Bevor es zur vorgesehenen Sache geht, muss dem Zeitgeist Referenz erwiesen und Tribut bezahlt werden. So will es ja der Fifa-Verein. Dazu kommt, dass ein Kollege eines sogenannten Zürcher Qualitätsblattes, dessen Name hier taktvoll beiseite gelassen werden soll, neulich Journalisten und Journalistinnen so richtig liebevoll pauschal als Lemminge apostrophiert hat. Er muss es ja wissen, der Ober-Lemming! Weil dem offenbar so ist, renne ich als gelehriger Lemming der Wühlmaus-Meute hinterher und deponiere hier pflichtgemäss Fussballerisches aus dem Reich der Mitte.
Fussball erfunden und von Korruption befreit
Die Engländer sollen den Fussball erfunden haben. Are you kidding? Dann schon eher die Basler. Im Ernst muss aber zuerst einmal mehr klipp und klar festgestellt werden, dass der Fussball in China erfunden worden ist. Wo sonst? Eben! Unbestreitbar ist aber auch, dass der chinesische Fussballverband korrupt ist, beziehungsweise bis vor kurzem war. Der Präsident und sein Vize sitzen mittlerweile wegen Korruption hinter Gittern und zwar länger, viel länger als der Uli aus Bayern.
Unser aller Josef «Sepp» Blatter und seine Fifa-Exekutiv-Kollegen haben daraus nichts gelernt. Müssen sie ja auch nicht. Sie alle haben – wie wir von den Sportjournalisten-Lemmingen wissen – eine blütenweisse Weste. Vorläufig jedenfalls. Chinas Fussball, wo früher vom Spieler über den Schiedsrichter bis hin zu den Club- und Verbands-Funktionären alles käuflich war, ist jedenfalls wieder einigermassen sauber. Das ging ohne Ethik-Kommission, notabene. Dafür gibt es in China schliesslich die allmächtige Kommunistische Partei.
Public Viewing von Mitternacht bis acht Uhr früh
Das Fussballfieber mit Public Viewing und all dem Firlefanz, Caipirinhas und Bier hat mittlerweile auch in China Einzug gehalten. An den Schlaf des Gerechten ist vorläufig nicht mehr zu denken, zumal mit der Zeitverschiebung der früheste Anpfiff um Mitternacht und der späteste Spielbeginn um sechs Uhr in der Früh erfolgt.
Doch Ausschlafen ist trotz Arbeit kein Problem. Das journalistische Megaphon der Kommunistischen Partei, Renmin Ribao (Volkszeitung), berichtet nämlich unterdessen in leicht tadelndem Unterton, dass für lumpige 47 Yuan (umgerechnet etwa sieben Franken) mühelos eine eintägige Absenz mit einem Arztzeugnis gerechtfertigt werden kann.
Wettfieber trotz rigorosem Verbot
Das ist noch nicht alles. Es kommt noch schlimmer, wie die offizielle englischsprachige Regierungszeitung «China Daily» in neutralem News-Ton vermeldet. Die Behörden warnen vor illegalen Wetten auf WM-Spiele. Glücksspiel nämlich ist in ganz China – ausser den Sonderverwaltungszonen Macao und Hongkong – strikte verboten.
Es gibt unterdessen zwei Anbieter – 500.com und sporttery.cn – die legal die chinesischen Massen zum Zocken verführen dürfen. Und wie! Schliesslich, so sehr wahrscheinlich die Überlegung der Behörden, wollen wir das lukrative Business nicht den Ausländern, den Barbaren überlassen. Und dann geht es offiziell so richtig zur Sache. Wer zum Beispiel alle 63 Matches richtig voraussagt, dem winken 100 (hundert) Millionen Yuan. Das sind derzeit umgerechnet immerhin 14'394’450 Franken und 30 Rappen. Doch schon vor der WM wird seit Jahren auf europäischen Fussball gesetzt, und jetzt für die WM ist das Wettfieber rasant angestiegen. Die illegale Zockerei läuft unterdessen über ausländische Anbieter wie geschmiert auf dem Internet weiter.
