"Misstrauen erschwert die gemeinsame Arbeit", klagte Kanzlerin Angela Merkel. "Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht!" Das habe sie US-Präsident Barack Obama in einem Telefonat am Mittwoch deutlich gemacht. Nun müssten „alle Fakten auf den Tisch“, forderte Aussenamtschef Guido Westerwelle, der sogar den amerikanischen Botschafter einbestellte. Der „Verdacht sprengt alle Dimensionen“, empörte sich Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
35 Telefonnummern
Die Enthüllungen des amerikanischen Whistleblowers Edward Snowden versetzten Berlin in helle Aufregung. Und wie der Guardian nun unter Hinweis auf weitere geheime Dokumente aus dem Fundus des Whistleblowers Snowden berichtet, waren es nicht nur der Präsident im Elysée-Palast und die Kanzlerin in Berlin, sondern weltweit 35 Regierungschefs, deren Telefongespräche von den neugierigen Spähern der amerikanischen National Security Agency (NSA) abgehört wurden.
Die Dokumente erwähnen einen namenlosen amerikanischen Regierungsangehörigen, der dem Geheimdienst 200 Telefonnummern darunter jene von 35 Regierungschefs übergab. „Diese Nummern lieferten wichtige Informationen und weitere Nummern, die in der Folge angezapft wurden“, heisst es dort.
Das neue Kriegsgebiet
Die weltweite Aufregung um amerikanische Abhörpraktiken, die nun in den Regierungsämtern und im Blätterwald herrschen, wirkt wenig glaubwürdig. Diese Praktiken amerikanischer Geheimdienste sind ja nicht neu. Und sie waren auch nicht unbekannt. Schon seit Jahren berichten Journalisten wie der amerikanische Enthüllungsjournalist Seymour M. Hersh über den anhaltenden „cyber war“. Bereits vor vier Jahren beschrieb der ehemalige Mitarbeiter des britischen MI6, Gordon Thomas, in seinem Buch „Secret Wars“ detailliert die NSA als die grösste Spionageorganisation der Welt, die in ihrer Sammelwut jeden und jede belauscht, Freund und Feind.
„Es ist eine Doktrin, das Pentagon hat Cyberspace formell als neues Kriegsgebiet anerkannt“, schrieb der stellvertretende US-Verteidigungsminister William J. Lynn III. in einem Essay in der Herbstausgabe 2010 von Foreign Affairs. Seither sammeln die fünf Dutzend Satelliten und weltweit über 25 Lauschanlagen (von Waihoapai in Neuseeland bis zum Polarkreis) der NSA, jedes Wort, das über eine Telefonverbindung gesprochen wird, oder jedes Fax, jede email, die über Satellit verschickt wird. Schon Ende der neunziger Jahre schätzte die NSA, dass weltweit circa 2,5 Milliarden Telefone und 1,5 Milliarden Internetadressen existierten, dass jede Minute annähernd 20 Terabytes Informationen um die Erde kreisten.
Schneller als der Blitz
Diese Datenmenge wurde dann an die riesigen Computer im NSA Hauptquartier Fort Meade (bei Washington) weitergeleitet, von denen jeder einzelne mit einem System verbunden war, das ein petabyte Daten speichern kann, acht Mal mehr als die gesamte Bücher- und Dokumentensammlung der Library of Congress. Fünf Billionen Textseiten kann das elektronische Archiv der NSA speichern. Die Computer lesen, analysieren und selektieren das Material in „petaflop speed“, d.h. der Computer kann in einer Sekunde eine Quadrillion Operationen durchführen. Verglichen mit der Geschwindigkeit der NSA-Computer „erscheint ein Blitz langsam“, sagte der ehemalige CIA-Direktor William Colby einmal. „Da war ein Programm, das in einer Minute 500 Worte in sieben Sprachen übersetzen konnte. Als ich das nächste Mal, einen Monat später, dort war, hatte es seine Kapazität verdoppelt und die Übersetzungszeit halbiert.“
Das ist auch nötig. Denn „Echelon“, wie das streng geheime Lausch- und Speichersystem genannt wird, fängt alles auf: Millionen Liebeserklärungen, verärgerte Forderungen oder bedauernde Entschuldigungen, Kundenkonten bei Banken oder Patientenprotokolle in Krankenhäusern. Mit weiteren Systemen mit Namen wie Silkworth oder Moonpenny können sich die NSA-Spione in die angeblich sichere Satellitenkommunikation von Militäreinrichtungen oder von Regierungen und Diplomaten einklinken, die geheimsten Informationen herunterladen und anschliessend dechiffrieren.
„Secret Wars“
Schon 1989 fing alleine die Lauschstation in Menwith Hill in Nordenglands Yorkshire 17,5 Milliarden Nachrichten ab. Menwith Hill konnte damals pro Stunde zwei Millionen Nachrichten verarbeiten. „Mit der fortlaufenden Verbesserung der mit den diversen Überwachungsmissionen verbundenen Sensoren wächst der Datenumfang auf eine projektierte Grösse von Yottabytes (1024) bis 2015“, heisst es in einem Report, den die MITRE Corporation, ein Thinktank des Pentagon, erstellt hat. Das entspricht ungefähr einer Septillion Textseiten. Zahlen grösser als Yottabytes haben nicht einmal mehr Namen.
In einem geheimen Anbau, dem Friendship annex oder FANX (früher hiess der Flughafen Freundschaftsflughafen) beim Thurgood Marshall International Airport bei Baltimore versuchen ganze Teams von Hackern, in die Kommunikationssysteme befreundeter wie feindlicher Regierungen einzudringen, berichtete Thomas in seinen „Secret Wars“. China gilt als besonders aggressiver Cyber-Krieger. Aber: „Was immer die Chinesen uns antun, wir können es besser. Unsere offensiven Cyber-Fähigkeiten sind weit fortgeschrittener“, zitierte Seymour Hersh schon vor drei Jahren einen ehemaligen NSA-Mitarbeiter in der US-Zeitschrift „The New Yorker“.
Staatlich gesponserter Diebstahl
Die setzen die NSA-Spione auch schamlos gegen Verbündete ein. So verhalf Echelon in nur einem einzigen Jahr, 1993, „US-Firmen in Übersee zu Verträgen im Wert von 26,5 Milliarden Dollar, indem es Regierungen in der Dritten Welt alarmierte, Minister akzeptierten Bestechungsgelder“, schrieb Thomas in seinem Buch.
Echelon horchte die Gespräche des ehemaligen französischen Ministerpräsidenten Édouard Balladur (1993-1995) ab und verdarb Dassault ein sechs-Milliarden-Geschäft. Silkworth fing den Nachrichtenverkehr ab, der bewies, dass Verkäufer der europäischen Airbus Industries saudischen Beamten Schmiergelder angeboten hatten. Das Geschäft machte daraufhin Boeing. 1994 belauschte Echelon die Telefonkommunikation zwischen Frankreichs Thomson-CSF und der brasilianischen Regierung über einen 1,4-Milliarden-Dollar-Vertrag für ein Kontrollsystem im Regenwald des Amazonas. Und „Moonpenny stellte sicher, dass auf den Philippinen, in Malawi, Tunesien, Peru und im Libanon Verträge, die sonst an europäische Firmen gegangen wären, letztendlich an amerikanische Unternehmen gingen.“
Schon 2007 hatte Brian Gladwell, ein ehemaliger Computer-Experte bei der NATO, zugegeben: „Im Cyberspace haben wir heute eine Situation, in der staatlich gesponserter Diebstahl von Wirtschaftsinformationen eine Wachstumsindustrie ist.“