Der im Juli 1921 geborene Franzose Edgar Morin gilt nach Angaben seines Verlegers als «einer der grössten Denker unserer Epoche». Jetzt hat er einen «Friedensplan» für die Ukraine vorgelegt – eine bedenkenswerte Gedankenübung, die einigen Wirbel verursachte und zur Zeit wohl chancenlos ist.
Morin, Philosoph und Soziologe, entstammt einer sephardisch-jüdischen Familie aus Thessaloniki. Er selbst bezeichnet sich als überzeugten Atheisten. Während des Zweiten Weltkrieges war er aktiv für die französische Résistance tätig. Damals trat er auch der Kommunistischen Partei bei, mit der er sich aber schnell überwarf.
Morin gilt in Frankreich als brillanter Intellektueller und war häufig Gast in Fernsehsendungen und philosophischen Zirkeln. Zu seinem hundertsten Geburtstag wurde er im Élysée von Präsident Macron empfangen.
«Explosive Situation»
Jetzt hat der mit Preisen überhäufte Denker (er erhielt sogar das Grosskreuz der Ehrenlegion) ein genau hundert Seiten dickes Bändchen vorgelegt. Darin macht er sich Gedanken zu einer Lösung des Ukraine-Krieges.
Schon 2014, nach der Eroberung der Krim durch Russland und der Besetzung des Donbass durch pro-russische Partisanen, hatte Morin in einem Artikel eine «explosive Situation» und eine «Katastrophe» prophezeit. Er sollte recht behalten.
«Besonders destruktives Verhalten»
In «De guerre en guerre» zeigt er sich jetzt erstaunt, dass heute so wenige Leute über einen möglichen Ausweg aus dem Krieg nachdenken. Morin ist keineswegs ein «Putin-Versteher», im Gegenteil: Er bezeichnet ihn als «evidenten Aggressor» mit einem «besonders destruktiven Verhalten», der davon träume, «das slawische Reich» (l’Empire slave) wieder zu errichten.
Da 2017 ein Komiker (Selenskyj) als Präsident gewählt wurde, habe Putin geglaubt, das Land sei geschwächt und eine leichte Beute. Der russische Präsident habe auch damit gerechnet, dass sich die USA nach ihrem Rückzug aus Afghanistan nicht in ein neues militärisches Abenteuer einlassen wollten. Zu all dem habe Präsident Biden offiziell erklärt, dass im Falle eines Krieges die USA sich nicht einmischen würden. Man könne sich heute fragen, erklärt Morin, ob sich Biden bewusst war, was er damals gesagt hat.
«Zement für die nationale Integrität»
Putin sei überzeugt gewesen, die EU sei gespalten und geschwächt. Nachdem sich der Westen bei der Eroberung der Krim und der Besetzung des Donbass eher ruhig verhalten hatte, habe der Kreml-Chef im Februar 2022 geglaubt, die Regierung in Kiew würde schnell stürzen und die ukrainische Armee würde kapitulieren.
Doch statt eines «Zersetzungsprozesses» (processus désintégrateur), mit dem Putin rechnete, sei mit der Invasion das Gegenteil geschehen: Der Widerstand gegen den Aggressor habe sich gefestigt und wurde zu «einem Zement für die nationale Integrität».
Die ganze Ukraine
Es sei klar, dass Putin mit seinem Überfall und seiner Offensive auf Kiew entweder eine Marionettenregierung einsetzen oder die ganze Ukraine annektieren wollte. Wäre es einzig um den Donbass gegangen, hätte er sich darauf beschränkt, den Donbass anzugreifen, erklärt Morin.
Die Situation sei heute unklar, doch es sei unwahrscheinlich, dass Russland die ganze Ukraine erobern könne.
Kaum Stimmen für den Frieden
«Es ist erstaunlich», schreibt Morin, «dass in einer solch gefährlichen Zeit, in der die Gefahr ständig wächst, sich in den hauptbetroffenen Ländern (vor allem in Europa) nur wenige Stimmen zugunsten des Friedens erheben.» Es sei überraschend, wie wenige sich «eine Friedenspolitik» vorstellen und fördern.
Wenn man von einem Waffenstillstand oder von Verhandlungen spreche, werde das als «schändliche Kapitulation» abgetan, erklärt der bald 102-Jährige.
«Objektive Bedingungen für einen Kompromiss»
Da auf dem Schlachtfeld ein «relatives Gleichgewicht» der Kräfte herrsche und keine Kapitulation der einen oder anderen Seite zu erwarten sei, seien «die objektiven Bedingungen für einen Kompromiss» vorhanden. Der gegenseitige Hass werde jedoch den Konflikt nur noch schlimmer machen.
