
Der frühere grüne Zuger Nationalrat und GSoA-Aktivist Jo Lang* äussert sich im Gespräch mit Reinhard Meier über den «ökonomischen Putinismus», bei dem die Schweiz und insbesondere der Kanton Zug eine zentrale Rolle gespielt hätten. Über in Zug domizilierte Firmen seien Milliardenbeträge in Putins Kriegskasse geflossen. Für Lang ist Putin eindeutig der Alleinverantwortliche für den Krieg gegen die Ukraine. Die Debatte in der Schweiz über Waffenlieferungen an die Ukraine hält er aber für ein Ablenkungsmanöver.
Journal 21: Im September ist ein langer Artikel in der «Frankfurter Allgemeinen» über die dichte Präsenz und den Einfluss von russischen Firmen im Kanton Zug erschienen. Überschrift: «Ein Grüezi für die Oligarchen». Die beiden FAZ-Autoren stützen sich dabei hauptsächlich auf Informationen, die sie von Dir während eines Rundgangs durch die Stadt Zug bekommen haben. Als Fazit wirst du mit der Aussage zitiert, die Schweiz sei ein «Zentrum des ökonomischen Putinismus». Durch den Handel mit russischen Rohstoffen seien speziell über den Kanton Zug Milliarden geflossen, die «letztlich Putins Kriegskasse gefüllt» hätten. Ist dieser Geldfluss zugunsten des Kremls auch nach dem Beginn des Ukraine-Krieges immer noch aktiv?
Jo Lang: Heute ist das nicht mehr in diesem Ausmass der Fall. Allerdings fliessen auch nach Putins Überfall auf die Ukraine immer noch Gelder aus Firmen, die in Zug und Genf domiziliert sind, nach Russland. Aber entscheidend ist doch die Tatsache, dass Putin den Krieg mit Beträgen aus seiner vollen Kriegskasse beginnen konnte, die ihm teilweise aus der Schweiz zugeflossen sind. Ebenso fragwürdig ist es, dass in Russland immer noch Waffen mit Maschinen produziert werden, die aus der Schweiz geliefert wurden. Die Debatte um die Sanktionierung Russlands hat den Schwachpunkt, dass dabei fast alles ausgeblendet wird, was vor dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 gelaufen ist.
Es gab in Zug etwa 400 Firmen mit russischer Beteiligung
Du sprichst im erwähnten FAZ-Artikel auch davon, dass sich die Anzahl von russischen Bürgern, die sich in Zug niedergelassen haben, seit 2005 verfünffacht habe. Und es sollen rund 400 russische Firmen im Kanton Zug registriert sein. Sind diese Zahlen heute noch gültig?
Es gab in Zug etwa 400 Firmen mit russischer Beteiligung. Aber es gibt hier auch Firmen, die nichts mit russischen Besitzern zu tun haben, zum Beispiel das Rohstoff-Unternehmen Glencore. Glencore hat im Dezember 2016, als in Putins Staatskasse wegen der westlichen Sanktionen im Zusammenhang mit der Krim-Annexion Knappheit herrschte, gemeinsam mit dem katarischen Staatsfonds 11 Milliarden Dollar in die Firma Rosneft investiert, die vom russischen Verteidigungsministerium kontrolliert wurde.
Wie viele russische Firmen heute noch in Zug aktiv sind, kann ich nicht genau sagen. Es gibt einzelne Firmen, die im Zusammenhang mit den von der Schweiz übernommenen EU-Massnahmen sanktioniert wurden.
Die Firma «Nord Stream 2», die die Gaspipelines durch die Nordsee gebaut hat, ist immer noch im zugerischen Steinhausen registriert. Ist als Vorsitzender weiterhin der frühere deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder im Amt?
