In rund einem Drittel der 717 städtischen Brennpunkte Frankreichs («zones urbaines sensibles», ohne DOM) haben sich in der vergangenen Woche Jugendliche und junge Erwachsene gegen den Staat und seine Institutionen sowie gegen wirtschaftliche und soziale Einrichtungen aufgelehnt, die als Fremdkörper in ihrem Lebensumfeld empfunden werden.
Auslöser war die Erschiessung des 17-jährigen Naël Merzouk durch den Beamten einer motorisierten Polizeistreife in Paris-Nanterre am 27. Juni 2023. Bei den gewalttätigen Protesten wurden auch Stimmen dokumentiert, die den Islam als Rechtfertigung für die Militanz auf der Strasse anführten.
Aber die Revolte war nicht «islamisch». Sie war durch und durch ein Produkt der Vorstädte. Seit den ersten Vorstadtaufständen in der Cité Grappinière in Vaulx-en-Velin nordöstlich von Lyon 1979 gab es fast jedes Jahr soziale Unruhen in den Banlieues, nur zwischen 1984 und 1989 sowie 2010 und 2016 war es etwas ruhiger. Immer wieder wird Polizeigewalt als Auslöser der Unruhen beschrieben, doch das Problem liegt tiefer. Im Kern geht es darum, dass die Vorstädte für Millionen von Menschen eine Wohnform darstellen, die in einem Frankreich entstanden ist, das es heute nicht mehr gibt. Sie wurden zwischen 1950 und 1970 gebaut und waren vor allem für ein industrialisiertes Frankreich gedacht, das seine gesamte wirtschaftliche und soziale Basis in der Industrie sah. Die Menschen kamen in die Vorstädte, um von dort zur Arbeit zu pendeln. Dies prägte den klassischen Tagesrhythmus métro–boulot–dodo (pendeln, arbeiten, schlafen).
Ein urbaner Anachronismus
Ab den 1970er und 1980er Jahren setzte eine massive Deindustrialisierung ein. Die Industrie verschwand, nicht aber die Siedlungsformen. Diese Wohnformen – und damit die Vorstädte – sind ein Relikt dieser Zeit. Die Deindustrialisierung führte also zu einer – aus heutiger Sicht – sozialpolitischen und städtebaulichen Fehlkonstruktion. Ursprünglich waren sie als Schlafstätten für die neu zugezogenen Industriearbeiter gedacht. Seitdem sind sie Auffangbecken sowohl für die Binnen- als auch für die Arbeitsmigration. Mit dem Beginn der Deindustrialisierung in Frankreich 1974/5 und dem gleichzeitig verhängten Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte, der nur noch den Familiennachzug erlaubte, verdichteten sich die Banlieues zu abgegrenzten Sozialräumen, die aus Sicht des Staates keine gesamtgesellschaftliche Produktivität aufwiesen bzw. enthielten. Dementsprechend waren die sozialpolitischen Massnahmen in den Vorstädten bis in die 1990er Jahre mehr als dürftig.
In den 1990er Jahren begann der Staat die Problematik der Vorstädte ernst zu nehmen und versuchte mit gezielten Wirtschafts- und Sozialprogrammen auf die Situation zu reagieren. Allerdings gelang es dem Staat nicht, die Bewohner der Vorstädte in eine neue soziale und wirtschaftliche Landschaft zu integrieren. So entstanden neben den Industrieruinen urbane Sozialruinen, die mit dem Einsetzen der zweiten Migrationswelle Ende der 1990er Jahre revitalisiert wurden, da sie nun ihre Funktion als soziales Auffangbecken in besonderer Weise erfüllen mussten.
Die Deindustrialisierung hat das soziale Profil der Vorstädte entscheidend verändert. Durch die in den 1980er Jahren geförderte Familienzusammenführung bildeten sich in den Vorstädten soziale Cluster. In diesen Clustern fand der Islam eine neue Heimat, die der französische Politikwissenschaftler Gilles Kepel als «banlieues de l’islam» bezeichnete. Tatsächlich bildete sich in den Vorstädten so etwas wie ein stark diversifizierter «banlieue-islam» heraus, der aufgrund der Vielfalt der Lebenswelten in den sozialen Clustern kein einheitliches Muster mehr aufwies.
Religiöse Nationalität
Bis in die 1980er Jahre war die Nationalität das entscheidende Zugehörigkeitskriterium in den Vorstädten. Der Islam, der damals die Rolle einer Familien- und Nachbarschaftskultur repräsentierte, wurde ab Ende der 1980er Jahre zunehmend mit den Merkmalen einer Nationalität gleichgesetzt. Je mehr Herkunft zu einer Kategorie wurde, nach der gesellschaftliche Solidarität organisiert und verteilt werden sollte, desto wichtiger wurde die Selbstidentifikation mit dem Islam. Anders als mit Begriffen wie Marokkaner, Algerier oder Tunesier war mit dem Begriff Islam ein Geltungsanspruch verbunden, der sich zugleich in eine soziale Praxis übersetzen liess. Das Tragen von Kleidung, das Befolgen von Speisevorschriften und die Besetzung öffentlicher Räume im Rahmen von Kulthandlungen als Muslim waren Ausdruck dieser Zugehörigkeit.
