Einmal mehr bot Indien letzte Woche ein bizarres Trauerspiel, als müsse es beweisen, dass jede Kategorie von politischer und sozialer Logik jederzeit über den Haufen geworfen werden kann.
Im Mittelpunkt stand Ram Rahim Singh, ein vollbärtiger Guru, der mit grellen T-Shirts über dem prallen Bierbauch in seinen eigenen Filmen agiert, durch die Lüfte jagt, mit Motorrädern auf meterdicken Pneus den Himalaya erstürmt und lachend Nuklearbomben wie Bonbons gegen den Feind schmeisst. Die Pointe: Die Filme sind Teil einer Endlos-Serie unter dem Titel MSG – Messenger Sent by God.
Gottes Gesandter vor Gericht
Dazu passt noch einigermassen, dass dieser Gottgesandte am Freitag von einem Gericht in einem Vorort von Chandigarh wegen Vergewaltigung gegen zwei junge Frauen verurteilt wurde. Aber wie erklärt sich, dass eine Mehrheit der über hunderttausend Anhänger, die zum Gerichtstermin gereist waren, um ihrem Guru moralische Unterstützung zu geben – Frauen waren?
Doch waren es Frauen, die nach Bekanntwerden des Schuldspruchs in eine Massenhysterie gerieten und alles kurz und klein schlugen, was ihnen in den Weg kam? Und wie ist es zu erklären, dass alle 36 Todesopfer und die grosse Mehrheit der Verletzten Sacha Sauda-Anhänger waren, wie die Sekte von Ram Rahim heisst?
Bis heute lässt sich – aus meiner Distanz zu den Geschehnissen – lediglich feststellen, dass die allermeisten Anhänger vor dem Gerichtsurteil diszipliniert ausserhalb des Polizeikordons sassen, dass eigene oder inflitrierte Agents provocateurs selbstgebastelte Brandbomben gegen Gebäude und Autos warfen und dass die Sicherheitskräfte überreagierten, indem sie mit scharfer Munition in die Menge schossen.
Sinnvolle Massenkampagnen
Zweifellos spielte ein Schockeffekt mit, denn die Sacha Sauda Dera (Dera bedeutet so etwas wie Ashram im Panjabi) war bisher nicht bekannt dafür, dass sie ihre Anhänger zu Gewalt anstiftet. Der ohrenbetäubende Lärm und Rauch der MSG-Filme ist so schräg, dass sie eher wie eine Persiflage wirken und Zuschauer zum Lachen bringen.
Bekannt geworden ist die Dera durch Massenkampagnen, mit denen Rahim – publikumswirksam und dennoch sinnvoll – öffentliche Anliegen aufgriff: Impfkampagnen, Masseneinsätze bei der Hilfe nach Naturkatastrophen, oder zum Saubermachen ganzer Städte. Ich erinnere mich, vor fünf Jahren in einer Indian Ocean-Kolumne über die Premis (Prem – ‚Liebe’ – ist ein Ehrentitel von Rahim) geschrieben zu haben, die zu Tausenden und besenbewehrt von überallher in die Hauptstadt strömten und die Strassen säuberten.
Es ist unbestritten, dass diese spektakulären Aktionen auch der Publizitätsgier des MSG entspringen. Sie ergreift beinahe jeden Guru, sobald die Zahlen seiner Anhänger (und die Einnahmen) nach oben gehen. Dennoch gilt, dass der Beziehung zwischen Guru und Schüler eine quasi-spirituelle Dimension zugrunde liegt. Es ist der echte Glaube, dass der Guru ein Gesandter Gottes ist.
Verschworene Gemeinschaften
Und wie so oft wird aus Gottes Prophet bald selber ein Messias mit gottgleichen Attributen. Die geistige Nahrung aus dieser Beziehung mag dürftig sein, aber sie bietet den Anhängern das gemeinsame Dach einer verschworenen Gemeinschaft. Die gilt auch physisch: Wie andere grosse Deras in Nordindien – es soll über dreitausend solche Organisationen geben – verfügt auch die Sacha Sauda über grossen Landbesitz.
In den Ashrams von Sacha Sauda gibt es riesige Schlaftrakte, Kantinen, Küchen für Tausende von Besuchern, Parks, Kinderspielplätze, und natürlich Meditationshallen (die in diesem Fall auch als Kinos dienen). Die meisten Deras sind religionsneutral, und so findet man dort auch hinduistische und buddhistische Tempel, Kirchen, oder Moscheen. Gurmeet Singhs Künstlername Ram Rahim ist eine alte Sufi-Formel, die den Namen des Hindu-Gotts Ram und des islamischen Rahim vereint.
