Alles, worauf sich die Staats- und Regierungschefs/chefinnen an der Gipfelkonferenz der G7-Länder im japanischen Hiroshima geeinigt haben, liest sich vernünftig, entspricht auch den inneren Werten der beteiligten Staaten (USA, Kanada, Japan, Grossbritannien, Italien, Frankreich, Deutschland) – und dennoch stellt sich die Frage: Ist das auch Realpolitik, entspricht es der Verschiebung der globalen Gewichte?
Drei Themenkreise dominierten: Wie umfassend kann / soll man der Ukraine im Abwehrkampf gegen den russischen Aggressor helfen – und wie soll sich der Westen (gilt auch für Japan) gegenüber China verhalten? Der dritte Kreis betrifft die übrige Welt, den so genannten globalen Süden.
Die Ukraine soll weiterhin, so lautet der Konsens, «so lange wie nötig» unterstützt werden, künftig auch mit westlichen Kampfflugzeugen. Was genau «so lange wie nötig» bedeutet, bleibt allerdings weiterhin unklar. Frankreichs Präsident, Emmanuel Macron, verfolgt weiterhin die Idee einer irgendwie konstruktiven Politik gegenüber einem militärisch erfolglosen Russland, das aber nicht zur Kapitulation gezwungen werden sollte. Die USA glauben an eine Strategie, die sich aus der Idee ableitet, Putins Russland müsse anhand der Verluste im Krieg irgendwann zur Räson kommen und sich dazu bequemen, nicht mehr als eine «Regionalmacht» im östlichen Europa und auf dem asiatischen Kontinent zu sein – dann könne die Vision einer unipolaren Welt unter amerikanischer Führung wieder hergestellt werden.
Zermürbt von den Fakten
Grossbritannien bleibt kompromisslos, will die totale Niederlage und Demütigung des russischen Aggressors, Deutschland sucht den Kompromiss. Und fast alle fügen sich, zermürbt von den Fakten auf dem blutigen Schlachtfeld in der Ukraine, aber auch überredet vom grossartigen Rhetoriker Selenskyj, so genannter (aber gut eingeplanter) Überraschungsgast in Hiroshima, zum Ja zu immer noch einem weiteren Schritt hinsichtlich der Lieferung von Waffen und der Ausbildung von ukrainischen Soldaten.
Der zweite Themenkreis betrifft China, den «Elefanten im Raum», weil nicht eingeladen unsichtbar, aber ständig präsent. Dieser Kreis lässt sich am besten mit ein paar Überlegungen zum zusätzlichen dritten Kreis beschreiben, dem «globalen Süden», der, aus der Perspektive der «Sieben» auch jetzt, bei diesem Gipfel, marginal geblieben ist.
Die Hälfte der Welt soll dem Westen folgen
Die Sieben erwirtschaften fast fünfzig Prozent dessen, was weltweit produziert wird. Sie gehen – das steht allerdings nirgendwo in den Deklarationen – davon aus, dass sie globalen Einfluss haben oder, etwas pointierter ausgedrückt, dass die anderen fünfzig Prozent der Welt ihren Leitlinien mehr oder weniger klar folgen müssten. Der Gastgeber, Japan, versuchte der Vorstellung einer globalen Bedeutung wenigstens in dem Sinn Folge zu leisten, als er die Präsidenten oder Premierminister von acht weiteren Ländern als Zuhörer/Mitdiskutierer nach Hiroshima einlud, darunter Indiens Premier Modi, Brasiliens Präsidenten Lula da Silva und den Staatschef Indonesiens, Joko Widodo. Auch dabei waren Vietnam und aus der Pazifik-Region die kleine Nation Cook Islands als Repräsentantin der Inselstaaten im Pazifik, plus Südkorea und die Komoren als Vertreter der Afrikanischen Union.
All diese Länder (mit der Ausnahme Südkoreas) setzen mehr und mehr Prioritäten, die sich graduell von den Werten und Vorstellungen des Westens entfernen. Zwei Parameter sind wesentlich: Erstens die Erkenntnis, dass sie gegenüber Putins Russland nicht Stellung nehmen wollen, sich als «neutral» bezeichnen, und zweitens die (von Land zu Land unterschiedliche) Erfahrung mit Europa als Kolonialmacht oder mit den USA als «Lehrmeister», der bei Ungehorsam mit Sanktionen droht. Hinzu kommt die von Land zu Land unterschiedliche Einschätzung Chinas und auch Russlands. Vietnam (89 Millionen Einwohner) kauft 60 Prozent seiner Waffen von Russland und elf Prozent seiner Düngemittel. Ähnliche Zahlen gelten für Indonesien (275 Millionen Menschen), und Brasilien (215 Millionen) ist bei Düngern ebenfalls stark von Russland abhängig. Indien (Bevölkerung ca 1,5 Milliarden) kauft, seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, mindestens drei Mal mehr russisches Rohöl als früher, und das zu günstigen Konditionen – und verkauft es, wahrscheinlich teilweise wieder mit Gewinn, irgendwohin ins Ausland. Die Ukraine, Europa überhaupt, liegt aus der Perspektive der Menschen dieser Länder weit, weit weg, es kann oder muss sie eigentlich nichts angehen.