Die Herkunft konnte so nicht nur durch eine Identitätsbehauptung in Anspruch genommen, sondern auch durch eine Praxis unter Beweis gestellt werden. Zugleich erlaubte diese Bestimmung des Islam, die politische Nationalität auf die französische Nation zu beziehen und parallel dazu eine Art religiöse Nationalität zu entwickeln, die die Differenz innerhalb der französischen Ordnung repräsentierte und zugleich die real erlebte Segregation der Vorstädte von den politisch dominanten Metropolen widerspiegelte. Der Islam wurde also dreifach aufgewertet: erstens als traditionelle Ordnung von Familie und Nachbarschaft, zweitens als neuer Ausdruck religiös-nationaler Identität und drittens als symbolischer Raum einer distinkten Praxis.
Soziale Welten des Islam
Später wurde diese religiöse Nationalität an die reale Herkunftsgeschichte rückgekoppelt, so dass über die real gelebte Herkunft eine privilegierte Position im Rahmen der religiösen Nationalität beansprucht werden konnte. Im Laufe der Jahre traten immer weitere Akteure in das islamische Feld: Dazu gehörten sehr puritanisch ausgerichtete, apolitisch orientierte Missionsgesellschaften wie die Tablighis, stark politisch orientierte Gemeinschaften, die den Islam als Geltungsanspruch in einer politischen Öffentlichkeit verstanden und den Islam zur Grundlage einer gesellschafts- und staatspolitischen Programmatik zu machen suchten wie die Muslimbrüder, sowie religiöse Orthodoxien, zu denen auch bestimmte Sufi-Orden gehörten, und islamische neureligiöse Sekten.
Die Prominenz der Muslimbrüder resultierte auch daraus, dass sie den Raum der religiösen Nationalität politisch zu besetzen suchten und sich als Sachwalter dieser religiösen Nationalität verstanden. Im politischen Lagerdenken der Zeit waren die Muslimbrüder stark rechts zu verorten, da sie vor allem versuchten, die Herkunft über die religiöse Tradition politisch aufzuwerten und gegenüber anderen Herkünften zu privilegieren. Ihre Prominenz verdankten sie auch der Tatsache, dass sie als einzige islamische Tradition in den Stadtvierteln in der politischen Öffentlichkeit wahrgenommen werden wollten. Sie sahen ihr Publikum eben nicht nur in den Stadtvierteln, sondern agierten gezielt im Rahmen einer Öffentlichkeit, die vor allem in den urbanen Metropolen und damit in den politischen Entscheidungszentren massgeblich war.
Eine besondere Rolle spielten jene Organisationen, die die Funktion der Sozialarbeit in den Stadtvierteln übernahmen und teilweise sogar staatlich alimentiert wurden.
Dies alles wertete das islamische Feld massiv auf, was die Vorstädte auch für Neuzuwanderer attraktiv machte und ihnen eine Heimat bot, in der sie keine besonderen Integrationsanforderungen erfüllen mussten.
In den 1990er Jahren war in vielen Vorstädten ein neues sozialmoralisches Milieu entstanden. Dieses basierte nicht auf einem geschlossenen Weltbild, sondern auf der Erfahrung sich angleichender Lebenswelten, die zu einer gegen die Metropolen gerichteten Lebenshaltung führten.
Ultra-Islamismus
Im Zuge des Algerienkrieges, der seit 1992 die algerische Gesellschaft zu zerstören drohte, bildeten sich auch in Frankreich in den Banlieues erste Zellen ultrareligiöser Islaminterpretationen, die die Feindschaft der Banlieues gegen die französische Gesellschaft und den französischen Staat sehr viel stärker definierten. 1994 bildeten sich die ersten ultra-islamischen Netzwerke, die vor allem in den Vorstädten um Lyon eine soziale Heimat fanden, unter anderem in dem besonders verarmten Viertel Grappinière in Vaulx-en-Velin. Nach der Anschlagsserie von 1995, an der neun Mitglieder der Groupe islamique armé beteiligt waren, dauerte es allerdings noch fast 20 Jahre, bis diese Milieus eine Vielzahl prekärer Biographien hervorbrachten, die den Rahmen für eine ultraislamische Selbstermächtigung boten.
