Die Gegenwart liebt die Oberfläche und das Vordergründige; die Kunst lebt von der Liebe zu den schönen Äusserlichkeiten. Das hat Folgen – auch für den Unterricht. Doch Bildung braucht Tiefe. Darum müssten Bildung und Schule gegenhaltende Kraft entwickeln. Die Menschen brauchen Hintergrund.
Der Zeitgeist surft an der Oberfläche
Der amerikanische Künstler Jeff Koons ist vielleicht der erfolgreichste Künstler der Gegenwart. Ein Meister glänzend-glatter Oberfläche. Die Fondation Beyeler widmete ihm 2012 eine vielbeachtete Ausstellung. Der Andrang war gross. Seine Kunst gefällt; sie ist ein Œuvre des Like. Doch wer kritisch hinschaut, der spürt: Koons‘ Kunst bleibt bewusst banal. Es fehlt ihr die Tiefe, es fehlt der Tiefsinn. Sie eckt nicht an. Von der Ästhetik des Glatten geht kein Widerstand aus. Alles bleibt Oberfläche.
An der Oberfläche bleiben auch die heutigen Datenströme. Aus dem Datenhaufen wie Big Data lassen sich zwar nützliche Informationen herausdestillieren. Doch sie sind additiv und generieren kaum Erkenntnisse. Und kaum Bildung. Bildung verlangt Tiefe. Man muss sich an einer Sache abmühen und sie über den Umweg des Fremden bedingungslos zur eigenen machen. Kompromisslos. Wer einer jungen Geigerin zusieht, weiss das. Jahrelang muss sie üben und das Violinspiel über ihre akuten Launen und Interessen stellen. Nur so wird aus dem Gekratze dereinst Musik. Und aus dem ungeformten Mädchen die selbstbewusste Musikerin, schreibt der Philosoph Ludwig Hasler. Das Leben beginnt eben nicht mit dem Selbst. Und er fügt bei: Das ist das simple Geheimnis aller Bildung, dass sie Arbeit bedeutet. Bildung ist Tiefgang, ein geistiger Bergaufprozess, keine asphaltierte Schnellstrasse. Der Weg führt durch Unterholz und Gestrüpp. Das ist anstrengend. Daran führt keine Abkürzung vorbei.
Das Additive fordert die Schule
Doch verlangt das die Schule von heute noch? Kann sie es überhaupt? Wer durchs Zoom-Objektiv das Eigentliche und Wesentliche einer Schule betrachtet, sieht schnell: Der Bildungsauftrag und die sogenannte Wissens- und Könnensvermittlungsfunktion der Schule sind schwieriger geworden. Wir stehen vor einem ungleich grösseren Berg von Wissen als einst, vor mehr Komplexität auch, und jeder Tag bringt immer rascher immer mehr Informationen.
Gleichzeitig verliert das erzieherische Umfeld an Kraft und Einfluss, weil im Alltag ein Verlust an Eigentätigkeit festzustellen ist, ein beschleunigter Wertewandel stattfindet und sich immer mehr Familien in Schwierigkeiten oder gar Auflösung befinden. Wir stehen vor einem Wandel von Kindheit und Jugend, der die Anforderungen an die Schule stark verändert. Lehrerinnen und Lehrer sind zunehmend auf sich selbst gestellt. „Gratiskräfte“ wie „Bildungskanon“ oder „Selbstdisziplin“ nehmen ab. Der Grundauftrag aber bleibt: Kinder und Jugendliche wissens- und könnensmässig sowie menschlich-charakterlich bilden.
Blosse Addition
Das ist anspruchsvoll. Die (Volks-)Schule hat viele Aufgaben übernommen, sehr viele, vermutlich zu viele. Sie muss integrieren und individualisieren, sozialisieren und kultivieren, Frühenglisch und Mittelfrühfranzösisch lehren, die hochdeutsche Sprache schulen und mathematische Fähigkeiten entwickeln. Sie soll in Themen von Mensch und Umwelt einführen, Musisches und Kreatives fördern, ethisches Verhalten bestärken und die Kinder zur Freude an der Bewegung ermutigen. Und überdies das Lernen lehren. Alles ist irgendwie wichtig geworden. Doch wenn es nicht mehr möglich ist festzulegen, was wichtig und bedeutsam ist, verliert alles an Bedeutung.