Abgrenzung gegenüber China
Und was ist mit China, diesem «Elefanten im Raum» der in Hiroshima versammelten Politikerinnen/Politiker der G7-Länder, aus der Perspektive des so genannten globalen Südens? Sorgt man sich da wirklich um die Frage, ob die chinesischen Streitkräfte irgendwann einmal die kleine Insel Taiwan angreifen werden? Kaum, vielerorts überhaupt nicht. Wenn die G7-Regierungen in Hiroshima nun beschlossen haben, den Ton gegenüber China auf mehr Abgrenzung zu stellen (Abgrenzung bedeute nicht Feindschaft, beeilte sich der US-amerikanische Sicherheitsberater, Jake Sullivan, zu beteuern), lässt das den so genannten globalen Süden mehrheitlich kalt. Auch die Ermahnung westlicher Regierungen an die Adresse der «armen Vettern» in Afrika, sie sollten sich davor hüten, in die Schuldenfalle Chinas zu geraten, verhallte bisher ohne hörbares Echo. Was wäre denn die Alternative, lautet manchmal die Gegenfrage. Ihr «Westler» belasst es ja bei Versprechen hinsichtlich günstiger Kredite und einem Engagement bei Infrastruktur-Projekten, den Worten sind bisher keine Taten gefolgt.
Das stimmt zu einem grossen Teil – Ursula von der Leyen, EU-Kommissionspräsidentin, nahm das in Hiroshima wenigstens verbal auf: «Wir sollten Schwellenländern, die bereit sind, mit uns zusammenzuarbeiten, Partnerschaften anbieten, von denen beide Seiten profitieren», sagte sie. Aber eben: «Wir sollten», geschehen ist noch nichts, während China bisher mehr als 140 Milliarden Dollar in Bahn-, Strassen-, Hafenprojekte in Afrika investiert hat – und eben jetzt, zwei Tage vor der G7-Konferenz in Hiroshima, den zentralasiatischen Ländern bei einem «Ebenfalls-Gipfel» in Xian weitere 3,7 Milliarden für Infrastruktur-Projekte zugesagt hat. Bei den G7-Staaten scheint einzig Japan die Zeichen der Zeit erkannt zu haben – Premier Kishida reiste während seiner 18-monatigen Amtszeit an der Regierungsspitze 16 Mal ins Ausland, oft nach Afrika, und machte konkrete Zusagen für angeblich konkrete Projekte.
Der Süden lässt sich nicht umpolen
Der britische Premier, Rishi Sunak, prägte am Schluss der Konferenz in Hiroshima zu China die Formel, man wolle «de-risking, not de-coupling», also Risikoverminderung, aber keine Abkoppelung (was die Regierung in Peking sogleich empört zurückwies und von Einmischung in innere Angelegenheiten sprach). Und was den globalen Süden betrifft, platzierte die britische BBC auf ihrem Internet-Portal eine Serie von Fotos, versehen mit prägnanten Legenden. Sunak und der indische Premier Modi hätten es vermieden, bei ihrem Abschluss-Treffen das Thema Ukraine anzusprechen. Auch Wolodymyr Selenskyj wurde bei seinen Begegnungen mit den Gästen des G7-Treffens abgelichtet – Narendra Modi habe ihm zugesichert, er werde gerne zwischen der Ukraine und Russland vermitteln, beinhaltete der Text zum Foto.
Doch was heisst «vermitteln» in diesem von Putin provozierten Krieg? Was heisst es angesichts der «prorussischen Neutralität» Indiens in diesem Konflikt? Und das Treffen Selenskyjs mit dem Präsidenten Indonesiens, Joko Widodo, verlief offenkundig eher wortkarg.
Fazit: Der globale Süden lässt sich nicht vom Westen umpolen, weder beim Thema China noch beim Konflikt Russland-Ukraine. Und da dieser globale Süden, plus China, mehr und mehr Gewicht erhält, schrumpfen die Bedeutung und der Einfluss der USA und Europas, also der G7 insgesamt. Ändern liesse sich das nur, wenn aus dem von Ursula von der Leyen geäusserten «sollte» in Bezug auf Partnerschaftsprojekte im globalen Süden Taten würden.