Es ist ein altes indisches Sprichwort: „Für einen Mann mit einem Hammer sieht jedes Problem wie ein Nagel aus.“ Es hat seine Aktualität nicht eingebüsst, wenn seine Erwähnung in den Zeitungen des Landes am Mittwoch ein Indiz ist. Am Tag nach der Ankündigung einer 21-tägigen Schliessung der Republik durch Premierminister Narendra Modi kam sich fast jeder Inder wie ein Nagel vor, der einen Hammerschlag auf den Kopf bekommen hat.
Unausweichlichkeit
Es war nicht das erste Mal. Bereits vor dreieinhalb Jahren hatte Modi seine 1,3 Milliarden Mitbürger, einschliesslich des gesamten Staatsapparats, mit der Ankündigung überrascht, dass vier Stunden später 85 Prozent ihres Bargelds nur noch Altpapier sein würden. Schon damals hatte er dieses Opfer verlangt, um ein noch schlimmeres Übel – die Korruption – auszurotten. Die Rosskur erwies sich als weit schlimmer als die Krankheit, denn sie drosselte die Wirtschaftstätigkeit so rigoros, dass sich diese bis heute nicht davon erholt hat.
Diesmal war zumindest die Notlage jedermann klar: Das Coronavirus hat Indien bisher verschont, zumindest wenn man die Zahl der getesteten Krankheitsfälle anschaut. Nun aber, mehr als einen Monat nach Auftauchen der ersten Infizierung am 31. Januar, zeichnet sich ab, dass Indien der Pandemie nicht entgehen wird.
Also sind Massnahmen nötig. Doch gut Ding will Weile haben, gerade in Indien. Nach der sofortigen Einführung von Grenzkontrollen vergingen weitere fünf Wochen, bis die Regierung Massnahmen im Land selber anordnete. Am 8. März kam die erste offizielle Notifizierung heraus. Dann dauerte es bis zum 18. März, bis etwa die Hersteller von Schutzmasken, Schutzanzügen, Brillen und Handschuhen eingeladen wurden, Offerten einzureichen.
Erster Probelauf
Es war der Tag nach der ersten Ansprache an die Nation durch Premierminister Modi, in der er das Land aufrief, sich gegen die Pandemie zu wappnen. Und wie genau? Alle Inder sollten am Sonntag darauf zu Hause bleiben und damit „social Distancing“ üben. Um fünf Uhr abends sollten sie dann auf die Strassen strömen und sich mit dem Schlagen von Kochdeckeln, Pfannen und Kellen gegenseitig Mut machen.
Es war ein voller Erfolg, und allseits wurde das Scheppern der Blechtrommeln, das landesweit zum Himmel stieg, auch als eine Hommage an den Vater der Nation angesehen, der das Volk einmal mehr hinter sich geschart hatte.
Auch kritische Beobachter waren beeindruckt. Sie sahen im freiwilligen „Homestay“ einen ersten Probelauf, mit dem die Disziplin des Landes und die Autorität ihres Lenkers geprüft werden sollte. Und als am Montag eine weitere Rede Modis angekündigt wurde, erwarteten viele praktische Hinweise, wie sich Staat und Gesellschaft dem drohenden Tsunami zu stellen hätten.
Der Hammerschlag
Stattdessen kam ein Hammerschlag: Wiederum um acht Uhr abends informierte der Premierminister seine vielen Millionen Zuschauer, dass das Land innert vier Stunden zum Stillstand kommen werde, und dies für die nächsten 21 Tage. Industrie und Handel, Bau- und Transportwesen, Schulen und Geschäfte, Veranstaltungen und Tempelfest würden schliessen; nur die Grundversorgung mit Nahrung und medizinischen Diensten sowie Verwaltung und Polizei seien ausgenommen.
Dies, so Modi, sei der einzige Weg, körperliche Nähe zueinander zu vermeiden und damit der fatalen Ansteckung zu entgehen. Ein bisschen „inconvenience“ sei es wert, wenn man dabei sichere „devastation“ vermeiden könne. Von konkreten Massnahmen war nicht die Rede.
Die Reaktion liess dennoch nicht auf sich warten. Noch bevor die Rede zu Ende war, strömten die Menschen in Massen in die Läden, die noch geöffnet waren. Es war ein derartiger Ansturm, dass Modi seinem Fernsehauftritt einen Tweet folgen lassen musste, in Grossbuchstaben: „THERE IS ABSOLUTELY NO NEED TO PANIC.“
Panik
Die Panik hatte allerdings bereits am Tag vor der Rede eingesetzt. Gerade die Armen hatten ihre Erfahrung mit dem Premierminister gemacht und wollten keine Risiken eingehen. Zu Hunderttausenden drängten in den grossen Metropolen Arbeitsmigranten auf die Bahnsteige, um noch einen Zug heim ins Dorf zu erwischen.
Für viele war es bereits zu spät. Ein Video aus Pune zeigt einen Zug, der in den Hauptbahnhof einfährt, vorbei an einem Meer von Menschen, die sich bis an den Rand des Bahnsteigs drängen. Viele von ihnen klatschen, froh darüber, dass der Zug endlich eingetroffen ist. Doch er kommt nicht zum Stehen, sondern fährt langsam an ihnen vorbei – er ist bereits zum Bersten voll.
