Russlands Krieg gegen die Ukraine erweist sich, je länger er dauert und je brutaler er geführt wird, desto deutlicher als Brandbeschleuniger zur Auflösung alter geopolitischer Allianzen.
Am deutlichsten erkennbar wird dieser Prozess an der Aussenpolitik von Staaten, die, bis vor kurzem, als Bündnispartner oder zumindest als Sympathisanten des Westens galten – im Mittleren Osten Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, im weiteren Umfeld Südafrika.
Sie verhalten sich gegenüber dem Konflikt in Osteuropa so genannt neutral, verfolgen aber unter diesem Schlagwort eine Politik, die von viel Verständnis für die Strategie Putins geprägt ist – und die, ganz praktisch, auch eine Komponente in Richtung Chinas, seinerseits ideologischer Partner Russlands, enthält.
Was, noch praktischer begriffen, zu einem wachsenden Interesse an Zusammenarbeit in zwei Institutionen führt, Brics einerseits, der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) anderseits. Die SCO umfasst bisher acht Länder, unter Führung Chinas und Russlands Indien, Iran, Pakistan und vier zentralasiatischen Staaten. Sie deklariert als ihr Ziel die Förderung von Sicherheit und Zusammenarbeit und will eine Alternative zu einer westlich dominierten Weltordnung schaffen.
Alternative zum westlichen System
Brics, gegründet 2006 zunächst von vier Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China) mit der Erweiterung durch Südafrika im Jahr 2010, formuliert klarer die ökonomischen Gemeinsamkeiten, aber unverkennbar ist, dass hinter dem Wirtschaftlichen auch wesentlich Politisches liegt. Letzten Endes geht es um das Gleiche, wie bei SCO: eine Alternative zu einem von den traditionellen Westmächten geprägten System. Das ist sowohl ideologisch, als auch, ganz handfest, finanztechnisch zu verstehen: Es geht allen darum, einerseits von der Dominanz des Dollars bei Transaktionen unabhängig zu werden als auch um das Ziel, sich von dem, was als Bevormundung durch westliche Regierungen verstanden wird, zu befreien.
In Europa und den USA hat man diesen Willen zur Neu-Ausrichtung unterschätzt – erste Schockwellen lösten bei uns, nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, Reaktionen im so genannten globalen Süden aus. 140 Länderdelegationen votierten in der Uno-Generalversammlung zwar für einen Text, der den Kriegsverursacher kritisierte, aber als es darum ging, Sanktionen gegen Russland zu verhängen, breitete sich, global, Schweigen aus. Resultat: Nur etwas mehr als 40 Länder versuchen, Moskau durch Sanktionen zu bestrafen, mehr als 150 schlossen sich nicht an (darunter, obgleich Nato-Mitglied, die Türkei). Und jetzt, mehr als 470 Tage nach dem Beginn des Überfalls Russlands auf die Ukraine, zeigt sich, dass das Schweigen mehrheitlich bedeutet: Man will es sich mit Moskau nicht verderben, ja, man betrachtet den Westen, konkret die USA und die Nato, als ursächlich verantwortlich für die Katastrophe.
Westliche Resignation, diplomatische Hyper-Aktivität
Folge-Erscheinung: Immer mehr Regierungen interessieren sich für Alternativen zu den früheren Bindungen. Rund zwanzig Staaten zeigen Interesse, Brics (ideologisch, wie erwähnt, keineswegs Putin-feindlich, wirtschaftlich dominiert von China) beizutreten. An vorderster Front Saudi-Arabien, dessen Monarchie bereits im Vorfeld dieser Weichenstellung sich mit China auf die Lieferung von 690’000 Barrel Öl täglich geeinigt hat, wobei die Verrechnung nicht mehr in Petrodollars, sondern in Petro-Yuan realisiert werden soll. Die Vereinigten Arabischen Emirate und, man lese und staune, Ägypten (dessen Regierung von den USA nur schon für das Militärische jährlich fast 1,5 Milliarden Dollar bezieht) stehen ebenfalls an, um Brics beizutreten, und gemäss dem russischen Aussenminister Lawrow hat sogar die Türkei, Nato-Mitglied, sondierende Gespräche mit der Spitze von Brics aufgenommen.
Die westlichen Regierungen schauen diesem sich abzeichnenden Wandel mit einer Mischung aus Resignation und diplomatischer Hyper-Aktivität zu. Minister und Ministerinnen oder hoch gestellte Beamte reisten wohl noch nie so intensiv kreuz und quer durch Afrika und den Mittleren Osten wie in den letzten Wochen und Monaten. Auch Lateinamerika wird «beackert» – Deutschlands Aussenministerin, Annalena Baerbock, kehrt eben von ihrer letzten dortigen Station, Panama, zurück, nach vorherigen Gesprächen in Brasilien und Kolumbien. Ihre Gesprächsprogramme in den verschiedenen Ländern sind symptomatisch für das, was Amtskolleginnen und -Kollegen, selbst US-Aussenminister Blinken jetzt eben in Saudi-Arabien, versuchten: Goodwill schaffen, indem man den Gastgebern versichert, dass man (also dass der Westen) seine Lektionen gelernt habe und inskünftig mit dem globalen Süden partnerschaftlich und nicht mehr patronisierend umgehen werde.
Ohne «Moralin»
Zwei Fragen bleiben: Glauben das die Regierenden im globalen Süden – und ist der Zug, bildlich gesprochen, nicht schon abgefahren? China ist dem Westen in der Strategie gegenüber dem Mittleren Osten, Afrika und teils auch Lateinamerika schon zuvor gekommen. U. a. mit der Gründung der Neuen Entwicklungsbank im Rahmen von Brics in Shanghai, die bereits gut 30 Milliarden an Krediten für Wasser- und Verkehrsinfrastruktur-Projekte in verschiedenen Mitgliedsländern vergeben hat. Und mit Investitionen im Umfang von etwa 140 Milliarden auf dem afrikanischen Kontinent.
All das erfolgte ohne beigefügte Forderungen nach Einhaltung von Menschenrechten, wohlverstanden, also ohne das «Moralin», das die – meistens autoritär herrschenden – Regierungen im globalen Süden einfach nicht mehr hören wollen.