Geistlos? Das Gegenteil ist der Fall. Ich schwimme in erster Linie nicht um der Gesundheit oder der Kondition willen – sie sind eher Nebeneffekte. Ich schwimme, um zu denken.
Befreiung des Gedankens
Schwimmen ist eine Denkübung. Nichts ist geistig anregender als die ruhige Dynamik des Kraulens, der kontrollierte Atem, die flache Lage im Wasser, die Synchronie von Beinschlag und Armzug in der Schwebe. Wenn man die elementare Technik einigermassen beherrscht, dann erlaubt der fliessende Automatismus das Aus-dem-Körper-Treten, die Ekstase der Schwimmbewegung, und das heisst: die hydrodynamische Befreiung der Gedanken. Man beginnt nicht nur im Wasser, sondern auch in Gedanken zu schwimmen. Sie nehmen nun selber einen flüssigen Aggregatszustand an.
Viele Schriftsteller sind leidenschaftliche Schwimmer. Die Affinität von Schwimmen und Schreiben liegt zunächst einmal in der Disposition. Gemäss dem Autor John von Düffel sind vor allem Disziplin und Kondition nötig: „Dabei ist die Kondition, die das Schreiben erfordert, sehr viel körperlicher und die Disziplin beim Schwimmen sehr viel geistiger, als man glaubt. Man braucht nicht nur einen eisernen Willen, um drei oder fünf Kilometer Wasser im Freistil zu durchpflügen. Man muss sich dem Wasser widmen mit einer Hingabe und inneren Beharrlichkei, wie sie eine grosse Geschichte von ihrem Erzähler verlangt.“
Reiz des Wassers
Wir sind Landtiere. Aber wir erliegen immer wieder dem Reiz des Ablandigen, des Wassers, des Amphibischen. Schriftsteller sind besonders anfällig dafür. Der bekannte Neurologe und Essayist Oliver Sacks schwamm bis kurz vor seinem Krebstod. In seiner Autobiographie mit dem bezeichnenden Titel „On the Move“ schreibt er: „Zeitlos zu schwimmen, ohne Furcht und Hast, entspannte mich und brachte meine Gedanken auf Trab, Ideen und Bilder, und manchmal ganze Absätze schwammen mir durch den Kopf, sodass ich immer wieder an Land rannte, um sie auf die gelben Blätter eines Schreibblocks zu giessen, der auf dem Plastiktisch am Ufer lag. Dabei hatte ich es manchmal so eilig, dass ich mir noch nicht einmal die Zeit zum Abtrocknen nahm, sondern nass und tropfend zum Block eilte.“
Der Hang zum Wasser ist mitunter fatal. Der Romantiker Percy Bysshe Shelley hatte nie schwimmen gelernt und war doch aufs Wasser fixiert, sein „Schicksals-Element“, wie dies ein Zeitgenosse bezeichnete. Er ertrank, unermüdlich nach dem Geist Griechenlands suchend, auf einer Bootsfahrt im Golf von La Spezia, in den Händen eine Ausgabe von Sophokles.
Goethe dagegen galt als bester Schwimmer in Weimar. Eine richtige Wasserratte, quasi-erotisch vom Element angezogen. Die Metaphorik des Schwimmens zieht sich durch sein ganzes Werk. In einem Brief vergleicht er den Beginn einer Liebesaffäre mit den Anfangsempfindungen des Ins-Wasser-steigens: „Ehe der Mensch sich einer Leidenschaft überlässt, schaudert er einen Augenblick davor, wie vor einem fremden Element; doch kaum hat er sich ihr ergeben, so wird er, wie der Schwimmer von dem Wasser, angenehm umfasst und getragen, er befindet sich in dem neuen Zustand wohl und gedenkt nie eher an den festen Boden, bis ihn die Kräfte verlassen oder der Krampf ihm droht, ihn unter die Wellen zu ziehen.“
Das Vorbild Frosch
Wir sind evolutionär nicht als Schwimmer angelegt wie die Wassertiere. Schwimmend hebt sich der Mensch aus der Natur. Man kann dies an den Schwimmstilen verfolgen. Im Wasser „regredieren“ wir, werden zu Vierfüsslern. Man sieht dies vor allem bei Nichtschwimmern, die sich vierfüssig, im Paddelstil der Hunde, über Wasser halten. Babys machen erste Wasserbekanntschaften im Hundestil.
