Der längste Krieg, den Amerika je geführt hat, spielt sich in Afghanistan ab. Er dauert nun seit 16 Jahren. Bis jetzt hat er den USA 1,6 Trillionen Dollar gekostet. (Amerikanischer Sprachgebrauch: 1 Trillion = 1000 Milliarden).
Für die Afghanen dauert der Krieg allerdings schon seit über 37 Jahren. Für sie begann er an Weihnachten 1979 mit der Invasion sowjetischer Truppen. Seither gab es keinen Frieden im Land. Zehn Jahre dauerte der Kampf gegen die Sowjets. Ihm folgten innere Kämpfe und seit 1994 der Aufstieg der Taliban und deren langsame Eroberung des Landes, die 2002, als die amerikanische Invasion begann, noch nicht vollendet war.
Langsamer Vormarsch der Taliban
Der Krieg der Amerikaner gegen die Taliban, an dem auch die Nato-Staaten beteiligt sind, verläuft nicht erfolgreich. Die Taliban gewinnen in kleinen Schritten an Boden, und sie – sowie ihre Rivalen des IS – erweisen sich auch in der Lage, immer wieder tödliche Anschläge in den Städten durchzuführen, die von der Regierung beherrscht werden.
Der IS in Afghanistan wird sowohl von der Regierung wie von den Taliban und den Amerikanern bekämpft. Deshalb agiert er aus dem Untergrund durch ruchlose Selbstmordanschläge.
Gehen – bleiben?
Wer die Diskussion über den Afghanistankrieg in den USA verfolgt, kann beobachten, dass es zwei Grundhaltungen gegenüber dem Krieg gibt. Die eine fordert ein Ende des Krieges. Die andere will ihn weiterführen, bis die Taliban sich zu Verhandlungen bereit finden und mindestens auf das gegenwärtige Angebot der Regierung in Kabul eingehen. Diese hat den Aufständischen versprochen, dass sie im Rahmen der bestehenden Verfassung am politischen Geschehen teilhaben könnten.
Präsident Trump vertrat beide Meinungen: Er sprach sich in seiner Wahlkampagne für einen sofortigen Abzug der amerikanischen Truppen aus Afghanistan aus. Als er im Weissen Haus ankam, liess er sich überzeugen, mehr Truppen nach Afghanistan zu entsenden und die Kampfeinsätze zu steigern. Vor allem sollten Kampfflugzeuge vermehrt Schläge aus der Luft durchführen. Auch der Einsatz von Drohnen soll intensiviert werden.
„No State Building“ sagt Trump
Präsident Trump sprach sich scharf gegen jedes „state building“ aus. Seine Truppen würden entsandt, sagte er, um zu kämpfen, nicht um den Aufbau eines Staates zu bewirken. Doch genauer besehen ist das „state buidling“ unerlässlich und unvermeidlich, wenn man den Taliban ein alternatives politisches Gebilde entgegenstellen will, und aus diesem Grunde ist es auch weiterhin in Kabul aktuell.
Hinter einer Armee, die Krieg führt, muss notwendigerweise eine Art von Staat stehen, der diese Armee einsetzt und unterhält. Je besser dieser Staat funktioniert, desto besser sind auch die Chancen seiner Armee, den Krieg zu gewinnen – und umgekehrt. Deshalb ist „state building“ im Sinne von „Aufbau eines funktionierenden Staates“ eine der Voraussetzungen für einen Sieg über die Taliban.
Korruption, Streit
Diese Voraussetzung ist in Afghanistan nur sehr teilweise erfüllt. Der „demokratische“ Staat funktioniert schlecht. Die Korruption ist weit verbreitet. Überall herrscht Streit und Uneinigkeit. Wahlen, deren Resultat von allen Seiten respektiert wurde, hat es noch nie gegeben.
Parlamentswahlen sollten eigentlich noch dieses Jahr durchgeführt werden, Präsidentenwahlen im April 2019. Doch ob sie überhaupt stattfinden, ist ungewiss – einerseits wegen der Präsenz der Taliban und des IS in weiten Teilen des Landes. Beide versuchen, die Wahlen mit allen Mitteln zu verhindern. Andererseits auch wegen der Streitereien, die schon im Vorfeld der Wahlen ausgebrochen sind und bei denen es um Möglichkeiten der Einflussnahme auf die Wähler geht.
