Pädagogen bringen sich selber zum Verschwinden. Sie sehen sich heute primär als Coach und Lernbegleiter. In dieser technokratischen Funktion gestalten sie Lernlandschaften und moderieren das selbstorganisierte Arbeiten ihrer Schülerinnen und Schüler. Das ist der Trend, wie eine Abteilungsleiterin der PH Zürich an einer Tagung Mitte März bekräftigte. Lernen ohne Lehrer – «LoL» – ist angesagt. Doch wer in Biografien blättert, wer bei Schriftstellern schmökert, wer von seiner Schulzeit schwärmt, der weiss: Auf die Lehrerin und ihren Unterricht kommt es an. Das bestätigen Bildungsforscher und Neurobiologen schon lange. Auch die umfangreiche Hattie-Studie, auf die im Folgenden noch eingegangen wird, zeigt es.
Vor lauter Reden und Reformen, vor grossräumigem Gezänk und Getöse um Frühsprachen und Lehrplan 21 geht schnell vergessen, was die Kinder mehr prägt als ein Kompetenzenportfolio oder altersdurchmischtes Lernen: die Lehrerpersönlichkeit. Der Mensch, an den man sich auch vierzig Jahre später erinnert, weil er uns ermutigt und an uns geglaubt hat. Es ist jene Lehrerin, die uns viel zutraut und als Person lebt, was sie sagt.
Die Schulwelt war fordernd
Solche Persönlichkeiten waren meine Primarlehrer. Zuerst das Fräulein. In allem ganz Lehrerin. Mit Leib und Seele, mit Hingabe an ihre Aufgabe – interessiert an uns fünfzig kleinen Knirpsen. Sie unterrichtete die erste und zweite Klasse. Weiter brachte sie es nicht. Ab dem dritten Schuljahr wurde die damalige Schulwelt männlich. Nur noch Lehrer. Mit ihnen kamen neue Werte. Hierarchischer und asymmetrischer wurde das Verhältnis. Von oben blickten sie uns an, und wir schauten zu ihnen hinauf. Irgendwie wussten wir: Da stand jemand vor uns, der eine Ahnung vom Leben hatte, vom wirklichen Leben. Unser Dritt- und Viertklasslehrer erfand das gelb markierte Netz der Schweizer Wanderwege. Jeden Freitag erklang seine Stimme auf Radio Beromünster. Das tröstete über alle didaktischen Albträume hinweg. Und der Fünft- und Sechstklasslehrer: Theaterstücke schrieb und Regie führte er. Auch hier ganz Magister und fachliche Autorität mit Vorbildfunktion – am Leben interessiert und tatenorientiert.
So traten beide auf, so wirkten sie, so konfrontierten sie, und so rieben wir uns an ihnen. Sie setzten sich mit uns jungen Männern leibhaftig auseinander; sie unterrichteten nicht einfach Fächer und Stoffe. Ihre subkutane Botschaft: Aus euch kann und muss etwas werden! Wir trauen euch das zu.
Deutsch und Rechnen waren die zentralen Inhalte, dazu Geschichte und Geografie. Die Fächerfülle war bescheiden. Heftführung, Aussprache und Rechtschreibung hatten hohe Priorität. Was wir «durchnahmen», nahmen wir gründlich durch, mündlich und schriftlich, mit vielen Sinnen, präzis und diszipliniert. Ein Ding richtig können, ist mehr als Halbheiten im Hundertfachen. Was Goethe sinngemäss sagte, lebte unser Lehrer und verlangte es. Nicht vielerlei treiben, sondern eine Sache intensiv und genau! – Non multa, sed multum! heisst es bei Plinius. Jeden Aufsatz hat der Fünft- und Sechstklasslehrer sauber korrigiert und mit jedem einzelnen persönlich besprochen. Individuelles Feedback heisst das zeitgemässe Zauberwort. In zwei Jahren schrieben wir gegen zwanzig Aufsätze. Das bedeutete für ihn die Korrektur von rund tausend Texten. Prägnanz bringt Eleganz, sagte mir der Lehrer. Noch heute höre ich seinen Satz und sehe, wie er sich für mein Lernen und Vorwärtskommen verantwortlich fühlte.