Ja. Die Firma «Nord Stream 2» hat inzwischen die vierte Nachlassstundung von einem Zuger Einzelrichter bekommen. Auffallend ist dabei, dass der frühere Geschäftsführer Matthias Warnig, ein ehemaliger Stasi-Kader und persönlicher Putin-Freund, inzwischen ausgestiegen ist. Die Büros in Steinhausen sind verwaist. Ich verstehe eigentlich nicht, weshalb die Firma Nachlassstundung beantragt hat und warum sie diese Stundungen bekommen hat. Ich denke, dass diese Firma nur noch eine Hülle ist ohne Substanz.
«Die Zuger Willkommenskultur nennen wir Willfährigkeitskultur»
Du und deine Partei, die Grünen, kritisieren schon lange die sogenannte Willkommenskultur für umstrittene ausländische Firmen in Zug. Der Zuger Regierungsrat und Finanzdirektor Heinz Tännler hat diese Praxis im Gespräch mit den FAZ-Journalisten verteidigt. Sie sei nützlich für den Kanton und bewege sich im Rahmen der Gesetze. Wird diese Willkommenskultur auch nach dem Ausbruch des Ukraine-Krieges weiter gepflegt?
Diese Kultur funktioniert schon lange. Auch als die Firma «Crown Resources», die der russischen Alfa-Gruppe gehört, im Jahr 2002 eine riesige Ölkatastrophe zu verantworten hatte, wurde diese Firma von der Regierungsmehrheit aus den Parteien Mitte, SVP und FDP verteidigt.
Ein Beispiel dieser «Willkommenskultur» – wir Grünen nennen sie «Willfährigkeitskultur» – ist der Umgang mit dem russischen Multimilliardär Andrei Melnitschenko, dem Hauptbesitzer der Firma Eurochem. Diese Firma ist der grösste Hersteller mineralischer Dünger in Russland. Sie hat ihre Büros im Gebäude der Zuger Kantonalbank. Die Schweizer Grossbanken weigerten sich im April 2022, Eurochem weiterhin Kredite zu geben. In einem ersten Schritt gelangte darauf die Firma an die Zuger Volkswirtschaftsdirektion, die von einer Mitte-Vertreterin geführt wird, und bat um Unterstützung für Ersatz-Kredite durch die Zuger Kantonalbank. Dieses Departement gibt die Bitte weiter an die vom SVP-Politiker Tännler geführte Finanzdirektion, die auch für die Zuger Kantonalbank zuständig ist. Tännler telefoniert dann mit den zuständigen Leuten der Kantonalbank und sagte, sie sollten sich die Bitte einmal anschauen. Offiziell ist es zwar ein Geheimnis, ob der Kredit zustande gekommen ist, aber in Zug gehen alle davon aus, dass die Kantonbalbank der Bitte der Melnitschenko-Firma entsprochen hat.
Sind die Gelder Melnitschenkos in der Schweiz inzwischen blockiert, nachdem die EU und die Schweiz ihn auf die Sanktionsliste gesetzt haben?
Andrei Melnitschenko hat auf die Sanktionierung mit einem Trick reagiert, indem er die Firma auf seine Frau überschrieb. Und das ist vom Seco anfänglich akzeptiert worden. Daraufhin hat die EU auch Alexandra Melnitschenko sanktioniert. Der Bundesrat reagierte mit einem Trick namens «ring-fencing». Eurochem wird nicht sanktioniert, sofern die Besitzerin keinen Profit daraus zieht. Allerdings wird das Ring-Fencing aus dem Parlament in Frage gestellt.
Das ist auch eine Folge des stärkeren Drucks aus dem Ausland, vor allem aus den USA. In Zug gibt es fünf Firmen, die im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg sanktioniert sind. Und alle diese Firmen wurden letztlich auf Druck der USA sanktioniert.
Es sind die folgenden Firmen: Die Adorabella AG Zug und Chlodwig Enterprises AG Zug (beide sind Ableger von Trusts, die Andrei Grigorewitsch Guerjew gehören, einem engen Vertrauten von Putin); die Tamyna AG (sie gehört zur Moretti-Gruppe, zu deren Spezialitäten zählt die Beschaffung von Technologien für russische Atomwaffenlabors); die BitRiver AG (Beschaffung von Finanzmitteln für Russland über die Entwicklung und den Einsatz von Crypto-Währungen); Metalloinvest Trading AG in Cham (gehört Alisher Usmanow, ehemaliger Kopf der Gazprom Investment Holding, ehemaliger Mitbesitzer von Arsenal und einer der Hauptgegner von Nawalny).
