichen andern, bewaffneten, Rebellengruppen.
Doch das Haupthindernis für diesen Konferenzplan ist der Umstand, dass die Türkei nur mitwirken will, wenn die Kurden ausgeschlossen bleiben. Dies ist jedoch unrealistisch, vor allem deshalb, weil die Kurden über starke Verbände verfügen und wichtige Territorien kontrollieren.
Die USA und die Uno – ausgeklammert
Der Sotschi-Plan der Russen steht in Konkurrenz zu den Syrien-Verhandlungen in Genf. Diese sollen Ende November wieder aufgenommen werden. In Genf, wo der Uno-Sicherheitsrat und die USA eine wichtige Rolle spielen, wird die Bildung einer syrischen Übergangsregierung angestrebt – mit oder ohne Asad. Die Sotschi-Konkurrenz würde die Uno und die USA bei der Friedenssuche ausklammern.
Zurzeit ist ungewiss, ob die von Moskau angeregte Sotschi-Konferenz überhaupt zustande kommt. Der kurdisch-türkisch Gegensatz droht sie zu verhindern. Mehrere Rebellengruppen erklärten, sie zögen es vor, weiterhin in Genf zu verhandeln.
Wenn jedoch Russland darauf besteht, ausserhalb Genfs und unter Ausschluss der USA zu verhandeln, könnte dies die Genfer Verhandlungen weiterhin blockieren. Dies ist dann der Fall, wenn sich Asad auf Druck Moskaus weiterhin weigert, irgendwelche Konzessionen zu machen.
Freie Hand für die Russen
Sollte Moskau zur Erkenntnis gelangen, dass mit Asad keine Regelung des Syrien-Konflikts möglich ist, können die Russen später immer noch – ob in Astana oder in Sotschi – ihre eigenen Vorstellungen über die Zukunft Syriens einbringen.
Bisher ist nicht zu erkennen, dass die USA über eine Syrien-Politik verfügen, die mehr ist als eine Bekämpfung des IS. Dies spielt den Russen in die Hände. Sie erhalten so freie Hand, sich in Syrien als wichtigste Macht zu etablieren.