Mit der aktuellen Ausstellung hat sich das Fotomuseum Winterthur in historischer Hinsicht einer Art von Magie verschrieben. Wer die Ausstellungsräume betritt, begegnet anderen Welten.
Sie bestehen aus makroskopischen und mikroskopischen Bildern. Dazu kommen Filmsequenzen von Pflanzen, die über längere Zeit aufgenommen wurden. Diese Sequenzen werden in so rascher Folge gezeigt, dass man die im Laufe eines Tages ablaufenden Bewegungen von Blüten oder Blättern nun im Zeitraffer, reduziert auf Minuten, betrachten kann. Das ist auch heute noch unheimlich und faszinierend zugleich.
Effekte dieser Art waren zur Zeit von Jean Painlevé (1902–1989) neu und geradezu sensationell. Painlevé öffnete einen bisher nie gekannten Blick auf kleinste Lebewesen im makrokosmischen Bereich und in die Welt des Mikrokosmos. Dabei konzentrierte er sich auf das Leben im Küstenbereich speziell der Bretagne, das wiederum durch die Gezeiten eine besondere Ausprägung hat.
Auch der heutige Betrachter wird von der Eindringlichkeit der Filmsequenzen und der ausgestellten Bilder in den Bann geschlagen. Die Kuratorin Pia Viewing hat in Zusammenarbeit mit Brigitte Berg von den «Archives Painlevé», Paris, die Ausstellung, die ursprünglich im Jeu de Paume gezeigt wurde, für Winterthur adaptiert. Dabei ist es gelungen, den Räumen in Winterthur mit den Screens und Ausstellungsstücken eine besondere eindringliche Atmosphäre zu geben.
Jean Painlevé muss von seiner Arbeit geradezu besessen gewesen sein. Seine Lebensgefährtin Geneviève Hamon (1905–1987) lernte er 1922 bei seinen Forschungen an der Station Biologique de Roscoff in der Bretagne kennen. Sie war damals seine Mitarbeiterin – und blieb es zeitlebens. Zusammen mit ihr brachte Painlevé mehr als 200 Kurzfilme heraus. Dazu erschienen zahlreiche Fotos in diversen Publikationen, darunter auch Zeitungen und Zeitschriften.
Die Ausstellung zeigt auch eigenständige Werke von Geneviève Hamon. Dazu gehören Zeichnungen, Drucke und Schmuckentwürfe, die Bezug auf den berühmten Film «Das Seepferdchen» aus dem Anfang der 1930er Jahre nehmen.
Was trieb Jean Painlevé an? Ganz sicher war es die Faszination der Erforschung der Flora und Fauna insbesondere im Küstenbereich. Und es muss ihn auch der Eros der Vermittlung umgetrieben haben. Dazu gehörten zwei Elemente: die wissenschaftliche Einsicht in die Natur und die Ästhetik, die sich den Blicken aus neuartiger Sichtweise eröffnet.
Mit dieser Ästhetik wiederum verband sich eine Dynamik, die in den Begleittexten zur Ausstellung zwar kurz erwähnt, aber nicht wirklich erfasst wird. Dabei handelt es sich um die Beziehung von Jean Painlevé zum Surrealismus. In den Texten wird lediglich erwähnt, dass Painlevé Kontakte zu Surrealisten hatte, nicht aber zu ihrem Kreis gehörte. Das ist ein bisschen blass und vage.
In Ausstellungen der Surrealisten in den 1930er Jahren in Paris wurde neben Filmstills auch das Bild «Pince d’hommard, Port Blanc, Bretagne oder ‘De Gaulle’, 1929» von Jean Painlevée und Eli Lotar gezeigt und in einem entsprechenden Katalog aufgeführt. In Winterthur wird dieses Bild unter der ähnlichen Bezeichnung «Hummerschere» oder «Charles de Gaulle» ausgestellt. Der Bezug zu den damaligen Ausstellungen in Paris fehlt in der Ausstellung des Fotomuseums völlig.
In den Surrealisten-Ausstellungen waren zum Beispiel Bilder von Brassaï vertreten, die mit ihren Formen an Painlevés Werke erinnern. Auch Man Ray trat damals prominent hervor. Schliesslich hat er mit ganz neuen Sichtweisen auf Details experimentiert. Es gab also eine innere Verwandtschaft zwischen Painlevé und den Surrealisten mit einer ungeheuren Dynamik.
Dass neue Zugänge der Wirklichkeit einen surrealen Charakter verleihen, war damals ein Thema, das zahlreiche Künstler umtrieb und womit sie ein zentrales Motiv der Romantik wieder aufnahmen. Diese Feststellung wäre akademisch, wenn sich nicht in der Ausstellung in Winterthur der Bann zeigte, der bis heute von den völlig neuen Wirklichkeitserfahrungen der Surrealisten ausgeht. Die Filme und die einzelnen Fotos berühren die Betrachter bis heute.
Begleitend zur Ausstellung ist ein schön gestalteter Bildband unter dem Titel «Les pieds dans l’eau» erschienen. Es gibt eine französische und eine englischsprachige Ausgabe, keine deutsche. Das hat den grossen Vorteil, dass die Leser nicht durch Genderzeichen belästigt werden, die leider in den Ausstellungstexten in Winterthur überreichlich vorhanden sind.
Fotomuseum Winterthur bis 12. Februar 2023, Begleitpublikation im Museum erhältlich, auf der Website nicht aufgelistet.