Alle bisherigen Friedensgespräche sind gescheitert. Der jüngste US-Plan für eine Waffenruhe hängt nach Netanjahus kategorischem Nein und der klaren Ablehnung seitens Hamas in der Luft. Die israelische Regierung hat keine Idee für eine Befriedung des Konflikts.
Am heutigen 7. Juni, acht Monate nach dem durch den Hamas-Überfall provozierten Ausbruch des Gazakriegs, schreibt der Kolumnist Amos Harel in der linksliberalen israelischen «Haaretz»: «Es gibt immer mehr Anzeichen, dass Israel auf ein multidimensionales Scheitern zusteuert.» Er warnt nicht nur vor einem drohenden Scheitern aller Vermittlungsversuche für eine Waffenruhe im Gazastreifen, sondern auch vor einer Eskalation des Konflikts mit der libanesischen Hizb-Allah-Miliz. Sollte sich die Lage da zuspitzen, müsste Israel damit rechnen, dass zumindest die Städte im nördlichen Landesteil (also u. a. Haifa) mit Raketenattacken von «nie gekannten Proportionen» rechnen müssten.
Der «Haaretz»-Autor hätte in seinem Rundumschlag auch noch erwähnen können, dass sich die Spannungen im Westjordanland immer häufiger und immer gewalttätiger entladen (Todesbilanz der vergangenen acht Monate: 550 Palästinenser) und dass die israelische Luftwaffe vor zwei Tagen mit der Tötung eines Generals der iranischen Revolutionsgarden auf dem Boden Syriens auch die Führung in Teheran wieder unter Zugzwang gesetzt hat. Iran wird – muss dies wohl schon aus internen Gründen – wieder reagieren. Wie und wann, ist offen, ebenso wie die Frage, ob der Konflikt mit Hizb-Allah eskalieren wird.
Spekulationen zur Entwicklung in der Region beiseite: Wir fokussieren hier auf das aktuellste Problem, den Gazakrieg.
US-Plan ohne Grundlage
Den von US-Präsident Biden veröffentlichten Plan für eine Waffenruhe hat Israels Premier Netanjahu zwar nicht offiziell, aber bei verschiedenen Gelegenheiten doch recht unmissverständlich zurückgewiesen. Und dies, obwohl Biden sich darauf berufen hatte, dass der Text «im Wesentlichen» israelischen Wünschen entsprochen habe.
Doch was heisst «israelische Wünsche»? Innerhalb jenes Triumvirats, das alle kriegswichtigen Entscheidungen trifft, also zwischen Premier Netanjahu, Verteidigungsminister Yoav Gallant und dem ehemaligen General Benny Gantz, gibt es Differenzen. Wer von ihnen hat den US-amerikanischen Präsidenten oder dessen Nahostfachleute mit den wichtigen Formulierungen in diesem Waffenruhe-Plan gefüttert?
Niemand von ihnen will sich dazu äussern, also bleiben die Unklarheiten bestehen. Letzten Endes geht es wohl um die Frage, ob Israel frei entscheiden kann, ob die Gegenseite, also Hamas, alle Forderungen und Erwartungen erfülle oder nicht. Wenn nicht, dann müsse Israel die Möglichkeit haben, den Krieg wieder aufzunehmen. So zumindest scheint Netanjahu zu argumentieren – immer mit dem Hinweis, seine Regierung habe sich gegenüber der eigenen Bevölkerung verpflichtet, Hamas als «militärische und politische Instanz» zu vernichten.
Dass Netanjahu sich dieses Ziel in den Kopf gesetzt hat, ist an sich, nach der Erfahrung vom 7. Oktober, verständlich – nur ist es nicht umsetzbar, wie die vergangenen acht Kriegs-Monate gezeigt haben. Schon die Parallel-Erwartung der Netanjahu-Regierung, dass man gleichzeitig die Hamas-Führung eliminieren und die israelischen Geiseln befreien könne, ist nicht realistisch. Und die oberste Führung von Hamas ist noch immer aktiv: Weder Yahya Sinwar noch Mohammed Deif, die als Drahtzieher der Massenmord-Aktion von vor acht Monaten gelten, wurden bisher gefunden.