Doppelköpfigkeit
Es gibt eine zentrale Regierung in Kabul, doch neben ihr gibt es auch „War Lords“, die verschiedene Teile des Landes beherrschen und regieren, und deren De-facto-Macht nur lose in die Zentralmacht von Kabul eingebunden ist. Diese Macht beruht letztlich auf eigenen Milizen, die von den War Lords aufgestellt und unterhalten werden. Laut der bestehenden Verfassung wäre das eigentlich illegal.
In Kabul selbst gibt es zwei rivalisierende Mächte: Präsident Ashraf Ghani einerseits und sein „Chief Executive“ Abdullah Abdullah andererseits. Diese Doppelköpfigkeit geht zurück auf den amerikanischen Schlichtungsversuch des damaligen amerikanischen Aussenministers John Kerry. Ashraf Ghani und Abdulla Abdullah hatten 2014 beide den Wahlsieg für sich beansprucht und dem anderen Wahlfälschung vorgeworfen. Der Streit droht zu einem Bürgerkrieg auszuarten, und ohne die Intervention Kerrys wäre ein solcher wohl ausgebrochen.
Die Taliban und ihr Zielpublikum
Auch die Taliban betreiben „state building“, möglicherweise erfolgreicher, weil sie kein demokratisches Regime anstreben. Autoritäre Regime waren bisher immer die Regel in Afghanistan. Eine Demokratie aufzurichten, erfordert die Übernahme von bisher landesfremden Traditionen und Mentalitäten.
Der Prozess wird durch den Umstand erschwert, dass diese Übernahme, eine Angleichung an die weltweite Globalisierung und Moderne, nicht gleichmässig unter allen sozialen Schichten und Gruppen im Lande erfolgt. Es gibt weite ländliche und städtische Unterschichten, die nur marginal oder gar nicht an dem „Modernisierungsprozess“ teilhaben, teils weil sie nicht die Mittel besitzen, um ihren Kindern die dazu notwendigen Bildungsmöglichkeiten zu verschaffen, teils wohl auch, weil sie derartigen Änderungen mit Misstrauen begegnen. Diese von der „modernisierenden“ und „globalisierenden“ Republik Afghanistan mehr oder weniger in ihren eigenen Traditionen und Mentalitäten Zurückgelassenen sind das Zielpublikum der Taliban.
Der Staatsentwurf der Taliban
Die Taliban haben ihr heutiges ideologisches und praktisches Regierungsangebot seit der Gründerzeit des verstorbenen Mullah Omar etwas abgeändert. Sie akzeptieren nun Mädchenschulen. Sie suchen ihren eigenen politischen und territorialen Einfluss im Versteckten auszuweiten, noch bevor sie zum militärischen Kampf gegen die Sicherheitskräfte der Regierung übergehen.
Es gibt weite „umstrittene Gebiete“, in denen die Regierung am Tag herrscht – und die Taliban in der Nacht. In anderen Gegenden ist der Einfluss der Regierung auf befestigte Garnisonen beschränkt. Die lokalen Regierungsangestellten, etwa in den Gesundheitsdiensten, der Gerichtsbarkeit, der Polizei oder der Zivilverwaltung, arbeiten oft heimlich mit den Taliban zusammen – sei es gezwungenermassen, sei es aus Opportunitätsgründen oder sei es aus Überzeugung. Dies bestätigt ein ausführlicher Bericht, der sich auf die Aussagen von 160 ehemaligen Taliban stützt.
Die amerikanischen Militärs schätzen, dass sich etwa 40 Prozent des afghanischen Territoriums entweder fest in Händen der Taliban befindet oder zumindest unter ihrem Einfluss steht. Schätzungen der Uno und anderer nicht amerikanischer Beobachter liegen deutlich höher. Beide Seiten geben zu, dass die Taliban zurzeit langsam Gelände gewinnen.
Verschiedene Rechtsprechung
Die Kadis der Taliban scheinen bei der Bevölkerung beliebter zu sein als die Richter in Kabul. Die Scharia-Gerichte sprechen rasch ihre Urteile, und ihre Rechtsprechung, die der Tradition entspricht, ist für die einfache Bevölkerung erklärlich und verständlich und daher transparent.
Die Urteile der staatlichen Richter hingegen, gegen die in Kabul vor höheren Gerichten appelliert werden kann, nehmen viel Zeit in Anspruch. Das macht sie undurchsichtig und arbiträr für die einfacheren Afghanen, und steigert natürlich den nur zu oft berechtigten Verdacht, dass es sich um eine korrupte Gerichtsbarkeit handle.