Putin sei, so glaubt Morin, «genug realistisch, um einen Schritt zurück» zu machen. Er habe dies in Georgien getan, als er sich mit einigen Brosamen begnügte. Er habe es in der Ukraine nach dem gescheiterten Angriff auf Kiew getan.
«Ist es nicht möglich, mit einem Despoten zu verhandeln?», fragt Morin. Putin sei «ein Erbe des Zarismus und des Stalinismus, ohne Zar oder Stalin zu sein». Der Westen habe mit Stalin und Mao verhandelt und tue es heute mit Xi Jingping. Putin sei «ein Despot, der fähig ist, realistisch zu sein».
Die Ukraine als unabhängigen Staat anerkennen
Wie sieht laut Morin ein Friedensplan aus?
Klar sei: Die Unabhängigkeit der Ukraine müsse anerkannt werden, entweder mit einem neutralen Status oder als Mitglied der EU – und mit militärischen Garantien.
Im Gegenzug müsse in den separatistischen Gebieten des Donbass eine Volksabstimmung unter internationaler Beobachtung stattfinden mit der Frage: Wollt ihr zu Russland oder zur Ukraine gehören? (Oder: Wird der Donbass als historisch russisches Gebiet anerkannt?)
Die Krim, russisch?
Auf der Krim sei die Mehrheit der Bevölkerung russisch-stämmig. «Die Logik würde es gebieten», sagt Morin, «dass die Krim russisch bleibt.» Allerdings müsste in Verhandlungen geklärt werden, wer und wie militärisch auf der Krim das Sagen hat.
Russland müsse sich am materiellen Aufbau der von der russischen Armee in Trümmern gelegten Ukraine beteiligen.
Die ukrainischen Häfen am Asowschen und Schwarzen Meer, Odessa, Mariupol und Berdiansk, sollten auf ukrainischem Gebiet zu Freihäfen werden.
***
Kein Schwarz-Weiss-Maler
Morins Streitschrift wird wohl weder in Moskau noch in Kiew zur Kenntnis genommen. Beide Seiten führen Argumente ins Feld, um den Krieg weiterzuführen.
Morin sieht die Ukraine nicht in einem verklärten Licht. Er ist kein Schwarz-Weiss-Maler. Er spricht von der Korruption im Land und der starken Stellung der Oligarchen.
Er erwähnt auch den seit Jahren anhaltenden zunehmenden wirtschaftlichen und politischen Druck des Westens auf das Land und die Tatsache, dass die Nato immer näher an die russische Grenze heranrückt.
Argumente der Ukraine
Die Ukraine ist ein in den Grenzen von 1991 völkerrechtlich anerkannter Staat. Auch Russland hatte diese Grenzen anerkannt. Der Donbass und die Krim gehören also nach internationalem Recht zur Ukraine. Wieso soll sich also die ukrainische Regierung bereit erklären, den Donbass und die Krim herzugeben? Im Westen hat man nicht zu Unrecht viel Verständnis für die ukrainische Haltung, die besagt: Der Krieg ist erst zu Ende, wenn der letzte russische Soldat die Ukraine verlassen hat.
Zudem: Die Ukraine erlebt noch immer eine riesige Solidaritätswelle. In den nächsten Tagen, Wochen und Monaten wird das Land zusätzliche grosse Mengen modernster Waffen wie Panzer und Flugabwehrsysteme erhalten. Kiew bereitet sich auf eine grossangelegte Gegenoffensive vor. Die russische Armee wirkt zunehmend unstabil. Putins Auftritte zeigen, dass er nervös ist. Unter diesen Voraussetzungen wird die Ukraine nicht zu Landkompromissen bereit sein. Man gibt einen Krieg nicht auf, wenn die Chance gross ist, dass man den Gegner zurückdrängen und den Krieg sogar gewinnen kann.
- Donbass
Vor dem jetzigen Krieg waren in den «Volksrepubliken» Donezk und Luhansk knapp 40 Prozent der Bevölkerung russisch-stämmig. Das heisst nicht, dass sie Pro-Putin und Pro-Russland sind. Bei der Volksabstimmung am 1. Dezember 1991 (nach dem Kollaps der Sowjetunion) hatten in Donezk und Luhansk je 84 Prozent der Stimmenden für die Unabhängigkeit der Ukraine gestimmt. Viele Ostukrainer sind inzwischen wegen der Kämpfe, der Kriegsverbrechen und der Zerstörungen in den Westen geflohen (nur wenige nach Russland). Es ist anzunehmen, dass wegen des brutalen Kriegs, den Putin begann, viele Bewohner und Bewohnerinnen des Donbass lieber zur westlich orientierten Ukraine als zu Russland gehören wollen. Putin kann also keinesfalls damit rechnen, dass eine international überwachte Volksabstimmung im Donbass zu seinen Gunsten ausfällt.