Ungebrochene Hamas
Berichte von US-Geheimdiensten wollen wissen, dass von den Tunnels unter den zertrümmerten Städten des Gazastreifens lediglich 35 Prozent zerstört wurden und dass bei Hamas auch noch rund 60 bis 65 Prozent der Kämpfer aktiv seien. Lediglich die Kapazität der Hamas-Miliz, Israel mit Raketen zu bedrohen, sei geschrumpft – aber dort, wo Mannschaftsstärke durch die israelischen Truppen und die Luftangriffe deziminiert worden sei, dort hätten sich mindestens ebenso viele Gaza-Palästinenser in der Zwischenzeit für Hamas rekrutieren lassen wie jene, die gestorben seien.
Netanjahus Nein zum Waffenruheplan ist das Eine – ähnlich negativ äusserte sich auf der Gegenseite die Hamas-Führung. Sie besteht darauf, dass sie in eine Waffenruhe nur einwillige, wenn der Text das definitive Ende der Kampfhandlungen, nicht nur eine zeitlich befristete Periode ohne gegenseitige Angriffe, beinhalte.
Also: wieder einmal keine Einigung, sondern weiter so, mit dem alltäglich gewordenen Horror. Sam Rose, Mitarbeiter von UNRWA im Gazastreifen, kommentierte den letzten Luftangriff auf ein Schulgebäude (25 oder sogar mehr als 40 Tote) mit den Worten: «We have normalised horror», sinngemäss: der Horror ist alltäglich geworden. Und wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass in keiner der 300 von UNRWA bis zum 7. Oktober betriebenen Schulen in den letzten acht Monaten irgendein Unterricht habe stattfinden können. Was wohl bedeutet: Eine ganze Generation von Gaza-Palästinensern wird ohne Schulbildung bleiben. Kein gutes Omen für eine Zeit nach dem Krieg – oder ein ebenso verheerendes Omen wie die politischen und gesellschaftlichen Aussichten.
Schweigen zur dringendsten Frage
Im Blick auf eine solche Zeit – irgendwann wird sie ja wohl anbrechen (jeder Krieg hat einmal geendet, der Sechstagekrieg nach sechs Tagen, der dreissigjährige in Europa nach dreissig Jahren …) – lauten die Fragen an die Führung Israels: Wie stellen sich Netanjahu, Benny Gantz und andere Verantwortungsträger die Zukunft vor? Gantz hat von Netanjahu ultimativ bis morgen, also bis zum 8. Juni, eine Antwort auf diese Frage gefordert. Der Regierungschef hüllt sich in Schweigen.
Aber auch Benny Gantz hat bestenfalls schwammige Vorstellungen zu diesem Thema. Für eine Übergangszeit müsse das israelische Militär die Kontrolle behalten, sagte er kürzlich, und die zivilen Angelegenheiten könne man an lokale Persönlichkeiten übergeben, die innerhalb der palästinensischen Gesellschaft respektiert würden, von denen aber niemand Verbindungen zu Hamas habe.
Tönt ja gut – nur: die palästinensische Gesellschaft ist komplex, sie lässt sich nicht so einfach in die israelischen Pläne einspannen. Breit respektierte Clans gab es zwar in Gaza (zumindest vor dem Ausbruch des Kriegs, wie viele davon auch nur halbwegs noch intakt sind, weiss niemand), aber sie arrangierten sich mit Hamas, die seit 2006/2007 innerhalb der Bevölkerung von 2,2 Millionen die administrativen Kompetenzen an sich gerissen hatte.
Was die Zukunft betrifft, so wurden verschiedene Clan-Oberhäupter von den Israelis bereits kontaktiert – ihr Nein zu jeglicher Art von Kooperation mit einer israelischen Macht war überdeutlich. Und alle gaben indirekt zu verstehen: Nichts führt an der Tatsache vorbei, dass Hamas (oder allenfalls eine Gruppe, die sich anders nennt, aber ähnlich denkt und handelt) auch durch diesen Krieg nicht eliminiert wird.