Was ist Korruption?
Korruption und Korruptionsverdacht sind weit verbreitet. Wobei „Korruption“ verschiedenartig interpretiert wird. Wenn sich ein War Lord seine eigenen Truppen hält und diese bezahlt, indem er Steuern und Abgaben von der von ihm beherrschten Bevölkerung erhebt und dabei in seinem eigenen Palast lebt – ist das Korruption?
Seine Anhänger sehen dies jedenfalls nicht so. Für sie ist die Truppe des War Lords, in der ihre Verwandten und engeren Landsleute dienen, eine Sicherheitsgarantie gegen Übergriffe von aussen. Ethnische Abgrenzungen spielen dabei eine grosse Rolle. Afghanistan ist ein Flickenteppich, ein Stammes- und ein Vielvölkerstaat.
Pakistan im Hintergrund
Unterstützt werden die Taliban von pakistanischen Kreisen. Der pakistanische Geheimdienst (ISI für „Inter Service Security“) steht hinter den Taliban und bietet ihnen ein sicheres Hinterland, in das die afghanische Armee nicht eindringen kann.
Trump hat versucht, Pakistan für seine Unterstützung zu bestrafen, indem er grosse Teile der Gelder, die die USA den Pakistani zahlten, streichen liess. Das Ergebnis war kontraproduktiv. Die pakistanische Armee und der pakistanische Geheimdienst haben im Gegenzug ihre Zusammenarbeit mit den afghanischen Taliban verstärkt. (Es gibt auch die pakistanischen Taliban. Sie werden von der pakistanischen Armee bekämpft.)
Wenig Hoffnung auf Verhandlungen
In der amerikanischen Armee sowie im Aussenministerium glaubt man, der Krieg könne nur beendet werden, wenn die Taliban in eine Regierung in Kabul eingebunden werden. Dazu allerdings müssten sich die Taliban zu entsprechenden Verhandlungen bereit finden. Das haben sie bisher nicht getan. Der Hauptgrund dafür dürfte sein, dass die Taliban überzeugt sind, dass die Amerikaner und ihre Nato-Verbündeten schliesslich aufgeben werden. Solange die Taliban langsame, aber stete territoriale Fortschritte machen, wird diese Überzeugung schwer zu erschüttern sein.
In der Bevölkerung ist man des Krieges müde und sehnt sich nach einer Versöhnung. Der kurze Waffenstillstand, den die Regierung und die Taliban über die Festtage des Id al-Adha, „Opferfest“ (Beginn 12. Juli 2018) erklärt und eingehalten hatten, wurde mit Freuden aufgenommen. Vielerorts kam es zu Verbrüderungsszenen zwischen den Kämpfern beider Seiten. Doch kurz nach den drei Festtagen hat die Taliban-Führung die Kampfhandlungen wieder aufgenommen. Die Regierung und ihre amerikanischen Verbündeten hatten einen Waffenstillstand für sieben Tage angeboten, die Taliban wollten nur drei Tage. Dem Vernehmen nach bestraften die Taliban ihre Soldaten, die an Verbrüderungsaktionen beteiligt waren.
Ellenbogenfreiheit
Zwar hat Präsident Trump die die Zahl der amerikanischen Berater und Helfer der afghanischen Streitkräfte etwas erhöht – doch die amerikanische Strategie hat er nicht wirklich geändert.
Unter Trump haben die amerikanischen Generäle und Offiziere in Afghanistan mehr Ellbogenfreiheit, um das zu tun, was sie für gut befinden. Unter Obama mussten sie auch für kleine Schritte zuerst in Washington nachfragen. Die Ellbogenfreiheit hat jetzt dazu geführt, dass die amerikanische Luftwaffe und die Drohnen häufiger und bedenkenloser eingesetzt werden.
Solche Einsätze sind immer zweischneidig. Die Afghanen melden immer wieder zivile Opfer. Die Amerikaner dementieren solche Meldungen. In Afghanistan gehört Rachepflicht zur nationalen Ethik. Kommen Zivilisten bei bei Bomben- und Drohnenangriffen ums Leben, hat dies oft zur Folge, dass – aus Rache – die Angehörigen der Opfer, oft ganze Stämme – zu den Taliban überlaufen.