Mit dem Film über Niklaus von Flüe, nach Wilhelm Tell und Arnold Winkelried der dritte und einzig historisch belegte nationale Identitätsstifter, ging Edwin Beeler ein Wagnis ein. Zwischen Wahrheit und Dichtung droht die Verirrung.
Grenzenlose Verehrung
Bruder Klaus (1417–1487) ist von mehreren Seiten mit einem Brett vor dem Kopf vereinnahmt worden. Je nach ideologischer Projektion war er tiefgläubiger Asket, friedensstiftender Staatsmann, erster Pazifist, Retter des Vaterlandes oder Gegner avant la lettre eines Uno- und EU-Beitritts der Schweiz. Je dünner die Faktenlage, desto üppiger die Spekulationen.
Bis der geschichtlich verbürgte Bruder vor lauter superlativen Zuschreibungen zum sagenumwobenen Gespinst wird. Weshalb auch immer Bruder Klaus die Verehrung gilt: Sie ist grenzenlos samt religiöser und patriotischer Verkitschung. Seit je und bis heute.
Schwierige Antwort
Zu welchem Lager also soll sich ein Regisseur bekennen, ohne mit den Anhängern anderer Observanz in Streit zu geraten? Und erst noch ist auch die Würdigung des Lebenslaufs heikel. Niklaus von Flüe war Bauer, Richter und Ratsherr, verliess 50-jährig seine Frau, seine fünf Töchter und fünf Söhne und zog sich als Eremit in den Ranft der Obwaldner Gemeinde Sachseln zurück. Dort wirkte es bis zu seinem Tod als Mystiker betend, ratgebend und der Überlieferung nach fastend in einer Holzhütte. Er gewann politischen Einfluss weit über die Heimat hinaus.
Angesichts des Ruhms verbietet sich beinahe die Frage, ob es sich um eine rücksichtslose, seinen Nächsten gegenüber grausame Selbstverwirklichung handelte. Oder ob es edel war, dem profanen Leben zu entsagen und gehorsam dem rufenden Gott zu folgen. Von der schwierigen Antwort hängt es ab, sich mit Bruder Klaus argwöhnisch zu befassen oder ihn freudig zu loben.
Offene Neugier
Der Luzerner Edwin Beeler, der sich als Filmschaffender mit der historischen Ausleuchtung der Zentralschweiz hohen Respekt erwarb, entschied sich für die offene Neugier. Er sieht in Bruder Klaus eine starke, widersprüchliche Persönlichkeit im Spannungsfeld von Huldigung, Überhöhung und Instrumentalisierung. Ein Heiliger wie andere auch. Doch so viel Unbefangenheit gibt es nicht.
Edwin Beeler ist seit Kindheitstagen mit Bruder Klaus vertraut. Er kennt ihn in der Pose des entrückten Einsiedlers auf Andachtsbildchen. Eine süssliche Erinnerung. Sie war für den Film zu überwinden. Fünf Jahre dauerte die Recherche in den Archiven. Experten bescheinigen dem Regisseur akribische Genauigkeit.
Allerdings können mittelalterliche Akten filmisch nur Ausgangsmaterial sein. Für bewegte und bewegende Bilder braucht es jenen künstlerischen Gestaltungswillen, den Edwin Beeler besitzt, hier unterstützt von Norbert Wiedmer an der Kamera, von Dieter Gränicher als Cutter und von Peter Sigrist, der die Musik komponierte.
Weisheiten in Hülle und Fülle
Der Dokumentarfilm Film beginnt mit Papst Johannes Paul II., der 1984 die Einsiedelei feierlich inszeniert besuchte. Mit diesem Archivmaterial wird die Bedeutung Bruder Klausens innerhalb der katholischen Welt sofort klar, jene ausserhalb erahnbar.
Zur Annäherung an den Mystiker kommen Theologen, Historiker, Politiker und einfache Gläubige zu Wort. Die «sprechenden Köpfe» sind, wie in aller Regel, keine kinematographischen Glanzlichter. Aber die Einschätzungen öffnen aussagekräftig das breite Spektrum der Meinungen, die sich über Bruder Klaus bildeten. Vom weisen staatspolitischen Visionär über den frommen Büsser bis zum wundersamen Heiler. Ein Idol, ein spiritueller Star, in Hülle und Fülle für sämtliche Lebens- und Gefahrenlagen Normen und Perspektiven liefernd.
Befreit von aller Verklärung
Das ist Erwin Beeler des Guten zu viel. Er nimmt die Zeugnisse als Chronist zur Kenntnis und konzentriert sich auf den Mystiker. Dieser Blick wird zur dramaturgischen Leitlinie. Bruder Klausens Visionen wie jene vom Turm und Brunnen interpretiert der Film durch einfühlsam gestaltete Landschaftsbilder.
Schön und packend. Als Impulse, sich zu Niklaus von Flüe und dem späteren Bruder Klaus eigene Gedanken zu machen, befreit von aller Verklärung und vom Siebten Himmel auf die Erde geholt.
Wir können mit dem Heiligen stehend Zwiesprache halten und nicht zwingend auf den Knien.
«Bruder Klaus» hatte 1991 Premiere aus Anlass des Rütlischwurs vor 700 Jahren. Jetzt und 75 Jahre nach der Heiligsprechung des Emeriten durch Papst Pius XII. wird die digitalisierte und restaurierte Fassung ab dem 15. Mai in Kinos in Zürich, Luzern, Zug, Stans und Sachseln gezeigt.