Für Aussenstehende ist es schwierig zu verstehen und nachzuvollziehen, warum eine eher dümmliche und geschmacklose, recht primitive und sehr beabsichtigte Provokation wie der Film "Die Unschuld der Muslime" dermassen heftige Reaktionen in der arabischen Welt auslösen konnte, wie sie sich in den letzten Tagen abspielten.
Ein Weg, um etwas mehr Einsicht zu gewinnen, führt über den Begriff "Identität".
Angriff auf die muslimische Identität
Für die heutigen Muslime, besonders im der arabischen Welt, die - nach der Türkei - am nächsten von allen islamischen Grossräumen an Europa angrenzt, ist der Islam ein sehr wichtiger Bestandteil der Identität, der Selbstsicht, der Menschen. "Mein Islam" ist für viele ebenso wichtig, für manche noch wichtiger, als ihre Zugehörigkeit zu "meiner Nation". Diese Grenzlage, bloss durch das Mittelmeer getrennt und über das Meer hinweg auch immer wieder verbunden mit der anders gearteten europäischen Kultur, ist dabei von Bedeutung.
“Unser Islam“, „ihr Christentum“
Die gegenseitige Nähe hat eine besondere Geschichte hervorgebracht, die Jahrhunderte lang auf Gegenüberstellung beruhte, "unser Islam" gegen "ihr Christentum". Doch bei dieser Gegenüberstellung, begannen sich beide Teile in den letzten beiden Jahrhunderten immer mehr zu überlagern. Die europäische Seite entwickelte militärische Übermacht, aber auch "soft power" in Bereichen wie Wirtschaft, Wissenschaften, sozialer und politischer Organisation, Bildungswesen, welche die traditionelle "islamische" Kultur in ihren eigenen Ländern zunehmend ausstach.
Im Schatten der Übermacht
Anfänglich geschah dies an den Grenzen, später immer mehr auch im Landesinneren. So sehr, dass die islamische Welt sich gezwungen sah, um zu überleben, Schritt für Schritt, Teilstücke dieser fremden Kultur zu übernehmen, sich einzuverleiben. Dies begann mit dem militärischen Bereich und endete mit den Versuchen, Regierungsformen nach europäischem Vorbild einzuführen: Verfassungen, gesetzgebende Versammlungen, Parteien, staatliche Bürokratie, den Begriff der Nation.
Die Übernahme der fremden Vorbilder erstreckte sich auch auf fast alle Bereiche der materiellen Kultur: von der Kleidung zur Form des Wohnens, zum Städtebau, Nahrung, Bildung, Kunst, Literatur. Das Fernsehen wurde zum Verbreiter von Lebens- und Konsummodellen nicht eigener, der islamischen Kultur entsprungener, sondern fremder Herkunft. Wobei die amerikanische Herkunft in den letzten 60 Jahren immer mehr die vorausgegangenen europäischen Herkünfte ausstach.
Aller Erfolg kommt von dort!
Die fremden Vorbilder und Modelle wurden so erfolgreich, dass sie zu Symbolen des Erfolges an sich wurden, handgreiflich zur Grundlage für den Erfolg der Erfolgreichen. Der herkömmliche, von den islamischen Gesellschaften entwickelte, "eigene" Lebensstil wurde zunehmend Sache der Armen, die beim Erfolg nicht mithalten konnten. Sie wurden die Zurückgebliebenen. Als solche verarmten ihre Lebensformen. Nur jene, die bei den Freuden der Verwestlichung nicht mithalten konnten, weil ihnen die Mittel dazu fehlten, blieben haften in einer sich immer verengenden und verarmenden Eigentradition.
Die gelehrigen Schüler des Westens, zu denen die Oberschichten geworden waren, blieben Lehrlinge des Westens, abhängig von ihm und von seinen immer neuen Errungenschaften. Diese aufzunehmen und in ihre eigene Gesellschaft einzuführen, wurde ihre Hauptaufgabe und ihre Gewinne abwerfende Aktivität. Nur selten gelangten sie in die Lage, ihrerseits etwas Eigenes zu dem übernommenen Gut hinzu hervorzubringen und beizutragen.
Selbstzweifel
Dies ging so lange und so weit, dass es Identitätsfragen hervorrief.