Das Kennzeichen der Schulentwicklung der vergangenen Jahre ist die Addition. Viel ist dazu gekommen – weggenommen wurde wenig. Die Subtraktion bleibt als Schuloperation inexistent.
Viele können kaum lesen und schreiben
Die Folgen sind spürbar: Inhalte lösen einander schnell ab. Sie prägen sich nicht tief ein, werden kaum Erfahrung. Die Zeit zum Üben und Vertiefen zentraler Lernvorgänge fehlt vielfach. Der Zeitdruck vernichtet das Verweilen, die Hektik verdrängt das Kontemplative. Das Umweghafte und Indirekte gehen so verloren. Viele Dinge werden nur noch flüchtig gestreift. Nichts fällt ins Gewicht, nichts ist einschneidend, kaum etwas ganz wichtig. Unfertiges wird zum Dauerzustand. Das Durchgenommene verdichtet sich nur schwer zu einem kohärenten Ganzen.
Wie anders ist es denn zu erklären, dass viele Schüler am Ende der Schulzeit kaum lesen und schreiben können und „offenbar zu dumm für die Lehre sind“ (Blick, 9.2.2015)? Oder dass in Zürich die Hälfte der Polizeianwärter beim Deutschtest durchfällt? Noch deprimierender ist der Umstand, dass der Berner Erziehungsdirektor Bernhard Pulver diese Tatsache in einem Interview einfach so hinnimmt. Wie ein gottgegebenes Unwetter. Das Problem ist evident. Warum geht man diese eigentliche Sprachkatastrophe nicht an?
Schönreden hilft nicht – Handeln tut not
Denken vollzieht sich sprachlich. Jeder Gedanke braucht einen Körper: die Sprache; sie baut einen Bezug zur Welt auf. Der menschliche Körper muss trainiert, ihm muss Sorge getragen werden. Genau gleich geht es der Sprache. Sie muss entwickelt und gefördert werden. Im Elternhaus, in der Schule. Das ist eigentlich grundlegend und darum selbstverständlich, könnte man meinen. Und darum elementarer Auftrag der Schule.
Doch das Fraglose ist nicht einfach selbstverständlich. „Ich stelle fest, dass die Deutschkompetenzen der Studierenden teilweise katastrophal sind“, konstatiert Matthias Aebischer, Präsident der nationalrätlichen Bildungskommission und Dozent an der Universität Bern. Was Aebischer aus erster Hand erfährt, hat ETHZ-Rektor Lino Guzzella schon vor drei Jahren klar signalisiert: „Die Leute müssen richtig lesen, schreiben und sprechen können. Das gilt auch für Naturwissenschafter und Ingenieure.“ Doch die Kenntnisse seien zum Teil ungenügend, fügte er hinzu (NZZaS, 29.7.2012). Zu viele, so brachten es auch Studien an den Tag, können nicht mehr richtig schreiben. „Wer schon das Vergnügen hatte, Maturitätsarbeiten zu lesen, bleibt da womöglich schockiert zurück“, schreibt die NZZ und ergänzt: Auch mit den Mathematikkenntnissen hapert es (NZZ, 1.9.2015).
Der Blick auf den Lehrplan 21
Die Defizite sind bekannt, die Sorgen der Volksschule kein Geheimnis. Ob der Lehrplan 21 hier Abhilfe schafft? Bleibt er an der Oberfläche oder bringt er Tiefe und formuliert, was in den Schweizer Volksschulen wichtig und grundlegend ist?
Die zweite Fassung des Lehrplans 21 umfasst auf 470 Seiten 363 Kompetenzen, unterteilt in über 2300 Kompetenzstufen. Eine Grundskepsis bleibt: Wer so viel bringt, bringt allen etwas. Doch alles ist der Feind von etwas. Oder anders gesagt: Wenn die Fülle der Vorgaben so umfassend wirkt, werden sie im Alltag kaum Realität. Nicht umsonst meinte die Basel SP-Ständerätin Anita Fetz: „Eine überambitionierte Bürokratenmaus hat einen Dokumentenberg geboren“ (DIE ZEIT, 13.10.2014).
Sie spricht damit aus, was nicht wenige befürchten: Die vielen Vorgaben führen dazu, dass der Wissens- und Könnensaufbau eher zufällig bleiben könnte und das Systematische zu kurz kommt. Jugendliche aber brauchen kognitive Ordnungsstrukturen. „Wenn man die Schule in unzählige Einzelkompetenzen zerlegt, zerfällt die Gestalt des Unterrichts irgendwann zu Staub“, gibt Ralph Fehlmann, Fachdidaktiker an der Universität Zürich, zu bedenken.