Aber die „kultivierten“ Schwimmarten nehmen nicht am Hund Mass, sondern am Frosch. Vor allem seine Beinbewegung war Vorlage für den Bruststil. Man sprach auch vom „Froschstoss“. Und er erinnert an eine seltsame Lernmethode, die vor allem im England des 19. Jahrhunderts im Schwang war: Schwimmen als Trockenübung. Eine Anleitung aus dem Jahre 1879 empfiehlt den Schwimm-Novizen, einen halbvollen Zuber Wasser auf den Zimmerboden zu stellen, einen Frosch hinein zu setzen, sich über ihm waagrecht auf einen Stuhl zu legen und die Bewegungen des Tiers nachzuahmen.
Satire aus dem 17. Jahrhundert
Diese Lernpraktik war schon im 17. Jahrhunderts bekannt. Vor allem als Objekt des Spotts. Der britische Komödiendichter Thomas Shadwell schrieb eine Satire mit dem Titel „Die Virtuosen“, in welcher eine der Figuren, Sir Nicholas Gimcrack, das Schwimmen in der Art der Froschnachahmung übt. Zwei Beobachter, Longvil und Bruce, befragen ihn über diese Methode. Der Dialog ist denkwürdig.
Longvil: Haben Sie es je im Wasser versucht, Sir?
Sir Nicholas: Nein, aber ich schwimme vorzüglich an Land.
Bruce: Haben Sie vor, im Wasser zu üben?
Sir Nicholas: Niemals. Ich hasse Wasser. Ich gehe nie ins Wasser.
Longvil: Aber dann hat das Schwimmen keinen Nutzen.
Sir Nicholas: Ich gebe mich mit dem spekulativen Teil des Schwimmens zufrieden; ich kümmere mich nicht um die Praxis. (...) Ich führe selten etwas aus, das ist nicht mein Stil. Wissen ist mein letztes Ziel.
Shadwell nimmt die neue Wissenschaft der Royal Society ins satirische Visier. Als „virtuosi“ bezeichneten sich damals deren Mitglieder, Verfechter einer „experimentellen Philosophie“. Sie lehnten die alte Büchergelehrtheit ab, und einige steigerten sich in einen Forschungseifer hinein, mit dem sie alles Neue, Exotische, Bizarre, Monströse studierten, an oft absurden Experimenten und Demonstrationen, über die sie sich dann in ausufernden Spekulationen ergingen. Trockenübungen in den Augen von Shadwell.
Philosophische Trockenschwimmer
Nun steckt allerdings, bei aller Lächerlichkeit, ein ernsthaftes Problem in dieser Methode. Schwimmen lernen, ohne nass zu werden – man könnte dies als Formel dafür interpretieren, Fertigkeiten erst dann ausüben zu wollen, wenn man alles weiss über sie. Es ist dies eine rationalistische Lerntheorie: Das Verständnis einer Tätigkeit kommt vor ihrer Ausübung. Wissen steht über Können.
Der Philosoph Hegel warf dem Philosophen Kant vor, dass er dem Menschen Denkgrenzen ziehe, ohne doch zu wissen, wie weit uns das Denken tragen kann. Er verglich Kant quasi mit einem Trockenschwimmer: „Die Untersuchung des Erkennens kann nicht anders als erkennend geschehen; bei diesem sogenannten Werkzeuge heisst dasselbe untersuchen nicht anders als es erkennen. Erkennen wollen aber, ehe man erkenne, ist ebenso ungereimt, als der weise Vorsatz jenes Scholasticus, schwimmen zu lernen, ehe er sich ins Wasser wage.“ (Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften, § 10).
Ausüben vor Verstehen
Hegel hält Kant also entgegen, dass man eine Tätigkeit, eine Fertigkeit nur lernt, indem man sie ausübt. Ausüben kommt vor Verstehen: „Allez en avant et la comprehension vous viendra.“ Daran ist so viel richtig, als man eine Fähigkeit nur dann verbessert, wenn man sie vorher schon praktiziert hat. Ein Pianist verbessert Spiel und Stil nicht, wenn er seine Hände von der Klaviatur lässt. Verbessern kann man nur das, was man schon tut.
Wir schwimmen im Hundestil und merken auf einmal, dass es anders besser geht. Wir korrigieren ihn. Lernen beruht auf repetieren, rekurrieren, das heisst: eine begonnene Schlaufe immer wieder durchlaufen. Eine solche Schlaufe bedeutet Routine, wörtlich: Routenkenntnis, Wegerfahrung. Alle unsere Körpertechniken sind in diesem Sinne Routinen. Und ein Grossteil des Wissensfortschritts beruht auf ihnen, nämlich darauf, dass wir die Schlaufe aufbrechen. Ohne Routine keine Spontaneität und Kreativität.