Es war eine harte und autoritäre Schule, fordernd und anspruchsvoll, bemüht um elementares Basiswissen – eine Bildung, die sich ganz unflexibel einer Sache und ursprünglicher Erfahrung hingab. Welcher Wandel der Modelle, Themen und Stile im Vergleich zu heute! Vieles nimmt sich aus jetziger Sicht wie schwarze Pädagogik aus, und doch hat es mich für mein Leben geprägt. Unser Fünft- und Sechstklasslehrer verkörperte und verlangte etwas von dem, was der Kognitionsforscher Howard Gardner als Intelligenzen für das 21. Jahrhundert formuliert: diszipliniertes und kreatives Arbeiten und Denken.
Den Beruf leidenschaftlich lieben
Warum blieb uns der damalige Lehrer in Erinnerung? Es war seine unbedingte Leidenschaft, seine vitale Präsenz, die absolute Konsequenz, mit der er seiner Berufung, Lehrer zu sein, gefolgt ist. Er konnte uns begeistern und für eine Sache interessieren, in vielem vielleicht sogar Flügel verleihen. Dass ich Geschichte studierte und Lehrer wurde, verdanke ich ihm.
Vieles erinnert an Albert Camus’ Lehrerporträt. In seinem autobiografischen Werk «Der erste Mensch» beschreibt der französische Literaturnobelpreisträger Monsieur Bernard. Von seinem Unterricht sagt Camus, er sei «aus dem einfachen Grund, dass er seinen Beruf leidenschaftlich liebte, ständig interessant» gewesen. In seiner Klasse fühlten die Kinder «zum ersten Mal, dass sie existierten und Gegenstand höchster Achtung waren: Man hielt sie für würdig, die Welt zu entdecken.»
Den Schülern die Türen zur Welt öffnen und sie die Welt entdecken lassen als Aufforderung zum Handeln – das haben sie gemacht, unsere Lehrer. Denn die Welt liegt zwischen den Menschen, wie es die Politphilosophin Hannah Arendt einmal ausdrückte. Darum ist Beziehung so wichtig. In den Beziehungen spielt sich das Leben ab: Beziehung zu Menschen und Tieren, zu Sprache und Mathematik, zu Ideen und Phänomenen, zu Natur und Kultur. Doch Beziehungen sind nur lebendig, wo Gefühle mitschwingen. Darum spielt die Persönlichkeit der Lehrerin, die menschliche Souveränität des Lehrers auch hier eine ganz entscheidende Rolle. Damals wie heute.
Jede Methode wirkt irgendwie – aber wie?
Die didaktischen und pädagogischen Paradigmen haben sich verändert. Das ist gut so. Geblieben sind die Prinzipien guten Unterrichts. Doch sie sind gefährdet – durch das Mythisieren modischer Methoden. Dazu gehört zum Beispiel das Programm ‚Lesen durch Schreiben’, 1982 entwickelt vom Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reichen. Es basiert auf einer Anlauttabelle und lässt Kinder individuell und nach eigenem Tempo das Schreiben lernen. Nach der Wirkung wurde nicht gefragt. Die Methode löste erst in jüngster Zeit Forschung aus. «Die Ergebnisse sind katastrophal; eigentlich müsste ‚Lesen durch Schreiben’ sofort verboten werden», schreibt der renommierte Zürcher Pädagoge Jürgen Oelkers und fügt bei: «Reichen hat damit ein Vermögen verdienen können.» Gleiches lässt sich von ‚Schreiben nach Gehör’ sagen. Dieses Verfahren sei «keine Methode, sondern unterlassene Hilfeleistung», bilanziert die FAZ.
Das ist der Grund, warum der Neuseeländer Bildungsforscher John Hattie isolierten Methoden misstraut. «Irgendeinen Effekt hat jede Unterrichtsmethode», betont er zu Recht. Er wollte wissen, was am besten wirkt, und er verglich. Nur so lasse sich erkennen, womit Schüler die grössten Lernfortschritte erzielten.