Der Oligarch Wechselberg hat seinen offiziellen Wohnsitz in Zug
Hat jetzt der Kanton Zug wegen der Sanktionen gegen verschiedene Firmen nicht ein Problem mit den Steuereinnahmen – kommt nun weniger Geld in die Staatskasse?
Nein, das Gegenteil ist der Fall, dies aus zwei Gründen. Erstens, all die Rohstofffirmen in Zug machen wegen der gestiegenen Preise insbesondere wegen des Ukraine-Krieges mehr Gewinn. Zum Beispiel ist der Gewinn von Glencore von 2021 auf 2022 von 5 auf 17 Milliarden gestiegen. Der zweite Grund: Mit der Einführung der OECD-Mindeststeuer werden die Steuereinnahmen zusätzlich steigen. Deshalb wird jetzt in der Regierung die Idee diskutiert, den betroffenen Firmen einen Teil dieser zusätzlichen Steuern zurückzubezahlen. Die Frage ist allerdings, ob die OECD eine solche Rückzahlung akzeptieren würde.
Einer der bekanntesten Oligarchen Russlands, Viktor Wechselberg, hat seit 2013 seinen offiziellen Wohnsitz in Zug, vorher war dieser Wohnsitz in Zürich. Ist das glaubwürdig, dass er tatsächlich hier wohnt?
Im Unterschied zu den Nord-Stream-Notablen Warnig und Schröder ist mir Wechselberg in der Öffentlichkeit nie begegnet. Es gab ja früher in der Regierung einen Streit um diese Wohnsitz-Registrierung. Der freisinnige Volkswirtschaftsdirektor war dafür, die grün-alternative Direktorin des Innern hat dagegen Beschwerde eingereicht. Ein Zuger Gericht hat dann diese Beschwerde abgelehnt. Aber vor nicht allzu langer Zeit hat ein Gericht die behauptete Zuger Wohnsitz-Deklaration des früheren Novartis-Chefs Vasella in Monaco viel strenger überprüft (mit Hilfe von Stromrechnungen und Kaffee-Kapseln im Abfall am angeblich nicht benützten Zuger Wohnsitz) und die entsprechende Wohnsitz-Erklärung im Ausland zurückgewiesen. Da wird also offenbar nicht mit gleichen Ellen geprüft.
Zurück zum Thema der Firmen Nord-Stream 1 und 2, die ihren Sitz in Zug haben. Vor einem Jahr sind die die vier Pipelines, die Gas von Russland über die Nordsee nach Deutschland bringen sollten, gesprengt worden. In den Medien ist ein grosses Spekulieren darüber im Gange, wer hinter dieser Sprengung stehen könnte.
«Nordstream war für uns Grüne immer ein Machtinstrument von Putin»
Wir Grünen in Zug haben die Nord-Stream-Unternehmungen immer als ein Machtinstrument von Putin kritisiert und wir haben deshalb schon vor dem Ukraine-Krieg mehrfach gegen deren Präsenz in unserem Kanton demonstriert.
Insbesondere waren diese Nordsee-Pipelines ja auch ein Machtinstrument gegenüber der Ukraine. Denn mit den Gaslieferungen via Ostsee wurde die Bedeutung der alten Pipelines über die Ukraine und Polen stark reduziert, auf lange Sicht möglicherweise bedeutungslos. Entsprechend reduzierten sich die Transiteinnahmen für russisches Erdgas in diesen beiden Ländern.