Bildung ist nicht isoliertes Training einzelner Kompetenzen
Welches Menschbild steht hinter dem Lehrplan 21? Welche Werte schimmern durch? Wer die neue Bildungsbibel behutsam durchliest, fragt sich das immer wieder. Und er wird nicht klug. Da ist viel von Kontrolle und Vermessen die Rede. Eines aber ist augenfällig: Unserem humanistischen Menschenbild entspricht es in keiner Weise, die Kinder und Jugendlichen in Kompetenzen zu zerlegen. Der Dekomposition des Menschen in Kompetenzen wohnt ein technokratischer Geist inne; da atmet etwas Seelenloses. Wichtiger als eine humanistische Abstützung von Bildung scheint das Konzept lückenloser Output-Kontrolle zu sein. Checks und Tests allüberall – und die Lehrer als Verwalter von Kompetenzen. Das ist angesichts der menschlichen Entwicklung, die sich ja auch immer wieder der Macht des Verfügbaren entzieht, problematisch.
Die Schule muss mit ihren Lehrplänen dem Wandel der Gesellschaft gerecht werden. Das ist unbestritten. Ob der Lehrplan 21 mit seiner Fülle die nötige Tiefe bewirkt, bleibt fraglich.
Die „drei grossen G“ als unterrichtlicher Kompass
Doch ein Blick auf Grundlegendes hilft oft weiter. Unser Fünft- und Sechstklasslehrer sprach immer davon: Man muss etwas wissen, man muss etwas können, und beides zusammen soll uns besser „denken“ bzw. handeln lassen. Wichtig waren ihm die „drei grossen G“: Grundkenntnisse, Grundfertigkeiten und Grundhaltungen. Das war seine pädagogisch-didaktische Trias; sie hat er eingefordert. Diese Trias kann eigentlich gar nicht veralten, weil sie so etwas wie ein NON PLUS ULTRA darstellt. Das kommt mir vor wie ein Naturgesetz, wie die Gesetzestafeln vom didaktischen Berg Horeb. Doch vielleicht sind solche Formulierungen so veraltet, wie meine Schulerinnerung zurückliegt.
Die damalige Fächerfülle war bescheiden. Deutsch und Rechnen waren die zentralen Inhalte, dazu Geschichte und Geografie. Heftführung, Aussprache und Rechtschreibung hatten hohe Priorität. Was wir „durchnahmen“, nahmen wir gründlich durch, mündlich und schriftlich, mit vielen Sinnen, präzis und diszipliniert. Ein Ding richtig können, wirkt mehr als Halbheiten im Hundertfachen. Was Goethe sinngemäss sagte, lebte unser Lehrer und verlangte es. Nicht vielerlei treiben, sondern eine Sache intensiv und genau! – Non multa, sed multum! heisst es bei Plinius. Jeden Aufsatz hat unser Primarlehrer sauber korrigiert und mit jedem Einzelnen persönlich besprochen. Individuelles Feedback heisst das zeitgemässe Zauberwort. In zwei Jahren schrieben wir gegen zwanzig Aufsätze. Das bedeutete für ihn die Korrektur von rund tausend Texten. Prägnanz bringt Eleganz, sagte mir der Lehrer. Noch heute höre ich seinen Satz und sehe, wie er sich für mein Lernen und Vorwärtskommen verantwortlich fühlte.
Vertikalität bringt Bildung
Es war eine harte und strenge Schule, fordernd und anspruchsvoll, bemüht um elementares Basiswissen – eine Bildung, die sich ohne Wenn und Aber einer Sache und ursprünglicher Erfahrung hingab. Welcher Wandel der Modelle, Themen und Stile im Vergleich zu heute. Vieles nimmt sich aus jetziger Sicht wie schwarze Pädagogik aus, und doch hat es mich für mein Leben geprägt. Unser Fünft- und Sechstklasslehrer verkörperte und verlangte etwas von dem, was der Kognitionsforscher Howard Gardner als Intelligenzen für das 21. Jahrhundert formuliert: diszipliniertes und kreatives Arbeiten und Denken. Nicht an der Oberfläche, sondern in der Vertikalität. An Jeff Koons‘ Kunst hätte sich mein Lehrer wohl gerieben.