Natürlich steckt dahinter wiederum ein gutes Stück Marketingkalkül, um Leute aus allen Glaubensrichtungen anzuziehen. Aber oft spielt für Dera-Anhänger auch ein egalitäres Motiv mit. In einem Land, durch das derart viele und tiefe soziale Risse gehen, ist es eine Wohltat, Teil einer Gemeinschaft zu sein, in der alle gleich sind, geeint durch den Glauben an den Guru, mit einem von ihm verliehenen Namen, vereint auch in der gemeinsamen Sewa, der Freiwilligenarbeit im und ausserhalb des Ashrams.
Dennoch spiegeln sich die gesellschaftlichen Verwerfungen auch in diesen Bewegungen. Osho und Satya Sai Baba hatten ein vornehmlich internationales Publikum, Amritananda Ma richtet sich an die untere Mittelklasse, Jaggi Vasudev und Shri Sri Ravishankar rekrutieren ihre Anhänger aus den englischsprachigen Eliten.
Bedingungslose Identifikation
Und Ram Rahim? Er stammt aus einer Dalit-Kaste unter den Sikhs. Und es sind vor allem Dalits aus dem Panjab, die den Kern seiner Anhängerschaft ausmachen. Diese Tatsache erklärt, dass bei den Premis der Zusammenhalt – und damit der Guru, der die Klammer bildet – besonders stark ist. Die Dera ist physischer Schutz, sie bedeutet Solidarität und Egalität, sogar zwischen den Geschlechtern. Die mediale Omnipräsenz des eigenen Gurus ist ein Grund für Stolz, und sei’s drum, wenn sie dank bizarrer Film-Eskapaden zustande kommt – oder durch sexuelle Gewalt.
Das Verbrechen der Vergewaltigung zeigt besonders deutlich, wie weit diese Identifikation mit dem Guru gehen kann. Betrachtet man die indische Guru-Szene aus diesem Blickwinkel, könnte man meinen, die Vergewaltigung junger Frauen und Männer sei eine beliebte Form der Initiation. Nebst Ram Rahim ist in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Gurus vor Gericht gelandet. Zudem ist die Dunkelziffer bei diesem Tabuthema eklatant hoch, sei es unter Swamis oder in Familien.
Politische Instrumentalisierung
Dies zeigt auch das Verhalten der Politik gegenüber diesen religiösen Bewegungen und ihren Häuptern. Zahlreiche Gurus geniessen politischen Schutz. Die beiden Opfer von Ram Rahim mussten fünfzehn Jahre kämpfen und Polizeischutz beanspruchen, um zu ihrem Recht zu kommen. Und wie bei anderen Gurus, die vor Gericht stehen, sind auch hier Zeugen auf mysteriöse Art ums Leben gekommen.
Dies gilt für alle Parteien mit Ausnahme der Kommunisten, wobei die BJP eine besondere Affinität zu dem Guru-Kult hat. Dieser gedeiht besonders gut in einem Hindu-Biotop, auch wenn sich die Swamis betont säkular geben. Nach den Ausschreitungen der letzten Woche meldeten sich sofort BJP-Politiker, die in der Verurteilung Ram Rahims einen Justiz- und Medienangriff auf Hindu-Symbole erkannten. Erst die Ausschreitungen und dann die brutale Polizeireaktion brachten sie zum Schweigen.
Aber wie immer in der notorisch verhätschelten indischen Demokratie stehen wahltaktische Überlegungen hinter der Komplizenschaft zwischen Politik und Religion. Schliesslich können Gurus Millionen von Anhängern bei der Stimmabgabe beeinflussen, und sie lassen sich dies mit klammheimlicher Protektion durch Staatsorgane vergüten.
Vaters Gnadenerlass
So schält sich am Ende selbst in diesem widersprüchlichen und tragischen Zwischenfall doch wieder eine gewisse Logik heraus: Eine verzweifelte Geste der Verbundenheit mit dem Guru bringt über hunderttausend Menschen in die Stadt; das Strafurteil löst eine massenhysterische Aufwallung aus; die Polizei, von den Politikern zur Zurückhaltung verpflichtet, reagiert panisch und greift zur Waffe.
Und die zahlreichen Frauen, die einen Vergewaltiger als Gott verehren? Ram Rahim-Anhänger gaben laut der Internet-Zeitung The Ladies’ Finger zu Protokoll, in ihren Kreisen nenne man die sexuelle Misshandlung ein ... Privileg. Das Wort lautet Pitaji Maafi: Vaters Gnadenerlass. „Imagine a world“, schliesst The Ladies Finger ihren Beitrag, „where two-hundred-thousand people take to the streets to support rape survivors instead of rapists.“