Veränderungswellen jagen sich derzeit in der Arbeitswelt: betriebliche Restrukturierungen, technologische Neuerungen, Marktsprünge. Keiner kann wissen, was morgen kommt. Und man soll es auch gar nicht, denn dem Neuen an sich wird ein unwiderstehlicher Reiz zugeschrieben. Es herrscht ein eigentlicher Kult des Change. Der hat eingesetzt in den frühen Neunzigern, als der Wettbewerb global geöffnet wurde, und aktuell scheint sich im Zeichen der Digitalisierung das Tempo des Umbruchs noch einmal zu beschleunigen.
Selektionsschere
Keine Frage gibt es dabei Verlierer, eine zunehmende Zahl von Menschen, die mit der Pace nicht mithalten können. Sie fallen in prekäre Arbeitsverhältnisse oder werden vom Sakrament der Arbeit gleich ganz ausgeschlossen. In vielen europäischen Ländern ist die Arbeitslosigkeit, besonders unter den Jungen, nach wie vor erschreckend hoch. Auch in der Schweiz haben Ältere, die ihren Job verlieren, mässige Chancen auf eine berufliche Reintegration.
Lange hat sich eigentlich gegen diese Entwicklung kaum politischer Widerstand geregt. Sie ist teilweise sogar von linken Parteien durch liberale Reformen vorangetrieben worden. Erst seit relativ kurzem gibt es den populistischen Protest, der sich über den Veränderungsdruck erbittert, wobei er die Problematik allerdings äusserst borniert behandelt, indem er sie aufs Thema der Migration verengt.
Faktisch wirkt der permanente Wandel in der Arbeitswelt als die Selektionsschere, welche zur aktuellen Spaltung der postindustriellen Gesellschaften geführt hat. Da fragt es sich schon, warum nach wie vor eine Mehrheit bereitwillig mitmacht, warum der Kult des Change nicht schon längst mehr und deutlichere Kritik auf sich gezogen hat.
Gründe für die Bereitschaft
Selbstverständlich gibt es auf der Seite der Arbeitsuchenden eine ganze Reihe von pragmatischen Gründen für diese Bereitwilligkeit: Einmal lässt sich jede einzelne Veränderung leicht mit Markt und Wettbewerb begründen, stellt sich somit als unumgängliche Notwendigkeit dar, wodurch Widerstand als Kampf gegen Windmühlen erscheint. Dann birgt natürlich auch jeder Umbruch das Versprechen eines persönlichen Gewinns, und weil niemand sich gern als Verlierer sieht, hoffen alle, die Kurve nach oben irgendwie zu kriegen.
Entscheidend ist jedoch das veränderte Machtverhältnis zwischen Arbeitgebern und -nehmern. Jobverlagerungen und Automation setzen Letztere gewaltig unter Druck. Vor die Wahl gestellt, arbeitslos dazustehen oder schlechtere Bedingungen zu akzeptieren, wählen die Allermeisten das Letztere. Unter solchen Umständen fehlt zuletzt auch die Kraft, das Spiel im Ganzen anzuzweifeln.
Der Stein des Sisyphos
Aber abgesehen vom materiellen Anreiz durch Zuckerbrot und Peitsche gibt es seit drei Jahrzehnten auch eine massive ideologische Massage zugunsten des Change. Die wendet sich zuerst einmal an den Narzissmus der einzelnen, an deren Bild von der eigenen Stärke. Hierher gehören die Narrative von Selbstverantwortung und unternehmerischer Challenge. Selbst für den Fahrer bei Uber oder einem privaten Lieferdienst gilt das Leitbild des Chaospiloten, auch wenn es nur darum geht, soziale Sicherung und unternehmerische Risiken nach unten abzuwälzen.
Mitunter wird auch die Philosophie bemüht. Vor allem in den Nähkästchen des Existenzialismus finden sich Geschichten, welche den Wandel oder aber die Resilienz gegenüber dem Unausweichlichen verherrlichen. Da lässt sich dann Camus auffahren oder gleich Heidegger. Sisyphos wälzt seinen Stein auf den Berg, mit heroischem Gleichmut, bereit, die Last der Existenz zu tragen. Und diese ist im Kern ein «Entwurf». Der Mensch seinem Wesen nach offen auf das Neue hin. Dem hat er sich zu stellen, sonst verfehlt er sich selbst.
Wer will sich da noch dem Sprung nach vorn verweigern? Das wäre ein kleinkariertes spiessiges Sicherheitsdenken, das sich von seiner Ängstlichkeit um Chancen betrügen lässt. Über sich hinausgehen, die Grenzen zu sprengen, darin besteht der Weg zur Selbstverwirklichung. Da wirkt es unsexy, im dauernden Wandel ein Rattenrennen zu sehen, denn das zeugte von Bequemlichkeit oder geistiger Ermattung, auf jeden Fall von fehlender Power.