Als Grüne haben wir diese Zusammenhänge durchaus registriert. Wir haben nach der Verhaftung des russischen Oppositionellen Nawalny im Januar 2021 in Zug gefordert, den Weiterbau des Nordstream-2-Projekts zu stoppen. Denn schon im Januar 2006 hatte Putin einen Erdgas-Krieg gegen die Ukraine geführt, indem er die Lieferungen an dieses Nachbarland zeitweise aussetzte. Die wichtigste russische Firma für diesen Krieg war die RosUkrEnergo, die damals ihren Sitz in Zug hatte.
Ausserdem haben wir beobachtet, dass es ab Anfang 2006 im Kanton Zug eine Welle neuer Firmengründungen gab. Und damit im Zusammenhang stand die Beobachtung, dass die alten Stasi-Seilschaften aus DDR-Zeiten und deren lokale Verbindungsleute in Zug wieder aktiv geworden waren. Das war für uns ein Hinweis, dass Putin dabei war, über diese Verbindungen seine Geschäfte im Westen verstärkt auszubauen. Geschäftsführer von Nord-Stream-2 in Zug wurde neben dem Verwaltungsratspräsidenten Gerhard Schröder der alte Stasi-Kadermann Manfred Warnig, der zum engen Freundeskreis um Putin zählte.
«Die grösste Niederlage für den Pazifismus ist der Sieg eines Kriegsherrn»
Wenn sich herausstellen sollte, dass die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines von der Ukraine organisiert worden ist, könnte man da nicht argumentieren, dass ein solcher Anschlag auf diese russischen Devisenquellen moralisch durchaus zu rechtfertigen wäre? Schliesslich führt ja Russland seit mehr als anderthalb Jahren einen mörderischen Krieg gegen die Ukraine, jeden Tag werden russische Städte und Dörfer bombardiert oder beschossen.
Ich weiss zwar nicht, wer die Pipelines gesprengt hat. Aber es ist richtig: Falls es die ukrainische Seite war, wäre das legitim. Eine solche Sprengung wäre im Grunde eine Verwirklichung unserer Forderung, das Nord-Stream-2-Projekt zu stoppen. Und spätestens nach der Krim-Annexion 2014 war doch klar, dass Putin die Existenz der Ukraine grundsätzlich in Frage stellte.
Bist du als grüner Politiker und Aktivist der pazifistischen Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) dafür, dass man der Ukraine nach dem russischen Überfall auch Waffen liefert?
Die grösste Niederlage für den Pazifismus und für den Frieden ist der Sieg eines Kriegsherrn. Die Friedensbewegung war vor Jahrzehnten auch gegen den Sieg des Kriegsherrn USA. Deshalb wurde in der pazifistischen Linken damals das Recht Vietnams, sich gegen Amerikas Krieg in diesem Land zu wehren und dafür chinesische und russische Waffen zu bekommen, kaum von jemandem in Frage gestellt. Diese Vietnam-Analogie auf die Ukraine übersetzt heisst: Die grösste Niederlage für den Frieden und für den Pazifismus wäre ein Sieg des Kriegsherrn Putin. Und ohne Waffen aus Nato-Ländern würde Putin gewinnen oder hätte schon gewonnen.
Das heisst, für dich ist Putin gegen die Ukraine ganz klar der Kriegstreiber. Aber ist diese Sicht unter den Grünen und in der GSoA allgemein akzeptiert?
In diesen beiden Gruppierungen gibt es ganz wenige, die in Frage stellen, dass Putin nicht nur der Hauptverantwortliche, sondern der Alleinverantwortliche ist für diesen Angriffskrieg ist. Und dass es falsch ist, auch der Nato dafür eine Schuld zu geben. Aber es gibt in der Schweiz schon Kräfte, die das anders sehen. Doch drei Viertel von denen, die das anders sehen, zählen politisch zu den Rechten, ein Viertel zu den Linken.