"Wer bin ich" und "wer sind wir?" Östlich? Westlich? Wie weit das eine und wie weit das andere? Eine Generation lang (1946-67) glaubte man in der Nationalität eine Antwort zu finden, wobei umstritten war, ob diese Nationalität pan-arabischer Art sei, für die ganze "Arabische Nation" gelten solle oder für die einzelnen Staaten, die, eher zufällig und fremdbestimmt, aus der kolonialen Ordnung hervorgegangen waren.
Unbefriedigender Nationalismus
Die Niederlage von 1967 diskreditierte den Nationalismus. Seine Leitfiguren entwickelten sich zu Tyrannen, die ihre Macht dadurch aufrechterhielten, dass sie sich auf den Westen stützten und sich als dessen Werkzeuge im Kalten Krieg und später im "Krieg gegen den Terrorismus" missbrauchen liessen. Die "renditions" der Amerikaner wurden das extreme Schandmal dieser Entwicklung.
Während der Zeit der fremdbestimmten Tyrannen (1967-2011) griff die Gesellschaft auf das andere Grundelement ihrer Identität zurück, den Islam. Für fast alle Muslime wurde der Umstand, dass sie dieser Religion angehörten, nicht jener der ihre Zivilisation überlagernden und überschattenden Fremden, zu einer Hauptgrundlage ihrer Selbstsicht.
Welcher Islam?
Doch der Islam ist ein weites Feld. Das Wort bedeutet "Ergebenheit" und es meint "Gottergebenheit". Wie diese zu leben sei, darüber gab es einen gewaltigen Fächer von Lehrmeinungen, Gotteserfahrungen, Denkmustern. Sie waren über Jahrhunderte hin vorgelebt und vorartikuliert worden. Weil in der für die heutigen Muslime gegebenen "modernen" Welt, die im Zeichen Europas und zunehmend Amerikas stand, der Islam als ein Halt für die eigene Identität gesucht, gelebt und wiederbelebt wurde, gab es viele Muslime aus den Unter- und Mittelschichten, die einen greifbaren, konkreten, einen Halt bietenden Islam suchten und anstrebten.
Eine wirksame Definition des Islams
Sie fanden Prediger, die diesen Bedürfnissen nachkamen. Diese griffen auf das Vorbild des Propheten zurück. Was eine grosse Tradition in der islamischen Theologie aufweist. Imitatio Prophetae, wie Imitatio Christi. Der Salafismus blühte auf. Man kann die überragende Mehrheit der heutigen Muslime als Salafisten bezeichnen. Salafiya heisst Nachfolge, gemeint ist die des Propheten. Es gibt geheiligte Texte, die den Lebenswandel des Propheten schildern. Dies sind gewaltige Sammlungen, vielbändig, kritisch gesichtet und kanonisch zusammengestellt, der Überlieferungen von ihm. Sie dienen ihrerseits, zusammen mit den gesetzlichen Weisungen des Korans, als Usul ad-Din, was man als "Quellen der Religion" und auch als "Quellen der Wahrheit" übersetzen kann. Diese beiden Quellen bieten die weitaus wichtigsten Bausteine des islamischen Gottesgesetzes, der Scharia. Weshalb Salafiya (Nachfolge des Propheten) und Scharia (Gottesgesetz des Islams) zusammengehen.
Bestätigung durch die Theologen
Die Fachgelehrten des Islams beherrschen auf Grund eines langjährigen Studiums den Umgang mit diesen Texten. Sie sind in der Lage, den Gläubigen zu versichern, dies sei der Islam, der wahre, reine und unverfälschte Kern des Islams. Wer sich an ihn halte, könne gewiss sein, ein wahrer Muslim zu sein. Was zur - stark vereinfachenden - Formel führt: Die Scharia ist der Islam. Die Suchenden nach einem identitätsstiftenden Halt finden auf diesem Weg einen handfesten, wohl gegründeten Islam-Begriff, der ihnen in der Verwirrung ihrer durch die fremde überlagerte Eigenkultur einen Halt bietet. Dies erlaubt die - ebenfalls allzu vereinfachende, aber erlösende - Formel: "Der Islam ist die Lösung."