Disruptionspflicht
Aber die Peitsche ist durchaus auch in die Ideologie eingebaut: Flexibilität, so wird uns eingebläut, ist die Schlüsselkompetenz schlechthin; sie stetig unter Beweis zu stellen, sichert die Arbeitsmarktfähigkeit und das materielle Fortkommen. Bei Innovationen nicht mitziehen, gar Sand ins Getriebe schütten wollen, geht gar nicht; damit bleibt man den Nachweis der richtigen Einstellung schuldig, vielleicht mit Konsequenzen. Grund genug, allfällige Zweifel oder Widerstände zu verschweigen.
Wir leben in einer Welt, in der dem Neuen der fraglose Vorrang vor dem Alten zukommt. Stillstand ist Rückschritt, Anhalten demnach keine Option. Wer zurückbleibt, schert aus dem grossen Treck nach Westen aus, versündigt sich gegen das Ideal des unentwegten Fortschreitens.
So sind wir verpflichtet auf Brüche und Sprünge, auf die permanente Disruption. Sofern einem die Lust dazu ausgeht – oder schlicht die Luft –, hat man sich zu schämen. Wer nicht mehr mitkommt, erfährt sich als ungenügend, neigt dazu, sich schuldig zu fühlen, und treibt sich deshalb erst recht an. Auch wenn die Kraft fehlt. Sie ist dann erst recht nicht mehr vorhanden, wenn es darum ginge, den eigenen Standpunkt entschieden zu vertreten.
Schuld als Pfahl im Fleisch
Sobald die Pflicht erst in den Köpfen verankert ist, wird jeder zu seinem eigenen Wächter und untersagt es sich, die bestehenden Verhältnisse in Frage zu stellen. Es war Friedrich Nietzsche, der diesen Zusammenhang zwischen Schuld und Machterhalt vor mehr als einem Jahrhundert ausgeleuchtet hat, und zwar in seiner Religionskritik. Für ihn ist der Glaube – besonders der christliche – eine Schuldmaschine, allein dazu ersonnen, die Menschen zu knechten.
Indem die christliche Lehre die Körperlichkeit an sich als sündig sieht, wirft sie alle ins Fegefeuer einer untilgbaren Schuld. Jede und jeder wird bei sich Gelüste oder Begehren wahrnehmen, selbst bei der grössten Härte gegen sich selbst. Das Fleisch ist schwach, den Einflüsterungen des Satans ständig offen. So gibt es keinen anderen Weg, als es unentwegt zu züchtigen. Doch die Begierden kommen zurück, und das sorgt dafür, dass einem auch das schlechte Gewissen im Nacken bleibt.
Wer dieser Schuldmaschine verfällt, wird letztlich seine ganze Lebenskraft gegen sich selber wenden und nach aussen eine demütig-unterwürfige Haltung einnehmen. Nietzsche predigte den Sturz der Religion, weil er sich davon ein Leben jenseits der Schuld versprach, nicht weniger als den Anbruch einer grossen dionysischen Freiheit.
Nun ist die christliche Schuldmaschine heute ja weitgehend demontiert. Sie wäre letztlich auch dysfunktional in einer Konsumgesellschaft, in der die Begierden als Schmiermittel wirken. Hier geht es nicht mehr ums permanente Einhalten; im Gegenteil, Dynamik ist angesagt, und dazu muss die Schuld quasi umgepolt werden.
Nietzsche am See
Nehmen wir an, Nietzsche könnte heute noch am Ufer des Silsersees seinen Gedanken nachhängen: Wie würde er die aktuelle Lage einschätzen, speziell die Verpflichtung auf das Immerneue? Das Tabu über der Fleischlichkeit hat sich erledigt, da könnte er das Problem definitiv nicht mehr verorten. Aber gleichwohl wäre da eine Verkündigung grundsätzlicher menschlicher Defizienz. In unserer Zeit ist es allerdings etwas anderes, was die Menschen klein halten soll, eine andere Eigenheit des Kreatürlichen, nämlich das Beharrungsvermögen. Dieses ist es nun, das es zu überwinden gilt.
Wir dürfen nicht lustlos sein, nicht müde, satt oder überhaupt zufrieden mit dem Erreichten. Sündig sind wir der Anlage nach durch unsere passiven Tendenzen, und schuldig machen wir uns, indem wir ihnen nachgeben. Mit dem Schuldgefühl jedoch, da brauchte sich Nietzsche gar nichts Neues einfallen zu lassen, ist Kasteiung angesagt. Die besteht dann darin, dass wir uns Zweifel aus dem Kopf schlagen und uns blind in die nächste Herausforderung stürzen.
