Er lebte in der heutigen Türkei, in Sinope am Schwarzen Meer: Diogenes, bekannt geworden durch sein Leben in der Tonne. „Kyniker“ wurde dieser Typus genannt, weil er wie ein Hund über die Foren und Märkte streunte, sich auch wie ein Hund benahm. Nicht, weil er ein heruntergekommener Stadtstreicher gewesen wäre, sondern weil er dieses philosophische Hundeleben bewusst gewählt hatte.
Diogenes war, um hier die Parallele ein wenig zu forcieren, eine Art von philosophischem Satiriker. Er nahm also die etablierten Philosophen nicht ganz ernst. Zumal nicht den damals berühmtesten Philosophenfürsten Platon, Vorsteher der ehrwürdigen Akademie in Athen. Im Kyniker nahm der Gegentypus des Akademikers Gestalt an. Es gab Kyniker, die sich nicht nur in unflätige Schmähreden ergingen, sondern sogar Unflätiges wie öffentliches Koitieren praktizierten. Die Agora, der öffentliche Platz, war ihr Medium, so wie heute das Fernsehen oder die sozialen Medien für die modernen „Kyniker“.
Das zweifüssige, federlose Tier mit platten Fingernägeln
Diogenes zog allerdings weniger den anstössigen physischen Akt als vielmehr den anstössigen witzigen Akt vor. Und er nervte damit den Philosophenfürsten. Weil Diogenes wie Sokrates unter die Leute ging und sie provozierte, bezeichnete ihn Platon als „rasend gewordenen Sokrates“. Einer vielzitierten Anekdote gemäss gehörte zu den edelsten Beschäftigungen der Akademiker, ein Ding zu definieren. So einigten sich die Philosophen nach langwierigen Debatten endlich auf eine Definition des Menschen: zweifüssiges, federloses Tier. Daraufhin soll Diogenes einen Hahn gerupft und ihn in einem Seminar präsentiert haben: Hier ist ein Mensch! Worauf sich die Philosophen erneut den Kopf zerbrachen und schliesslich ihre Definition verbesserten: Der Mensch ist ein zweifüssiges, federloses Tier mit platten Fingernägeln.
Der „Kyniker“ Böhmermann
Böhmermann und Erdogan auf die gleiche Stufe wie Diogenes und Platon zu stellen, wäre zuviel der Ehre für beide. Aber das Erbe der Kyniker erweist sich auch in der modernen liberalen Öffentlichkeit als höchst aktuell. Es gibt freilich eine entscheidende Differenz zwischen heute und der Antike. Als Diogenes gefragt wurde, was ihm das Höchste bedeute, antwortete er „Parrhesia“, das heisst der Anspruch, alles zu sagen; und zwar alles, was der Objektivität und Wahrheit geschuldet ist. Der Kyniker sagt alles, um die Philosophie – die Weisheit - weiterzubringen. Man kann den „Kyniker“ Böhmermann bona fide und mala fide interpretieren. In der ersten Art gesehen, ist ihm ein logisches Husarenstück geglückt: Er hat eine Person mit einem Gedicht beleidigt, dessen implizite Meta-Aussage lautet: Ich meine gar nicht den türkischen Staatspräsidenten, sondern verweise auf mich; man darf mich nicht rezitieren. Alle Welt kennt nun den Inhalt der Invektive, weiss aber auch, dass man sie eigentlich nicht publik machen darf. Damit demonstriert Böhmermann, wie weit es in der ach so toleranten Gesellschaft mit der Freiheit steht, alles zu sagen. Die Juristen werden, sollte es zu einem Prozess kommen, sich hoffentlich die Zähne an dieser logischen Nuss ausbeissen. Oder man kann Böhmermanns Eklat in der zweiten Art deuten. Dann hat er einfach nichts am Hut mit Kriterien wie Wahrheit. Er will nichts sagen, nur provozieren und Quoten heben. Er ist ein Kyniker des Bullshit-Zeitalters.
Eine Tugend im Bullshit-Zeitalter
Und hier kippt die Satire nun halt doch ins Ernsthafte. Der antike Kyniker unterhielt eine innige Beziehung zur Wahrheit, was nicht heisst, dass er in ihrem Besitz gewesen wäre. Er hatte einfach den Instinkt für Bullshit, und das Bedürfnis, diesen Bullshit anzuprangern. Er fände heute, nicht nur in der Türkei, eine lohnende Aufgabe. Und das macht ihn eigentlich aktueller als den postmodernen Fernseh-Bajazzo. Michel Foucault, der sich ausgiebig mit dieser antiken Tugend befasst hat, betont nachdrücklich die moralische Verpflichtung des Kynikers: „Genauer gesagt, ist Parrhesia eine verbale Aktivität, in der ein Sprecher seine persönliche Beziehung zur Wahrheit äussert und dabei sein Leben riskiert, weil er das Aussprechen der Wahrheit als Pflicht erkennt, um andere Menschen zum Besseren zu bekehren oder ihnen zu helfen (wie auch sich selbst). In Parrhesia verwendet der Sprecher seine Freiheit und wählt Offenheit statt Überzeugungskraft, Wahrheit statt Lüge oder Schweigen, das Risiko des Todes statt Lebensqualität und Sicherheit, Kritik anstelle von Schmeichelei, sowie moralische Pflicht anstelle von Eigeninteresse und moralischer Apathie.“
In diesem Sinne scheint es mir dringend geraten, das Erbe der Kyniker hochzuhalten. Wenn Diogenes jetzt leben würde, hätte er vielleicht dem beleidigten türkischen Staatsgockel die osmanischen Allüren ausgerupft und ihn der Öffentlichkeit vorgezeigt: Seht, auch nur ein zweifüssiges federloses Tier mit platten, aber scharfen Fingernägeln!