«What works best?», lautete Hatties Forschungsfrage. Er untersuchte während 15 Jahren messbare Fachleistungen von Schülern, sogenannte «achievements». Dazu sichtete und gewichtete er alle englischsprachigen Studien zum Lernerfolg. Gegen 70’000 Einzelbefunde führte er zusammen. In Hatties Ergebnisse flossen die Erfahrungen von rund 260 Millionen Schülern ein.
Das Lernen sichtbar machen
Für die verschiedenen Unterrichtsmethoden und Lerngrundlagen errechnete Hattie 138 Erfolgsfaktoren oder Effektwerte. Dass Schüler zum Beispiel sehen, was sie gelernt haben, erzielt eine hohe Effektstärke. Lehrer können dies bewirken. Darum nennt Hattie sein Buch «Visible Learning», in der deutschen Übersetzung «Lernen sichtbar machen». Der Titel ist Programm. Nur die Wirkungen zeigen eben, wie es um ein pädagogisches Konzept bestellt ist, nicht die politisch korrekte Rhetorik. «Meinungen gibt es genug; was zählt, ist die messbare Wirkung», schreibt Hattie. Seine wichtigste Erkenntnis: Auf den Lehrer und seinen Unterricht kommt es an.
Hattie schrieb kein Rezeptbuch. Guter Unterricht kann vielfältig sein. Lehrerinnen und Lehrer müssen darum ihre persönlichen Wirkungen verstehen. Sie bringen eben ihre Persönlichkeit in den Unterricht ein – und nicht einfach ihr Wissen oder, wie es heute in der Erziehungswissenschaft heisst, ihre «professionelle Kompetenz». Und zu dieser Persönlichkeit bauen Kinder eine vertrauensvolle Beziehung auf.
Vertrauenswürdig und glaubwürdig muss darum der Lehrer sein. Das ist das Fundament jeder Schüler-Lehrer-Beziehung und hat nach Hattie einen der höchsten Effektwerte. Lernen basiert auf Vertrauen in den Lehrenden. Und deshalb ist auch qualifiziertes Feedback zwischen Lehrer und Schüler so wichtig, und zwar beiderseitig: Unterricht als sozialer Austausch zwischen Persönlichkeiten, als «meeting of minds», wie es der amerikanische Philosoph John Dewey nannte. Nicht umsonst wird einer der höchsten Effektgrade im Klassenunterricht und im entwickelnden Gespräch («reciprocal teaching») erreicht. Darum kommt es nicht einfach auf den einzelnen Lehrer an, sondern auf den Umgang zwischen ihm und seiner Klasse. Gutes, unterstützendes Klassenklima bewirkt viel, genauso wie die humane Energie des Lehrers für seinen Beruf. Darin zeigt sich die Persönlichkeit.
Mit der Glaubwürdigkeit dieses Engagements steht und fällt der Unterricht. Und mit der klaren und verständlichen Sprache. Nur so kann ein Lehrer den Unterricht präzis steuern und strukturieren, die Selbsteinschätzung des Leistungsstandes durch seine Schüler fördern und sie beim Lernen gezielt unterstützen. Hattie ordnet diesen Faktoren hohes Potential zu.
Kinder wollen einen Häuptling
Darum, so John Hattie, muss ein guter Lehrer mehr sein als nur ein Lernbegleiter oder Coach, darum muss eine gute Lehrerin mehr tun, als nur Lernumgebungen zu schaffen, als hier mal ein Arbeitsblatt auszuteilen, dort mal ein Experiment einzurichten. Ein guter Lehrer ist nicht «faciliator», er wirkt als «activator». Als Häuptling fordert er seine Klasse heraus und bringt so jeden Einzelnen an seine ganz persönlichen Grenzen.
Das taten meine Lehrer. Sie forderten uns und führten uns an Grenzen. Mit hohen Erwartungen, einem lernförderlichen Klima und gezielten Feedbacks, mit ihrer beruflichen Leidenschaft und pädagogischen Haltung. John Hattie gäbe ihnen hohe Werte. Von uns Schülern ganz zu schweigen.