- Krim
Auf der Halbinsel Krim, die Chruschtschow 1954 der Ukraine schenkte, besteht die Bevölkerung heute aus knapp 60 Prozent Russisch-Stämmigen. Doch Indizien deuten darauf hin, dass ein grosser Teil von ihnen lieber zur westlich orientierten Ukraine gehören möchte – einer Ukraine, die ihnen ein besseres Leben verspricht. Zwar haben sich in einer Volksabstimmung am 16. März 2014 – nach der russischen Annexion der Krim – offiziell 95,5 Prozent der Stimmenden für den Anschluss an Russland ausgesprochen. Doch die Abstimmung gilt als reine Farce. Offenbar wurde der grosse Teil der Stimmen gar nicht ausgezählt. Unabhängige Wahlbeobachter gab es nicht. Die Stimmbeteiligung habe bei 82 Prozent gelegen, obwohl viele Stimmlokale am Abstimmungstag fast leer waren.
Wichtiger als die Abstimmung am 16. März 2014 war jene am 1. Dezember 1991. Damals hatten auf der Krim gut 54 Prozent der Stimmenden für die Unabhängigkeit der Ukraine (inklusive Krim) gestimmt. In Sewastopol waren es 57 Prozent. Auch hier gilt: Der von Putin vom Zaun gebrochene Krieg mit seinen Brutalitäten und Menschenrechtsverletzungen könnte viele Krim-Bewohner und -Bewohnerinnen abschrecken, sich Russland zuzuwenden.
Aus diesen Gründen wird sich Putin wohl davor hüten, im Donbass und auf der Krim international überwachte Volksabstimmungen durchführen zu lassen. Die Möglichkeit, dass er sie verliert, ist riesig.
Argumente Russlands
Andererseits besteht – zurzeit – auch nicht die Hoffnung, dass Putin zurückkrebst. Er ist zu weit gegangen, er kann nicht nachgeben. Sonst würde er sein Gesicht (und seine Macht?) verlieren.
Putin ist fest der Ansicht, die Ukraine gehöre zum «historischen Russland», zur «heiligen russischen Erde». Die Ukraine und Russland hätten eine gemeinsame tausendjährige Geschichte. Die USA und der übrige Westen setzten alles daran, die Ukraine auf die westliche Seite zu ziehen, um damit Russland als (einst) geopolitische Macht zu schwächen. Putin sieht sich von Feinden umzingelt.
Zwei imperiale Wünsche
«In Wirklichkeit geht es in der Ukraine um zwei imperiale Wünsche», schreibt Morin. «Die eine Seite (Putin) will ihre Herrschaft über die slawische Welt bewahren und sich vor einem von den USA beeinflussten Nachbarland schützen.
Die andere Seite will die Ukraine in den Westen integrieren und Russland den Rang einer globalen Supermacht streitig machen.» Morin lässt jedoch immer wieder klar durchblicken, dass nichts, aber auch gar nichts, Putins Krieg, die Völkerrechtsverletzungen und seine Kriegsverbrechen rechtfertigten.
Die Armee neu aufstellen
Fest steht, wie Morin sagt, dass Putin die ganze Ukraine und nicht nur den Donbass erobern will. Und wer sagt, dass der Kreml-Diktator einen Waffenstillstand nicht einfach benützen würde, um seine Armee neu aufzustellen, um dann erneut zuschlagen zu können: in der übrigen Ukraine, in Moldawien – überall dort, wo es «russische Erde» zu holen gibt?
Vielleicht sollte man Morin heute fragen, ob er immer noch der Ansicht ist, dass Putin nach einem Jahr wirrer, brutalster russischer Kriegsführung «ein realistischer, rationaler» Mensch ist. Hat sich der Kreml-Chef nicht in einen Wahn hineingesteigert und jeden Bezug zur Realität verloren?
Noch geht der Horror weiter
Edgar Morins Gedankenspiel ist ehrenwert. Er will endlich, dass die Schlächterei in der Ukraine aufhört. Und er will, dass man sich auch im Westen endlich Gedanken macht, wie dies geschehen könne.
Doch der Krieg in der Ukraine ist – so brutal es klingt – noch nicht «reif genug» für einen Ausweg. Noch glauben beide Seiten, die Oberhand gewinnen zu können. Noch geht der Horror weiter.
Morins Streitschrift endet mit den Worten: «Je schlimmer der Krieg wird, desto schwieriger und dringender wird es, den Frieden zu erreichen.»
Und: «Verhindern wir einen Weltkrieg. Er wäre schlimmer als der vorangegangene.»
Edgar Morin: «De guerre en guerre», Éditions de l’Aube, La Tour-d'Aigues, Januar 2023.
Inzwischen ist das Büchlein auch auf Deutsch erschienen.
Edgar Morin: «Von Krieg zu Krieg», Turia + Kant, Wien, Berlin, März 2023