Es sind die westlichen Medien, die sich in diesem Sinne hervortun, und die westlichen Medien bestimmen sehr weitgehend, was in der Medienwelt, weit über den Westen hinaus, zu vernehmen ist und vernommen wird. Es gibt allerdings auch westliche Wissenschafter, die autoritativ über den Islam sprechen, weil sie ernsthafte Studien über die fremde Religion unternommen haben. Aber dominant sind die Stimme derjenigen, die den Islam von aussen beurteilen.
Erbitterung über den Druck des Westens
Die Muslime ringen heute um die ihnen weitgehend entglittene Bestimmungshoheit darüber, was der Islam sei. Der Umstand, dass ihre Religion zum Angriffsziel von Aussenseitern geworden ist, die sich herausnehmen, sie wüssten zu definieren und darzustellen, was die Religion der Muslime "wirklich" sei, erbittert sie. Besonders natürlich, wenn sie erkennen, dass diese angeblichen Fachleute und Spezialisten, Vorurteilen zuneigen und im Falle der Medien sehr oft von Dingen sprechen, die sie überhaupt nicht kennen, weder aus eigener Erfahrung, noch aus einem ernsthaften Bemühen heraus, sich wirklich zu orientieren.
Seit den Reaktionen auf die Anschläge von New York und Washington, die sofort nach dem 11. September 2001 begannen und seither lawinenartig gewachsen sind, fühlen die Muslime sich, weltweit, nicht nur in Amerika, "unter Belagerung". Der Druck, der auf sie und ihre Religion ausgeübt wird, ruft zunächst Empörung und Ärger hervor. Sie reagieren umso empfindlicher als ihre Kultur und die ihr innewohnende Religion schon seit Generationen unter Druck durch "den Westen" stehen.
Dieser begann mit dem 19.Jahrhundert, als Napoleon seine Truppen in Ägypten landete, er setzte sich fort mit dem europäischen Kolonialismus, dessen Heere fast alle islamischen Länder besetzten, und er hat seither nie aufgehört. Heute nennt man ihn "Globalisierung", und diese besteht daraus, dass westliche Geschäftsinteressen, Geschäftsmethoden und Anschauungsweisen sich weltweit ausbreiten und durchsetzen - auch in der gesamten, weiten und vielfältigen, islamischen Welt.
Fehlende Brücken der Empathie
Die Reaktionen in der islamischen Welt auf den Druck durch den Westen werden zunehmend heftiger und leidenschaftlicher. Doch es gibt wenige Muslime, die in der Lage sind, den nicht muslimischen Aussenseitern, die beständig über sie sprechen, einigermassen verständlich zu machen, warum sie empört sind und was sie in die Empörung treibt. Die Sprachregelungen sind gegenläufig, weil die Grundverständnisse, die sie bedingen, verschieden sind. Die bestimmenden Standpunkte sind: innen oder aussen.
Der Innenseiter hat Schwierigkeiten sich vorzustellen, was der Aussenseiter empfindet und meint. Der Aussenseiter vermag nicht, in die Grundhaltungen des Innenseiters vorzudringen. Oft will er es gar nicht. Doch sogar, wenn er es möchte, gelingt es ihm schwer. Es fehlen die Brücken der menschlichen Kontakte und der tiefgreifenden Empathie.
Ahmed S. Akbar - ein seltener Glückssfall
Aus solchen Gründen ist es überaus lehrreich und ein seltener Glücksfall, wenn es einem der Innenseiter gelingt, seine Sicht des Innenlebens des Islams in einer beiden Seiten verständlichen Sprache und in dem Aussenseiter nachvollziehbaren Darlegungen widerzugeben. Voraussetzung dafür ist nicht nur Bekanntschaft mit der fremden und der eigenen Tradition und Sichtweise sondern echte, vertiefte Kennerschaft in beiden Bereichen.