Am Morgen nach Modis Rede war der Zugverkehr eingestellt und die Bahnsteige gähnend leer. Auf den Ausfallstrassen der Grossstädte gab es keine Fahrzeuge mehr, dafür waren sie voller Menschen. Mit einem Bündel auf dem Kopf, einer Rückentasche, manchmal einem Kind auf der Achsel, waren sie auf dem Weg nach Hause – zu Fuss.
Produktionsstopp
Wie beim Banknotenverbot vor dreieinhalb Jahren war praktisch niemand auf die Guillotine eines radikalen Wirtschaftsstopps vorbereitet. Der Premierminister erhielt sogleich Lob von der WHO, die vermutlich nicht wusste, dass selbst die Verwaltung darauf nicht vorbereitet war. Die Polizei wusste nur, dass niemand auf die Strasse durfte.
Am nächsten Morgen flimmerten Bilder über die TV-Schirme, in denen Zivilisten auf der Strasse von der Polizei mit Bambusstöcken malträtiert wurden, weil sie das „Ausgehverbot“ missachtet hatten. Darunter befanden sich ärztliches Hilfspersonal und Angestellte von Lebensmittelläden auf dem Weg zur Arbeit. Es war fast wörtlich der Hammer, der seinen Nagel gefunden hatte.
Auch Lastwagen wurden aus dem Verkehr genommen, obwohl sie Lebensmittel transportierten. Nahrungsmittelfirmen wie Nestlé und Godrej Consumer Products mussten trotz Betriebserlaubnis ihre Produktion in vielen Fabriken einstellen, da die Arbeiter, sei es aus Angst oder Konfusion, zu Hause blieben. Viele Lebensmittelgeschäfte blieben geschlossen.
Drohender Hunger
Am Mittwoch wandte sich Modi erneut an die Nation. Auch diesmal war er sparsam mit praktischen Ratschlägen. Jede (Mittelklasse-)Familie solle für die nächsten 21 Tage neun „bedürftige Menschen“ adoptieren, gehörte dazu. Im Übrigen hatte er nur Schelte übrig für seine Mitbürger. Sie sollten der Polizei und Verwaltung zu Hilfe kommen und diese nicht noch mehr belasten.
Wie anderen Autokraten auf der Welt scheint auch Modi die Empathie dafür abzugehen, was die „Inconvenience“ der sozialen Distanz für Menschen bedeutet, die oft zu acht in einem einzigen Zimmer leben müssen und für die jede verlorene Arbeitsstunde lebensbedrohend ist.
Die Behauptung des Ministerpräsidenten, Covid unterscheide nicht zwischen Reich und Arm, steht jedenfalls auf wackligen Füssen. Für Millionen von Bürgern ist die „Devastation“ durch das Coronavirus keine bedrohlichere Alternative als der Verlust von Arbeit. Der Korrespondent der New York Times zitierte am Mittwoch eine Frau aus einem Delhi-Slum: „Wenn uns das Coronavirus nicht tötet, wird es der Hunger sein.“
80 Prozent von Indiens Werktätigen gehören dem sogenannten Informal Sector an. Es sind Menschen, die keinen Lohn beziehen, sondern einer eigenen Beschäftigung nachgehen oder sich als Tagelöhner verdingen. Sie haben praktisch keine soziale Absicherung und sind daher von einer Schliessung der Wirtschaftstätigkeit direkt betroffen. Für sie ist daher die Gesundheitskrise zunächst eine ökonomische Krise.
Vernachlässigte Infrastruktur
Es wäre allerdings unfair, Modis Äusserungen allein als Massstab für Indiens Pandemie-Abwehr zu nehmen. Inzwischen hat sich eine Task-Force unter der Finanzministerin gebildet, die ein Massnahmenpaket in der Höhe von rund 24 Milliarden US-Dollar vorschlägt. Darunter finden sich auch Barzahlungen an Bedürftige, eine Erhöhung der Vergütungen für Arbeitslose auf dem Lande, Gratis-Verteilung von Kochgas-Zylindern, Bürgschaften für Darlehen an Frauen-Selbsthilfegruppen, Verdoppelung der Rationen bei freien Schulmahlzeiten.
Dazu kommt ein Versicherungsschutz für staatliche Angestellte in Hygiene- und Sozialberufen. Eingeschlossen sind die Sozialhelferinnen, die in Indien als „Ashas“ bekannt sind und in den Dörfern die erste Anlaufstation für staatliche Hilfeleistungen sind. Sie sollen eine Krankenversicherung erhalten. Wird die Epidemie im ländlichen Indien ausbrechen, werden sie die am direktesten geforderten – und gefährdeten – Personen sein.
Das implizite Eingeständnis, dass die Ashas bisher noch nicht einmal versichert waren, zeigt, in welchem Mass der indische Staat selbst seine eigene Infrastruktur vernachlässigt hat. Eine weitere Zahl mag dies illustrieren: Jährlich sterben im Land 400’000 Menschen an Tuberkulose. Dennoch gibt es weder Schutzmassnahmen noch ein öffentliches Bewusstsein darüber, und in den Zeitungen sind die Opfer kaum eine Notiz wert.
Dies lässt auch für die Opfer einer Coronavirus-Pandemie nichts Gutes ahnen: Die meisten werden zweifellos arme Menschen in Slums oder Dörfern sein. Sie werden vermutlich nur in einer Statistik erscheinen. Wenn sie denn überhaupt als Opfer des Virus erfasst worden sind.