Allerdings meine ich, dass Putin in den ersten Jahren seiner Präsidentschaft von westlicher Seite allzu sehr unterstützt und in den «War on Terror» eingemeindet wurde, als seine Macht überhaupt noch nicht konsolidiert war. Als Putin im Oktober 2002, ein Jahr nach dem Terroranschlag von 9/11, in Zug im Beisein von Gorbatschow ein Friedenspreis in absentia verliehen wurde, war bei der feierlichen Übergabe auch der amerikanische Botschafter anwesend. Putin konnte nicht zuletzt im Rahmen des von den USA deklarierten «War on Terror» seine Macht in Russland stabilisieren. Dafür war der Sieg im Tschetschenienkrieg, den Putin mit unglaublicher Rücksichtslosigkeit führte, entscheidend.
Armeeabschaffung – immer noch ein Ziel?
Hinzu kommt ein weiterer Faktor. In jenen Anfangsjahren von Putins Präsidentschaft gab es auch deren wirtschaftliche Westexpansion. Es kam zu einer eigentlichen Fusion von KGB-Kapitalismus und Teilen des westlichen Fossil- und Finanzkapitals. Auch dadurch wurde seine Herrschaft gestützt. Es floss sehr viel Geld über diese Westgeschäfte nach Russland und damit auch in Putins Kriegskasse. Darin liegt die Mitverantwortung des Westens für die Stabilisierung von Putins Macht.
Nochmals zurück zur pazifistischen Grundhaltung: Bist du nach dem russischen Überfall auf die Ukraine immer noch dafür, dass man in der Schweiz die Armee abschaffen sollte?
Im März 2022 hat der ETH-Professor für Sicherheitspolitik, Mauro Mantovani, aufgrund der schweren damaligen Rückschläge der russischen Armee in der Ukraine erklärt, das Risiko, dass russische Soldaten an den Bodensee vorrücken könnten, sei noch nie so gering gewesen. Er hat das militärisch begründet: Eine Armee, die nicht einmal in der Lage war, Kiew einzunehmen, könne keine akute Gefahr für den Westen sein.
Heisst das für die Pazifisten in der Schweiz, dass auch Deutschland oder Polen oder andere Nato-Länder ihre Armee abschaffen könnten?
Nein, bei der Diskussion über eine Schweiz ohne Armee ging es immer um die Verhältnisse in der Schweiz. Unser Kernargument lautet: Die Schweiz befindet sich in einer Situation, in der sie sich eine Abschaffung der Armee leisten kann. Davon könnte eine positive, beispielhafte Ausstrahlung in der Welt gegen Krieg und militärische Gewalt ausgehen. Wir haben nie gesagt, dass auch andere Länder diesen Schritt tun könnten.
Die Konsequenz wäre dann, dass die Schweiz vollständig auf den Schutz durch umliegende Länder und den Nato-Schutzschirm angewiesen wäre.
Ja, das gestehe ich zu. Aber die Frage ist doch die folgende: Steht die ganze Aufrüstungsdebatte, die heute stattfindet, nicht im Widerspruch zu dem, was die russische Armee in der Ukraine gezeigt hat? Die russische Armee agiert zwar unheimlich barbarisch. Dennoch erweist sich die russische Armee als zu schwach, um für den Westen eine grössere Gefahr geworden zu sein.
Trotzdem stellt sich auch für die Grünen und für dich die Frage: Bist du dafür oder dagegen, dass die Schweiz heute Waffen an die überfallene Ukraine liefert – und ist es richtig, dass die Schweiz verhindert, dass schon verkaufte Waffen an andere Länder an die Ukraine geliefert werden?
Meine Antwort lautet zunächst: Ich habe Verständnis für alle Leute, die Schweizer Waffenlieferungen an die Ukraine befürworten. Aber gleichzeitig muss man festhalten: Rein neutralitätsrechtlich darf die Schweiz keine Waffen an die Ukraine liefern, auch nicht indirekt über andere Staaten. Und praktisch alle Staatsrechtler, mit Ausnahme von Herrn Cotier, teilen diese Auffassung.
Dagegen wird das Argument vorgebracht, dass laut Uno-Charta das Recht auf Verteidigung gegen Angriffe von aussen eingeräumt wird. Die Ukraine ist klar überfallen worden. Kann man unter Berufung auf die Uno-Charta nicht das Recht zur Waffenhilfe an dieses Land ableiten?