Ahmed S. Akbar ist ein gläubiger Muslim aus Pakistan, der heute in Amerika lebt. Er wirkt seit vielen Jahren als Vermittler zwischen den drei abrahamitischen Religionen. Er hat eine westliche akademische Bildung als Anthropologe durchlaufen. Und er hat in der islamischen Welt gelebt und gewirkt als "civil servant" im damals neu entstandenen Staat Pakistan, als Gouverneur der Stammesregionen von Belutschistan wie auch als Botschafter („High Commissioner“) Pakistans in London.
Die Anschläge von New York und Washington haben ihn dazu bewegt, in seine ureigenste muslimische Welt zurückzukehren, um zu erforschen, wo sie heute steht und was sie tatsächlich motiviert. In zwei Büchern beschreibt er die Sicht aus dem Inneren der Islamischen Welt in der jüngsten Epoche, die mit den Anschlägen von New York und Washington und der amerikanischen sowie den weltweiten Reaktionen auf sie begonnen hat. "Islam under Siege", ist das erste Buch, aus dem Jahr 2003, "Journey into Islam, the Crisis of Globalization", das zweite von 2007.
"Islam unter Belagerung", gibt die Sicht des Anthropologen und Muslims wieder. Seine "Reise in den Islam" (die er in Begleitung amerikanischer Studenten unternahm) seine Sicht dessen, was heute in der Zeit der Globalisierung die Muslime weltweit und in der Unterschiedlichkeit ihrer Länder und ihrer sozialen Positionen als ihren Islam erkennen.
Dreifache Schichtung des heutigen Islams
Um das wichtigste Resultat vorauszunehmen: Die Sicht des muslimischen Anthropologen ist nicht die der Aussenseiter, die zwischen einem gemässigten und einem radikalen Islam unterscheiden, wobei sie den "radikalen Islam" auch als Islamismus ansprechen und diesen als eine mehr oder minder weitgehende Perversion der Religion auffassen und erklären. Der Muslim Akbar Ahmed weigert sich, andere Muslime, auch die radikal auftretenden, als Nicht-Muslime oder abweichende Muslime (Heterodoxe) zu brandmarken.
Er teilt seine Glaubensbrüder ein in drei Grundströmungen, die er im Rückgriff auf die indischen und pakistanischen Verhältnisse als jene von Ajmer, jene von Deoband und die von Aligarh charakterisiert. Ajmer ist das Heiligtum des Sufi Ordens der Chishti in Rajastan; Deoband die streng orthodoxe, "salafistische", dem Fundamentalismus zuneigende Medrese (Theologieschule) bei Delhi, und Aligarh, die Islamische Universität, auch in der Nähe von Delhi gelegen, Heim der "modernistischen" Gegenströmung , die einen Weg sucht, um den Islam mit den Notwendigkeiten der heutigen Zeit in Einklang zu bringen.
Akbar Ahmed selbst ist, wie er das anschaulich schildert, ein Produkt der muslimischen Universität von Aligarh gewesen. Doch seine Nachforschungen in einem bedeutenden Teil des weltweiten muslimischen Raumes, er arbeitet mit Umfragen, die er jungen Leuten, primär aus dem studentischen Milieu, vorlegt, ergeben recht klar, dass heute das Aligarh Modell in der Krise steckt, jenes von Deoband aber mit starkem Rückenwind segelt. Aligarh, zur Zeit der Gründung Pakistans in führender Position, leidet heute unter der wachsenden Unglaubwürdigkeit der modernen islamischen Staaten, von denen sich viele zu Diktaturen und kaum einer zu einer modernen islamischen Demokratie entwickelt haben, wie sie die Leute von Aligarh anstrebten.
Die Krisen fördern das radikale Modell
Das mystische Islamverständnis lebt immer noch, doch es ist vielerorts auf dem Weg, zum Volksislam abzusinken. Und es erscheint vielen als irrelevant für die politischen und sozialen Krisen, mit denen die heutige Islamische Welt konfrontiert ist. Das Islamprojekt von Deoband jedoch, profitiert von allen Missständen in der islamischen Welt, den selbst erzeugten und denen fremden Ursprungs, weil alle Missstände wachsende Zahlen von Muslimen dazu bewegen, sich gegen sie aufzubäumen und all ihren Glaubenseifer auf die erhoffte, echt islamische Lösung des ganz auf dem reinen Islam beruhenden Staates zu konzentrieren.