Im Fussball noch keine Grossmacht
China ist zwar eine Wirtschafts-Grossmacht, doch im Weltsport Fussball hat China (noch) wenig zu sagen. Das einzige Mal nahm China 2002 in Südkorea/Japan an den Weltmeisterschaften teil. Ähnlich wie jeweils die Schweiz mit grossen Träumen und wenig Erfolg. Dennoch, ich gestehe es als Lemming ungern ein, prognostizierte ich damals in Soeul, dass Chinas Kicker «spätestens» 2018 Weltmeister werden. Vom heutigen Standpunkt aus gesehen wäre schon die Prognose, dass China 2018 überhaupt die Qualifikation schaffen wird, verwegen. Aber abwarten und Grüntee trinken. Denn der Ball ist, wie Sepp, Uli, Franz und alle Fussball-Experten und Public-Viewer weltweit wissen, rund, kugelrund. Das dem so ist, weiss selbst der liebe Gott seit dem goldenen Händchen von Diego «Hand Gottes» Maradona an der WM 1986.
Im Ernst, seit Chinas Fussball wieder sauber ist, steigt die Qualität des Spiels. Staats- und Parteichef Xin Jinping ist ein bekennender Fussball-Fan. Neulich auf Staatsbesuch in Deutschland, Holland und Frankreich war auch Fussball ein Thema. Auf höchster Ebene, sozusagen. Die Fussball-Experten Merkel und Hollande werden Xi wohl Geheimnisse zugeflüstert haben. Im Fifa-Ranking von Sepps Gnaden jedenfalls schafft es China derzeit immerhin auf Rang 103.
Import von Fussball-Know-how
Fussball-Akademien in Zusammenarbeit mit europäischen Grossklubs wie Chelsea oder Real Madrid, die den chinesischen Markt nicht verpassen wollen, schiessen aus dem Boden wie chinesische Gurken nach einem Monsun-Regen. Chinas Milliardäre halten sich neuerdings anstatt eines Pekinesen-Schosshündchens einen Fussballklub. So ist gerade Internet-Visionär und Alibaba-Gründer Jack Ma bei Guangzhou Evergrande eingestiegen. Das ist nicht nichts. Guangzhou Evergrande hat eben das asiatische Pendant zur europäischen Champions League gewonnen. Trainer aus Europa und Lateinamerika heben das Niveau und alternde Kicker aus Europa und Lateinamerika heben nochmals für ein, zwei Jahre ihre Saläre auf mehrere Millionen Dollar an.
Mein Heimclub FCB – FC Beijing Guo’an in den Farben Gelb-Grün – war auch schon mal chinesischer Meister. Ob nun mit oder ohne Murat Yakin, mein Jugend-Heimclub FCB – FC Basel in Rot-Blau – würde gegen den FCB Guo’an krass verlieren. Nicht 2:1, sondern 5:2 oder gar 5:0. Wetten? Und hier, nach genau 5‘594 Zeichen, 7 Paragraphen, 93 Linien und 798 Wörtern ertappe ich mich dabei, wie ich, ohne es zu merken, voll in die Lemming-Falle getreten bin. Vielleicht hat der rührige Zürcher Ober-Lemming mit seiner Hypothese des Rudelverhaltens von Kolleginnen und Kollegen doch recht.
Weltmeister im Jahr 2050
Sei’s drum! Bevor ich mich als Lemming verabschiede hier ein Zitat des grossen kleinen Napoleon von 1817: «China ist ein schlafender Drache. Lasst ihn schlafen! Denn wenn er sich erhebt, erzittert die Welt!» Deshalb meine ultimative Prognose: Der schlafende Fussball-Drache China wird erwachen und allerspätestens im Jahre 2050 Weltmeister. Die Fussball- und Fifa-Welt wird erzittern. Wetten? Ich lasse mich darauf behaften!
PS: In einer Woche werde ich mich, fern aller Sportjournalisten-Lemminge, dann wirklich dem Radsport auf höchster chinesischer Ebene widmen. Die Tour de Suisse ist dann halt schon vorbei, nicht aber die Tour-Saison mit dem Höhepunkt der Tour de France. Und dies vor allem: der Tour de Qinghai!