Musils Paradoxon des Kraulens
Robert Musil, auch er ein passionierter Schwimmer, beklagte einmal in einem Brief, dass ihn das Schwimmen vom Arbeiten abhalte, „da man nicht das Manuskript ins Wasser nehmen kann.“ Er lernte das Kraulen 1925 bei einem Wettbewerb am Wörthersee kennen und er nahm Trainingsstunden in Wien.
In einem in Briefform gestalteten Essay über „Kunst und Moral des Crawlens“ (1932) spricht er vom „Paradoxon des Crawlens“. Musil, mathematisch gebildeter Mensch, als der er gern auftrat, hat es in eine Formel gegossen: „a < c und b < d, und trotzdem a + b > c + d.“
Wenn wir „<“ als „langsamer“ und „>“ als „schneller“ deuten, drückt sich das Paradox in Worten so aus : Mit den Armen allein schwimmst du im Kraulstil (a) langsamer als im Bruststil (c); mit den Beinen allein schwimmst du im Kraulstil (b) langsamer als im Bruststil (d). Und trotzdem schwimmst du mit Armen und Beinen zusammen im Kraulstil (a + b) schneller als im Bruststil (c + d). Dieses Paradox muss auch Beobachter verwundert haben, als sie zum ersten Mal sahen, wie Kraulschwimmer Brustschwimmer besiegten.
Motiv der Sportentwicklung
Was Musil dabei irritiert, ist eine Kluft des Erklärens. Wir können uns das Brustschwimmen ziemlich gut biomechanisch und hydrodynamisch plausibel machen, aber das Kraulen bereitet diesbezüglich Schwierigkeiten. Wir erlernen eine Sportart und begreifen das Erlernte nur rudimentär. Hier wird eine Spanung sichtbar, die als mächtiges Motiv für die Entwicklung des Sports wirkt. Etwas nicht ganz begreifen, was man trotzdem schon einigermassen kann, setzt ja explikative Energien frei, den Wunsch, es besser zu verstehen.
Musil macht also eine wichtige Entdeckung, die sich vor allem industriell und kommerziell ausnutzen lässt. Ein ungeheures Potenzial der „Verbesserung“ des Menschen könnte darin liegen, durch geeignete Kombination der Einzelbewegungen einen leistungsfähigeren Sportler, Arbeiter, Soldaten heranzuzüchten.
Frederick Winslow Taylor erkannte dies früh für die Fabriken. Und heute, im globalkapitalistischen System, unterzieht man die Bewegungsabläufe des Athleten aufs Minutiöseste einer wissenschaftlichen Analyse, vom biomechanischen Bau seines Körpers und seiner psychischen Disposition, über die Materialstudien seiner zulässigen Hilfsgeräte, bis zum unzulässigen „Enhancement“ durch Doping. Sport ist ein technisch-wissenschaftlich-ökonomischer Komplex von gewaltiger Bedeutung und jede Rechtfertigung als „Veredelung“ des Menschen, wie sie wieder einmal an der Olympiade von Rio zu vernehmen war, kann heute nur noch hohl und höhnisch klingen – sie tat es bereits bei Baron de Coubertin und seiner Religion der Muskulatur.
Eine Form von Glück
Man sagt, wenn man sich in einem Gebiet – in der Thermodynamik, in der Differentialgeometrie, in der Programmiersprache Pascal – nur behelfsmässig auskennt: Ich komme ins Schwimmen. Das heisst, ich bin zwar schon hineingesprungen, habe mir einiges Wissen und Können angeeignet, bin aber unsicher, und im Ganzen eher orientierungslos. Ein Grundzustand des Anfängers.
Diese Unsicherheit muss nun nicht negativ beurteilt werden. Ich schwimme – das heisst ja immerhin: Ich gehe nicht unter. Im Schwimmen steckt der Appell zu üben, sich zu verbessern, und zwar fortgesetzt. Als geübter Schwimmer kann ich dann auch einmal abtauchen, die Tiefe abtasten. Unter Wasser hält man es auf Dauer ohnehin nicht aus. Und den Dingen auf den Grund zu gehen, kann höchst anstrengend, ja lebensgefährlich sein. So gesehen, bedeutet Schwimmen, mit Nietzsche gesprochen, oberflächlich zu sein aus Tiefe. Es handelt sich um eine Form von Glück.
Den Geist des Schwimmens erreicht man gerade durch seine vermeintliche Geistlosigkeit. Heisst das, dass der Schwimmsport geeignet ist, den Geist zu fördern? Das wäre ein gewagter Schluss. Geben wir dem Schwimmer Musil das letzte Wort: „Das Dummsein-Dürfen ist überhaupt ein Reiz des Sports: Es ist nur Klugen zuträglich.“