Nein, man kann nicht mit der Uno-Charta das Neutralitätsrecht aushebeln. Und was die Schweiz an Militärhilfe leisten könnte, ist ohnehin nur sehr marginal. Der Hebel, mit dem die Schweiz der Ukraine effizient und wirksam helfen kann, ist das Geld. Ich bringe nur ein Beispiel. Die 12’500 Schuss Munition für den Gepard-Panzer zur Flakabwehr, die die Schweiz an die Ukraine hätte liefern sollen, hat den Gegenwert von 0,8 Promille der 11 Milliarden Dollar, die das Zuger Rohstoffunternehmen Glencore im Dezember 2016 Putin in die Kriegskasse transferiert hat.
Schweizer Finanzhilfe an die Ukraine wichtiger als Waffen-Hilfe
Meine These ist deshalb: Die Debatte um Waffenlieferungen der Schweiz an die Ukraine ist eine Ablenkung von der zentralen Geldfrage, bei der die Schweiz im Zusammenhang mit dem Putin-Regime involviert ist. Für mich stellt sich die Frage: Könnte Putin ohne all die Abermilliarden, die über die Schweiz nach Russland geflossen sind, überhaupt diesen Krieg noch finanzieren?
Und zweitens, diese Waffendiskussion lenkt ab von dem, was die Schweiz machen könnte und machen müsste: nämlich grosszügige Finanzhilfe. Ein kürzlicher Vorstoss im Parlament, an dem der grüne Ständerat Mathias Zopfi massgeblich beteiligt war, zu einem finanziellen Hilfsprogramm für die Ukraine im Umfang von fünf Milliarden Franken für die nächsten fünf bis zehn Jahre, ist leider abgelehnt worden. Dabei wäre eine solche Unterstützung für humanitäre Hilfe und den Wiederaufbau viel wichtiger, als die rechtlich und politisch umstrittenen Waffenlieferungen an die Ukraine.
Noch eine Frage zu den bevorstehenden nationalen Wahlen in der Schweiz. Die Prognosen für die grüne Partei sehen im Moment nicht so rosig aus. Was könnte der Grund sein für die vorausgesagten Mandatsverluste deiner Partei gegenüber dem Ergebnis von 2019?
Also zuerst muss festgehalten werden: Vor vier Jahren haben die Grünen einen massiven Sprung nach vorn gemacht. Wir haben 17 Sitze dazu gewonnen. Nach einem derart riesigen Sprung muss man damit rechnen, dass vielleicht drei, vier Sitze wieder verloren gehen. Vor vier Jahren dominierten klar zwei Themen: Die Klima-Frage und die Frauen-Frage. Aber diese zwei Themen sind weiterhin aktuell und können Wähler mobilisieren, das hat man bei den zwei grossen Demonstrationen kürzlich in Bern gesehen. Der Punkt ist aber, dass zu diesen zwei zentralen Themen weitere Fragen hinzugekommen sind, die die Öffentlichkeit stark beschäftigen: Die soziale oder Kaufkraftfrage ist dringlicher geworden, dann der CS-Skandal und die akuter gewordene Migrationsfrage.
Aber die Umfragen, die zum Beispiel vom «Tagesanzeiger» kürzlich veröffentlicht wurden, beziehen sich auf Erhebungen, die vor der überraschend grossen Klima-Demonstration in Bern durchgeführt wurden. Deshalb schliesse ich nicht aus, dass die grüne Partei am Wahltag vom 22. Oktober eher besser abschneiden wird, als diese Prognosen das vorgesehen haben.
*Jo (Josef) Lang, geboren 1954, ist Historiker, er war von 1982 bis 2011 Stadt-, Kantons und Bundesparlamentarier für Zug, Mitglied des GSoA-Vorstandes (Gruppe für die Schweiz ohne Armee). 2020 ist im Hier und Jetzt Verlag sein Buch «Demokratie in der Schweiz, Geschichte und Gegenwart» erschienen. Jo Lang lebt heute in Bern.