Ein Angriff auf den innersten Lebenskern
Aus dieser Sicht und in dieser Lebenslage ist ein Angriff auf den Propheten, der aus der anderen Kultur kommt, "aus Amerika", ein Versuch "der Amerikaner", uns Muslime des wichtigsten Haltes zu berauben, den wir (noch) haben: unseres Islams. Man sieht diesen Versuch, genauer man empfindet ihn, als die Kumulation aller Angriffe, als die letzte Konsequenz und den beabsichtigten Todesstoss, nach allen den vorausgegangenen Angriffen. Diese waren sowohl kriegerischer Natur, zuletzt im Irak, nun auch im Jemen; doch die Aufzählung beginnt mit den Kreuzzügen und sie lässt Israel sicher nicht aus. Sie sind aber auch Angriffe im kulturellen Bereich, die die eigene Kultur zu übermannen drohen, wenn sie es nicht schon getan haben. "Nach allem Vorausgegangenen wollen sie auch noch unseren Islam zunichtemachen. In der Absicht, uns endgültig unserer islamischen Identität zu berauben, das heisst zu Unpersonen zu machen!"
Der Zorn soll sichtbar werden
Dagegen will man sich wehren, indem man seinen Zorn demonstriert. Man ist zornig; aber es geht auch darum diesen Zorn zu zeigen. Man ist es sich selbst schuldig, eine solche auf die letzte und bedeutendste Festung des eigenen Ich gerichtete Aggression zurückzuweisen, öffentlich, alle gemeinsam. "Inakzeptabel", sagen die Diplomaten. Dies ist für uns inakzeptabel, und die Gegenseite soll und muss es zu spüren bekommen!
Ein Chor der Zurückweisung
Wer die Bilder sieht und die Sprechchöre hört, besonders jene aus Kairo, wird nicht verkennen: Hier ist Selbstdarstellung am Werk. Man will zeigen, dass man dieses letzte nicht hinnimmt. Indem man dies unterstreicht, setzt man sich wirksam gegen die vermutete Entpersonalisierung zur Wehr. Man verteidigt seine "Würde". Eine Geste der Aggression wird beantwortet durch Gesten der Zurückweisung.
Nicht nur gestikulieren, handeln
Doch es gibt die Aktivisten. Sie wollen nicht nur gestikuliern, sie wollen handeln. Sie glauben daran, dass der "islamische Staat" verwirklicht werden kann. Für sie ist er nicht nur ein Ziel, ein Ideal, etwas dem man nachleben sollte und möchte. Für sie ist er machbar. Sie wollen daran glauben: Der "islamische Staat" wird den Islam durchführen, verwirklichen, hier und bei uns, und alles wird gut werden. "Der Islam ist die Lösung".
Anführer streben nach Macht
Natürlich gibt es unter den Aktivisten stets Anführer, die nach Macht streben. In ihren eigenen Augen soll diese Macht den hehren Zielen dienen. Doch sie wird leicht Selbstzweck: "Zunächst einmal braucht es Macht für mich, damit ich unsere Ziele, den islamischen Staat, durchsetzen kann!"
Für solche Machthungrige werden Wellen der allgemeinen Empörung, die die ganze Gesellschaft durchziehen, eine Gelegenheit. Sie und ihre Aktivisten können mehr tun als demonstrieren, etwas Handgreifliches erreichen, zum Beispiel ein brennendes "amerikanisches" Haus. Sie werden dadurch zu Anführern aller Gleichgesinnten in diesem leidenschaftlichen Augenblick der gesamten Bevölkerung, die zur aufgebrachten Masse gewordenen ist. Sie gewinnen Bekanntheit und neue Anhänger, weil sie als Speerspitze in Erscheinung getreten sind.
Vom Englischen ins Arabische übersetzt
Die aktivistischen sind kleine Gruppen. Gerade deshalb sind sie darauf angewiesen, anzuführen und zu wachsen. Die Volkserregung bietet ihnen die erwünschte Gelegenheit. Einige von ihnen, die Cyber-Aktivisten, sind es vermutlich gewesen, die den ursprünglich Englisch gesprochenen Trailer des Films des Anstosses ins Arabische übersetzt und ins Internet gestellt haben. Um den Erregungseffekt herbeizuführen, von dem sie zu profitieren hofften.
Bewaffnet in Libyen
Diese kleinen Gruppen von Aktivisten waren in Libyen bewaffnet, in Tunesien und in Ägypten waren sie es nicht. In Libyen gibt es noch immer viele, zu viele, bewaffnete Milizen. Weitaus die meisten sind säkular und verfolgen unterschiedliche, manchmal entgegengesetzte, lokale Ziele. Nur einige wenige sind "islamistisch" und wollen ihre Waffen behalten, um einen "islamischen Staat" zu erkämpfen.
Dem neuen libyschen Regime ist es bisher nicht gelungen, die Waffen der Kampfgruppen, die gegen Ghadhafi angetreten waren, einzuziehen.