Die Krisen wirken daher zu Gunsten des radikalen Modells. Die drei Grundströmungen sind unter verschiedenen Bezeichnungen und mit leichten Nuancierungen in den Einzelheiten in der gesamten islamischen Welt vertreten. Man findet sie unter den Sunniten wie den Schiiten. Zwischen den drei Grundströmungen gibt es viele Mittelwege, und die Muslime können im Verlauf ihrer individuellen Entwicklung mehr der einen oder der anderen zuneigen.
Vorbilder aus der Geschichte und Gegenwart
Der Anthropologe und seine Mitarbeiter fragen die jungen Muslime nach den Vorbildern, historische aus der Vergangenheit und gegenwärtige ihrer Epoche, die sie als ihre Leitbilder sehen. Der Prophet ist unter den historischen Figuren weitaus die wichtigste. Unter den zeitgenössischen gibt es viele, Osama Ben Laden fehlt nicht unter ihnen; erstaunlicher Weise wird er in Indonesien besonders häufig genannt. Neben den Propheten treten Omar und Saladin, zwei Eroberer von Jerusalem, besonders häufig in Syrien und in Jordanien.
Zu den zeitgenössischen Vorbildern gehören Hassan al-Banna, Sayyid Qutb, al-Mawdudi, alle drei Vordenker der "Deoband" Strömung. Aber auch weltliche Muslime wie der Boxer Muhammed Ali, Präsident Ahmedinejad, Khomeini und Yasser Arafat, sowie Scheich Nasrallah, der Chef der Hizbullah in Libanon. Es sind Persönlichkeiten und Führungsfiguren, die es wagten, für den Islam aufzustehen und den Westen herauszufordern. (Ägypten und der Maghreb liegen ausserhalb des Kreises der untersuchten Länder). In der Türkei werden auch der grosse Mystiker und Dichter der Vergangenheit, ar-Rumi genannt, und der heutige Mystiker und Gelehrte, Fethullah Gülen, der in den USA lebt, seitdem die türkischen Behörden ihn vor einem Gericht verklagten.
Akbar Ahmed macht seinen Gesprächspartnern klar, dass im Islam das Töten von Unschuldigen verboten sei, "Genau so sehr wie der Alkohol", erklärt er einigen von ihnen, was sie zum Nachdenken anregt. Doch er verschweigt auch nicht, dass sie argumentieren, der ganze Westen mit all seinen Angehörigen stehe "im Krieg" mit dem Islam und sei deshalb gerechtfertigtes Angriffsziel.
Erschütterte Ehrbegriffe und Identität
Akbar Ahmed, der eine zeitlang eine Provinz in Belutschistan zu verwalten hatte, versteht auch etwas vom Stammeswesen und von den Ehrbegriffen der Stämme. Mit diesen Ehrbegriffen ist die Stellung der Frauen aufs engste verbunden, weil sie als Verkörperungen der Stammesehre gesehen werden. Dem Verfasser gelten die Stammestraditionen als unislamisch und teilweise gegen den Islam ausgerichtet. Doch er weiss, dass die Stammesangehörigen dies anders sehen. Für sie kann es gar keinen Gegensatz geben zwischen dem Islam und ihren Stammessitten und Ehrbegriffen, schon weil sie - wie die Belutschen es tun- ihre Herkunft und Sitten von Abraham ableiten, welche deshalb, so versichern sie, nicht unislamisch sein könnten.
Doch auch die Stammesleute wissen und erfahren es täglich neu. dass ihre Sitten und Ehrenvorstellungen mit der globalisierten Welt nicht in Einklang zu bringen sind. Was zu tragischen Zusammenstössen zwischen ihnen und ihren Regierungen führen kann. Einige schildert der einstige Gouverneur. Die erschütterten Ehrbegriffe führen dazu, dass Versteifungen eintreten, ein krampfhaftes Festhalten an den alten, eigenen Vorstellungen, allen veränderten Zeiten zum Trotz. Sie werden als letzte Stütze empfunden in einer Welt, in der die alten Identitäten fragwürdig und brüchig geworden sind. "Gefährlich leben in einer Nach-Ehren Welt" (Living Dangerously in a Post-Honor World) ist der Untertitel des ersten Buches über den "belagerten Islam".
