Das Thema Familie ist ein psychologischer, soziologischer und natürlich auch philosophischer Dauerbrenner. Schon die aus der Antike stammende Formulierung, dass sie die „Keimzelle der Gesellschaft“ sei, bringt alle, die sich auf der Seite des Fortschritts wähnen, zur Weissglut. Denn für sie gibt es keine „natürlichen Ordnungen“, sondern nur gesellschaftliche Konstruktionen, hinter denen bestimmte Absichten stecken.
Stabilität und Geborgenheit
Diese Absichten gilt es natürlich zu entlarven, und die vermeintlich natürliche Ordnung gilt es umzukrempeln. Wolfram Eilenberger, Chefredakteur vom Philosophie Magazin, hat seinem Beitrag zur Familie aber die Formulierung vorangestellt: „Der Herd ist noch an.“
Dass die Familie kein Ort der Harmonie ist, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Aber man löst die mit ihr verbundenen Probleme nicht, indem man schlicht und einfach auf sie verzichtet. Denn es ist eine Illusion zu glauben, dass jeder Einzelne nur von sich selbst abhängt. Die Familie macht dies zuweilen schmerzhaft klar, auf der anderen Seite gibt sie eine Stabilität und Geborgenheit, die sich in anderen sozialen Konstellationen in dieser Weise kaum finden.
Genetische Prägungen
Eilenberger macht auf einen Punkt aufmerksam, der in den ideologisch gefärbten Diskussionen leicht übersehen wird, die genetische Prägung: „Der konstant enge Augenabstand über mehrere Generationen ist innerfamiliär jedenfalls ebenso wenig Zufall wie die missliche Tendenz zu frühen Geheimratsecken.“
Über diese Einsicht liesse sich lange philosophieren. Denn in der unentrinnbaren genetischen Prägung liegt eine der Voraussetzungen, die den Werdegang, die Entwicklung und das Schicksal einer Familie beeinflussen. Es handelt sich um ein höchst komplexes Zusammenspiel von genetischer Prägung und Partnerwahl, die über die Generationen immer wieder neu erfolgt. Dass dieses Gemisch konfliktträchtig ist, leuchtet ein. Schön formuliert Eilenberger: „Der enge Kontakt mit der Gesamtfamilie, beispielhaft in Form des alljährlichen Weihnachtstreffens, erscheint vor diesem Hintergrund wie ein freiwillig wiederholtes Desillusionierungsritual."
Wo ist Heimat?
Ähnliche Überlegungen stellt der Soziologe Dirk Becker in einem Interview an. Hart geht es in der Diskussion zwischen der Feministin Jona Hensel und dem Kulturwissenschaftler Andreas Breitbart über die Zukunft der Familie zu. Wie nicht anders zu erwarten, formuliert Hensel: „Die klassische Familie ist ein Einsamkeitsmodell geworden! Wir müssen andere Modell finden und aufwerten.“ Andreas Bernard sieht dagegen die Chancen für zukünftige Familien gerade vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Herausforderungen durch Gentechnik mit ihrer Substitution herkömmlicher Elternschaft.
Geradezu unverblümt klingt das Bekenntnis von Angela Alves, die laut Titelzeile 39 Jahre alt ist und „aus einer bildungsfernen Familie“ stammt: „Trotz der vielen kleinen und grossen Erniedrigungen ist Heimat für mich immer noch dort, wo den ganzen Tag RTL2 läuft, zum Frühstück gibt's Flips mit Tütenwein, und der Gottesdienst findet im Stadion statt.“
Stimmungen und Hass
Besonders interessant ist die Diskussion zwischen dem Soziologen Heinz Bude und dem Medienwissenschaftler Berhard Pörksen über die Frage, was „Stimmungen kippen“ lässt. Während Bude in der Stimmung etwas sieht, was einen Einzelnen oder eine Gruppe „überkommt“, betont Pörksen das manipulative Element, insbesondere auf der Seite der Medien.
Wird der heute so allgegenwärtige Hass künstlich erzeugt? Bude sieht in ihm eine Kompensation von Ohnmachtserfahrungen: „Ich hasse, also bin ich.“ Er erklärt: „Hass ist ein ungeheurer Stimmenverstärker. Er ist eine Droge. Das Kokain der Gefühlswelt.“ Pörksen stimmt ihm dabei zu und beschreibt zudem die eigentümliche Logik der Überbietung in den Medien: „Tausche Aggressivität gegen Publizität.“ Er erklärt: „Man denke nur an die Selbstskandalisierung des Prominenzprekariats, das beständig in der geschlossenen Anstalt des Privatfernsehens gegen Aufmerksamkeitsentzug ankämpft.“
Krieg und böse Leute
Ganz am Anfang des Heftes steht ein doppelseitiges Foto vom 20. Oktober 2016. Titel: „Ein irakischer Soldat im Gefecht gegen den Islamischen Staat, östlich der Stadt Mossul.“ Dazu ein Zitat von Immanuel Kant: „Der Krieg ist darin schlimm, dass er mehr böse Leute macht, als er deren wegnimmt.“ Dieses Zitat stammt aus der Schrift, „Zum ewigen Frieden“ von 1795.
Zum Konzept des Philosophie Magazins gehören zahlreiche weitere Beiträge, Einsprengsel und Aperçus. So stösst man auf ein Gespräch mit dem Philosophen Michael Tomasello über den Menschen als Sprachwesen, Thea Dorn schreibt über „Martin Luther und die Angst“, und in der Rubrik „Werkzeugkasten“ geht es unter anderem um die Frage, ob es den Weihnachtsmann gibt.
Philosophie Magazin, Nr. 01/2017, Dezember/Januar