Eine solche bewaffnete Gruppe benützte die Demonstrationen, um zu einem militärisch organisierten Angriff auf den Komplex der amerikanischen Konsulatsgebäude in Benghazi überzugehen. Sie benützten Maschinenpistolen und Minenwerfer, die sie von verschiedenen Seiten her konvergierend einsetzten, um den Komplex und seine Wächter zu überwältigen und Feuer zu legen. Botschafter Chris Stevens fiel dem Rauch dieses Feuers zum Opfer.
Sind die Täter bekannt?
Die libysche Regierung behauptet, sie kenne 50 der Täter bei Namen.
Fünf von ihnen habe sie festgenommen. Später verlautete, alle 50 seien gefangen. Welche Gruppe dies sei, wie ausgerichtet, sagten die libyschen Behörden nicht. Doch sie erklärten, einige seien aus dem Ausland infiltriert. Wahrscheinlich handelt es sich um eine "islamistische" Gruppe, doch kann man sich auch vorstellen, dass es Leute sein könnten, die immer noch Ghadhafi anhängen. Auch sie haben schwer bewaffnete Banden gebildet.
Jedenfalls haben diese Bewaffneten versucht, auf der Welle der islamischen Volksempörung zum Erfolg zu reiten. Die Ergebnisse der genaueren Untersuchung, bei der auch amerikanische FBI-Beamte mitwirken sollen, stehen noch aus.
Politische Konkurrenz in Tunesien und in Ägypten
In Tunesien und in Ägypten sind die radikalen Salafisten nicht bewaffnet, und es gibt eine Polizei und Armee mit staatlichem Waffenmonopol. Doch in beiden revolutionären Staaten ist die Polizei geschwächt. Es war einst die Polizei, die dem Tyrannen diente. Sie soll jetzt reformiert werden, aber ist noch nicht reformiert, und natürlich gibt es in ihr starke Kräfte, die solche Reformen zu hintertreiben versuchen. Sie drohen, ihnen an den Kragen zu gehen. Aus diesen Gründen ist die Polizei in beiden Staaten zurzeit ein recht stumpfes Instrument.
Umgekehrt sieht sich die Bevölkerung in beiden Ländern als durch die Revolution "befreit". Der Tyrann ist abgesetzt. Die Bevölkerung hat nun das Recht, ja die Bürgerpflicht, ihre Wünsche und Anliegen zu äussern. Man darf, ja man soll nun demonstrieren. Dies ist eine der wenigen bisher erreichten konkreten Errungenschaften der Revolution, für die man grosse Opfer erbracht und von der man so vieles erhofft und erwartet hatte. Die Polizei soll nun nicht mehr mit Gewalt gegen Demonstranten vorgehen. Jedenfalls nicht gegen friedliche.
Eine Chance für Radikale
Die Aktivisten unter den Salafisten nützen diese Lage aus, um Gewicht zu gewinnen. Sie demonstrieren und äussern sich in möglichst viel Aufsehen erregender, daher wilder Art und Weise. Das ist die wirksamste Propaganda für sie, für ihre Anführer und für ihre Ideen.
Die radikalen Salafisten, die sich als Vorkämpfer für einen islamischen Staat ansehen und geben, stehen in beiden Staaten in Konkurrenz mit den islamischen Mehrheitsparteien, mit Nahda in Tunesien und mit den Muslimbrüdern in Ägypten, die beide heute in der Regierung vertreten sind. Diese gilt es auszustechen und zu übertrumpfen, auch im Hinblick auf die bald schon fälligen nächsten Wahlen. Was kann dazu besser dienen, als auf der Zorneswelle aller Muslime zu reiten?
Profit für beide Extreme
Die Provokation kommt ihnen als Glücksfall entgegen. Einige ihrer Gesinnungsgenossen haben ja auch mitgeholfen, sie übers Internet auszubreiten und damit erst wirklich zur Wirkung zu bringen. Der Film des Anstosses wurde schon vor einem Jahr in Hollywood auf Englisch gedreht, ohne dort grosse Beachtung zu finden.
Was den alten Grundsatz bestärkt: Die Extreme helfen einander. Die amerikanischen Extremisten haben den Spielball den salafistischen zugespielt, und diese schickten ihn, nach Möglichkeit blutüberströmt, zurück nach Amerika. Den materiellen und politischen Schaden tragen einerseits die grosse Mehrheit der wohlgesinnten Amerikaner und anderseits die Muslime, die eine islamische Demokratie aufbauen möchten.