In einem vergleichbaren Sinne erklärt der Verfasser den "verkrampften", "verhärteten" Islam, der sich nach aussen hin abschliesst, um sich "rein" zu erhalten als ein Bemühen, sich die eindringende nicht-islamische Aussenwelt vom Leibe zu halten, eine Suche nach Absicherung der eigenen, zusehends in Frage gestellten Identität. Sie kann sich wie jene der Stammesleute „verkrampfen“, was zu blutigen Resultaten führt.
Gewalt macht alles noch schlimmer
An verschiedenen Stellen kommt der Verfasser darauf zu sprechen, was die Muslime tun müssten, um die heutige Krise zu überwinden und was "der Westen" tun müsste und sollte. Für beide Seiten gilt: Gewalt macht alles noch schlimmer. Gewaltanwendung führt zu Gegengewalt, auch wenn es sich um Gewaltakte unterschiedlicher Art handeln mag: Selbstmordbomber gegen Fernlenkraketen. Die Gewaltakte führen zur Verkrampfung und Versteifung auf beiden Seiten.
Dieser Prozess des gegenseitigen Hochschaukelns kann solange weiter gehen, bis ein Weltuntergangsringen droht zwischen über einer Milliarde aufgebrachter Muslime und rachsüchtigen westlichen Mächten. Mehr und echtere Bildung auf beiden Seiten müsste Grundlage werden für ein gegenseitiges Verstehen, das allein das heutige gegenseitige Kesseltreiben beenden kann.
Islamische Grundtugenden fehlen
Für den bekennenden Muslim Akbar Ahmed beruht der Islam auf drei Haupttugenden: Gerechtigkeit (adl) Mitempfinden (ihsan) - er übersetzt dies mit "compassion, kindness, balance") und Wissen (ilm), was auch Weisheit bedeuten kann. Unter Rahmenbedingungen, die diese drei zu ersticken drohen, sieht sich der Islam in Frage gestellt. Die Globalisierung, so wie sie sich heute in der islamischen Welt zeigt, erstickt diese Grundforderungen der islamischen Religion und ihrer Gesellschaften. Sie verspricht im besten Falle Wohlstand durch Konsum, nicht Gerechtigkeit, nicht Mitgefühl und nicht Weisheit.
Islamische Nationalstaaten, die ihrer Bevölkerung ein einigermassen zufriedenstellendes, "islamisches" Leben gestatten, gibt es immer weniger, soweit sie überhaupt je existiert haben. Esfehlt zusehends mehr an Gerechtigkeit, Empathie und Wissen, was eben zu den erwähnten Verkrampfungserscheinungen führt. Die Muslime wollen ihre Gesellschaft und ihre Religion heute mehr denn je rein erhalten, abstützen, absichern, verteidigen, Gegenoffensiven auslösen, und sie stossen dabei auf eine übermächtige Gegengewalt, die sie noch mehr verunsichert und verbittert.
Die westliche Seite jedoch ist bis heute nicht in der Lage, einzusehen, dass es ihr Einfluss und ihre Übermacht sind, darunter auch ihre behauptete Definitionshoheit über die Nachbarzivilisation und ihren Glauben, welche diese benachbarte und eigentlich eng verwandte Zivilisation mit ihren religiösen Grundlagen aus den Angeln zu heben und zu zerstören drohen - so dass sie krampfhafte Abwehrreaktionen hervorrufen, die ihrerseits, weil sie krampfhaft sind, die Verhältnisse noch mehr belasten.
Bibliographische Angabe:Akbar S. Ahmed: Islam Under Siege , Living dangerously in a Post-Honor World, Polity Press 2003 und Derselbe: Journey into Islam, The Crisis of Globalisation, Brookings Institution Press, Washington DC 2007.