Die Quartiere der Banlieues, aber auch die prekären Sozialräume intramuros bilden nicht nur einen Rückzugsort für Angehörige ultraislamischer Verbände, sondern zugleich den sozialen Ort, an dem prekäre Biographien generiert werden, die zu ultraislamischen Einstellungen führen und zu einer gewissen Verfestigung solcher ultraislamischer Netzwerke beitragen können. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich um sehr kleine Netzwerke handelt, die oft nur 10 bis 20 Personen umfassen. Sie können sich aber auch auf einen Bezugsraum stützen, der vielleicht 100 bis 200 Personen umfasst. Darauf deuten jedenfalls die Zahlen hin, die sich aus der Auswertung der Daten zu terroristischen Aktionen in den Jahren 1995/96 und 2015 bis 2019 ergeben. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Zugang zum Milieu der Banlieues durch ultra-islamistische Gruppierungen heute eher selten ist; bedeutsamer sind terroristische Aktionen von Einzeltätern oder Kleinstgruppen, die die Rechtfertigung für ihre Selbstermächtigung häufig aus einer virtuellen Unterstützerwelt beziehen. Diese Welten verbinden die unmittelbaren Lebenserfahrungen der Täter mit ihren dogmatisch gerahmten Vorstellungswelten.
Das islamische Feld der Banlieues
Mittlerweile leben fast drei Viertel aller Menschen, die sich in Frankreich der islamischen Tradition zurechnen, in diesen städtischen Brennpunkten. Sie machen dort inzwischen fast zwei Drittel der Bevölkerung aus. Genaue Zahlen liegen nicht vor, ebenso wenig ist bekannt, wie viele Menschen in Frankreich sich tatsächlich der islamischen Tradition zugehörig fühlen. in der Regel wird von 4 bis 5 Millionen Menschen gesprochen, es gibt aber auch Schätzungen, die weit darüber hinausgehen.
In einigen Vorstädten hat sich so inzwischen eine muslimische Mehrheitsgesellschaft herausgebildet, die allerdings sehr heterogen und plural ist. Der Islam wird weithin als Merkmal sozialer, politischer und kultureller Identität bevorzugt und in den letzten Jahren sogar verstärkt als religiöse Nationalität formuliert. Der im Alltag immer wieder erlebte Rassismus wird von vielen in den Stadtteilen als Bestätigung dieser religiösen Nationalität verstanden, die zunehmend mit der Kategorie der ethnischen Herkunft und damit der Hautfarbe verknüpft wird. Muslim-Sein wird mit der Idee von «People of Color» gleichgesetzt, ja Muslim zu einer Hautfarbe verkörpert.
Die Polyvalenz des Islam in den Vorstädten ist also enorm: Der Islam kann neben einer persönlichen Frömmigkeitshaltung schlicht Ausdruck einer Haus-, Familien- oder Nachbarschaftsgemeinschaft sein, die Idee von Heimat oder Nation repräsentieren, Herkunft oder gar Ethnizität signalisieren und schliesslich sogar zur Ressource ultrareligiöser Selbstermächtigung werden.
Für die grosse Mehrheit derjenigen, die sich in den Vorstädten mit dem Islam identifizieren, ist der Islam eine Kategorie, mit der die faktisch erlebte Segregation mit dem universalistischen Republikanismus in Einklang gebracht werden soll. Für sie ist der Islam Ausdruck einer religiösen Nationalität. Umstritten ist in den muslimischen Gemeinden der Banlieues, ob der Islam als religiöse Nationalität der politischen Nationalität über-, neben- oder untergeordnet werden soll.
Perspektiven?
Eine politische und gesellschaftliche Lösung dieser Probleme ist ohne eine tiefgreifende Reform des Staates nicht möglich. Ohne ein verändertes Verständnis der Instrumente, mit denen der Staat diesen gesellschaftlichen Wandel anstrebt, wird es nicht gehen. Bisher glaubte die Politik, der starke Staat müsse die Probleme paternalistisch lösen. Doch dieser Paternalismus ist Gift. Der Staat soll nicht Fürsorge entwickeln, sondern die Menschen befähigen, selbst an der Lösung ihrer sozialen Misere zu arbeiten und mitzuwirken. Viel wichtiger sind Partizipation, Repräsentation, Entbürokratisierung und Dezentralisierung von Entscheidungs- und Verantwortungsstrukturen. Ausserdem muss es lokal angepasste Lösungen geben: in Lille anders als in Lyon, in Lyon anders als in Paris, in Paris anders als in Montpellier und so weiter. Wenn das gelingt, wird man eher zu einer Lösung kommen, als wenn man das Problem der Banlieues weiterhin als staatlichen Verwaltungsakt behandelt. Damit ist aber auch klar: Ohne die aktive Beteiligung auch der sich als Muslime verstehenden Menschen in den Banlieues, ohne ihre innergesellschaftliche Auseinandersetzung mit Radikalismus, Extremismus und Ultraismus wird es keine Lösung für die Transformation der sozialen Brennpunkte geben.