Im futuristischen Drive, der heute verordnet wird, könnte Nietzsche durchaus eine neue Schuldmaschine erkennen. Und im Vergleich mit ihr würde vielleicht sogar sein Urteil über das Christentum milder ausfallen. Dieses kannte immerhin noch den Gedanken der Vergebung, auch wenn dieser bei der alltagsmoralischen Umsetzung gern vergessen ging. Aber wer vergibt uns heute unsere Trägheit? Und vergeben wir sie denn unseren Schuldigern?
Einmal mehr missbraucht
Nietzsche war ein unerbittlicher Kritiker des damaligen Zeitgeistes. Er wandte sich nicht nur gegen das Christentum, sondern ebenso sehr gegen Nationalismus und Deutschtümelei, die im Bismarck-Reich zu einer Art Nebenreligion geworden waren. Seine ganze Verachtung galt dem Mitläufertum, dem Drang der Zeitgenossen, sich im Dunst der Herde zu verstecken. Wie würde er gegen den aktuellen Kult des Change antreten? Mit anderen Worten: Was würde uns ein Zarathustra im Update verkünden?
In der Tat lässt sich dessen Lehre nicht eins zu eins in die Gegenwart übertragen, ohne dabei Schaden zu nehmen. Nietzsches Vision zielte auf ein Jenseits des Schuldprinzips; dort siedelte er im Übrigen auch den Übermenschen an. Er forderte nicht weniger als einen fundamentalen Bruch mit allem Bisherigen, gewissermassen den Sprung in ein neues Stadium der Menschheitsgeschichte. Doch genau dieser rücksichtslos disruptive Einschlag macht seine Philosophie soweit kompatibel mit dem heutigen Zeitgeist, dass sie sich – wie der Existenzialismus – zu dessen Rechtfertigung verwenden lässt. So könnte sich Nietzsche durchaus ein weiteres Mal ideologisch missbraucht sehen.
Leben in der Schuldmaschine
Hätte er die Entwicklung im 20. Jahrhundert noch mitverfolgen können, so wäre ihm womöglich aufgegangen, dass der Mensch die Schuldmaschinen nicht so leicht hinter sich lässt, dass es mit dem Sturz der Religion noch längst nicht getan ist. Kultur funktioniert ganz offensichtlich nicht ohne ideologische Apparate, durch die ihre Mitglieder leidlich auf Linie gebracht werden. Das hätte Nietzsche wohl als Fazit des geschichtlichen Laufs anerkennen müssen.
Dann wäre eventuell eine andere Frage in den Vordergrund gerückt: Wie leben in der Schuldmaschine, wenn die Alternative zu ihr bloss eine andere ist? Der Advent der absoluten Freiheit steht aus, doch es gibt immer noch eine relative, und zwar innerhalb einer jeden Werteordnung, definiert gerade durch deren explizite Ausschlüsse. Uns bleibt ja durchaus die Freiheit, vor den programmierten Schuldreflexen nicht einzuknicken, den Gehorsam, schon gar den vorauseilenden, zu verweigern.
Gegen den Strom schwimmen
Das bedeutet dann, sich auf die Seite der Existenz zu schlagen, die sich unter den geltenden Vorstellungen als mangelbehaftet darstellt. Zu Nietzsches Zeiten – und noch weit ins 20. Jahrhundert hinein – liess sich dementsprechend eine Befreiung des Körperlich-Sinnlichen fordern, eben der dionysischen Seite des Menschen. Im Kult des permanenten Wandels ist allerdings etwas anderes verboten. Hier besteht das quasi ontologische Ungenügen im Hang zur Trägheit, der uns vor Hürden zurückschrecken und Begrenzungen auch einmal akzeptieren lässt.
Freiheit gibt es immer nur bezogen auf eine Regel, die sie bricht. So bedeutet Widerstand in der aktuellen Schuldmaschine, weder dem Charme des Umbruchs zu erliegen noch sich vom Flexibilitätsgebot unter Druck setzen zu lassen. Es heisst Einspruch erheben gegen eine entfesselte Kultur der Umwälzung, nicht zuletzt mit Blick auf die Ressourcenverschwendung, welche diese nach sich zieht.
Es kann nicht mehr darum gehen, «den Menschen zu überwinden», dieser Gedanke ist heute ohnehin zum transhumanistischen Geschwurbel pervertiert. Der souveräne Einzelne braucht sich nicht länger in ein Jenseits von Geschichte und Gemeinschaft zu katapultieren; er steht vielmehr in und zu ihr, nimmt sich aber das Recht, sich – von Fall zu Fall – gegen den herrschenden Common Sense zu stemmen. So allerdings stünde er einer Greta Thunberg eindeutig näher als dem Verkünder des Übermenschen.