Wohl alle der über 130 aus aller Welt angereisten Journalistinnen und Journalisten, die sich am 1. November im aus allen Nähten platzenden grössten Saal der Gemäldegalerie im Kunstmuseum Bern versammelt hatten, waren sich der Einmaligkeit der Stunde bewusst. Endlich, vier Jahre nach seinem Bekanntwerden, konnte der "„grösste Kunstfund aller Zeiten“ besichtigt, bestaunt und kommentiert werden.
Komplizierte Vorgeschichte
Cornelius Gurlitt, Sohn des für die Nationalsozialisten tätigen Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt, wachte 60 Jahre lang wie ein Gralsritter über rund 1’400 hochrangige Kunstwerke der Klassischen Moderne, die sein Vater, der Kunsthändler Hildebrand Gurlitt, hauptsächlich während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland zusammengetragen hatte. Gemälde und Skulpturen und vor allem viele Werke auf Papier von Cézanne und Matisse bis Picasso, E. L. Kirchner oder Oscar Schlemmer hütete Cornelius Gurlitt zurückgezogen und still in seiner Münchner Wohnung inmitten des Szeneviertels Schwabing sowie in einem kleinen Salzburger Haus. Am 22. September 2010 aber nahm die bayerische Staatsanwaltschaft nach einer Zollkontrolle Ermittlungen gegen Cornelius Gurlitt wegen des Verdachts auf Steuerhinterziehung auf.
Die Nachforschungen brachten die Lawine in Gang, die Kunstbestände in Schwabing und Salzburg wurden entdeckt und erregten natürlich nach ihrem Bekanntwerden durch einen „Focus“-Artikel internationales Aufsehen. 2013 wurde eine Taskforce „Schwabinger Kunstfund“ gegründet. Im April 2014 schloss Gurlitt mit dem Freistaat Bayern und der Bundesrepublik Deutschland eine Vereinbarung über den weiteren Umgang mit seinem Kunstbesitz ab und erklärte sich bereit, erwiesene Raubkunst zu restituieren, also sie den Besitzern oder deren Erben zurückzugeben.
Die Erbschaft
Dann aber entschloss Gurlitt sich vor seinem Tode am 4. Mai 2014 zu einem aufsehenerregenden Schritt: Er vermachte seinen gesamten Kunstbesitz, also auch Werke aus dem Besitz der übrigen Familie Gurlitt, nicht etwa einem deutschen Institut, sondern ohne Wenn und Aber dem Kunstmuseum Bern.
Obwohl laut Aussagen des damaligen Museumsdirektors Matthias Frehner keinerlei direkte Beziehungen zwischen Bern und Gurlitt bestanden hatten, musste nun vom Kunstmuseum aus sofort gehandelt werden. Nach einem halben Jahr Bedenkzeit und zahlreichen Abklärungen nahm das Museum „das vergiftete Erbe“ an.
Im Januar 2016 wurde vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste das Projekt „Provenienzrecherche Gurlitt“ gegründet, das, als Nachfolgeprojekt der Taskforce „Schwabinger Kulturfund“, Ende dieses Jahres ausläuft. Danach liegt der Ball fast ausschliesslich in Schweizer Händen – ein in vielerlei Beziehung ausserordentlich schwieriges Erbe. Eine wichtige Anlaufstelle bleibt weiterhin die Lostart-Datenbank (www.lostart.de). Aber trotz aller Schwierigkeiten ist ein derartig umfangreicher Zugang von hoch- und höchstrangiger Kunst nicht nur in der Schweiz einmalig und lohnt alle Anstrengungen.
Ab 1943 im Auftrag Hitlers
Die internationale Presse schoss sich nach Bekanntwerden natürlich sofort auf den Verdacht von Raubkunst ein. Dieser erhärtete sich bis heute jedoch nur in wenigen gesicherten Fällen. Weit gewichtiger ist die Tatsache, dass Hildebrand Gurlitt als ein Verfechter der Moderne ab 1938 für die Nationalsozialisten beschlagnahmte Kunstwerke aus öffentlichen Sammlungen, welche als „entartet“ eingestuft worden waren, einzusammeln und zu „verwerten“ hatte, das heisst, sie im Ausland – auch in der Schweiz – zu Devisen zu machen. Offenbar zweigte er dabei auch eine beachtliche Anzahl für sich selber ab. Nach 1943 wurde er als geschätzter Kenner und Händler beim „Sonderauftrag Linz“ für die geplante riesige Linzer Kunstsammlung eingesetzt, arbeitete von diesem Zeitpunkt an also offiziell im Auftrag Hitlers.
Erhoffte Hinweise
Aus all dem wurde immer klarer, dass der Schwerpunkt aller Forschungsarbeit bei der Provenienzermittlung von weit über 1’000 Objekten liegen würde und auf lange Zeit hinaus weiter liegen wird. Um ein möglichst breites Publikum und damit vor allem auch erhoffte Hinweise zu erreichen, entschloss man sich in beiden Ländern zu einer ersten grossen Ausstellung. In der Bundeskunsthalle in Bonn wird „Der NS Kunstraub und die Folgen“ (3.11.2017–11.3.2018) behandelt. Das Kunstmuseum Bern konzentriert sich nun in seiner Ausstellung „Entartete Kunst – beschlagnahmt und verkauft" mit 150 Exponaten auf die sogenannte „Entartete Kunst“, welche nach der berüchtigten Münchner Ausstellung von 1937 verfemt und dadurch zur leichten Beute Gurlitts geworden war.
Herausragende Kunstwerke
Die gezeigten Werke umfassen neben einigen wenigen Gemälden Arbeiten auf Papier, das heisst Gouachen, Aquarelle, Farbholzschnitte, Zeichnungen und Druckgraphik. Darunter befinden sich herausragende Kunstwerke des Symbolismus, des Expressionismus, des Konstruktivismus und der Neuen Sachlichkeit. Die eindrückliche Schau, welche in Themenblöcke gegliedert ist, verdeutlicht die wichtigen deutschen Kunstströmungen der Zeit; das ist zum einen die Berliner Sezession um Max Liebermann und Lovis Corinth, aber, noch weit umfangreicher vertreten, die Dresdner Künstlergruppe „Die Brücke“ sowie die Dresdner Künstler der Neuen Sachlichkeit, Otto Dix und George Grosz. Hildebrand Gurlitt selbst war schliesslich gebürtiger Dresdner.
Provenienzforschung
Durch den Fall Gurlitt erhielt eine kunsthistorische Sparte eine neue Dringlichkeit: die Provenienzforschung. Bisher konnten von den rund 1’400 Objekten des Gurlitt-Fundes erst 150 mit einschlägigen Forschungsergebnissen abgeschlossen werden. Hier wartet also noch eine Riesenaufgabe auf die Kunstwissenschaft. Abschluss der Berner Ausstellung bildet denn auch ein Einblick in die Provenienzforschung. Eines aber ist sicher: Diese Kunstwerke haben einen dramatischen, langen Weg durchlaufen, bis wir sie heute bewundern dürfen.
Die Berner Ausstellung mit einem breiten Rahmenprogramm dauert noch bis zum 4. März 2018 und wird durch einen von beiden Häusern herausgegebenen, reich bebilderten Katalog („Bestandesaufnahme Gurlitt“, München: Hirmer-Verlag, 2017.344 S., ) begleitet.