Im Schweizerischen Landesmuseum Zürich wird morgen Mittwoch um 18.30 Uhr die bei NZZ Libro erscheinende Biografie «Der erste Schweizer Aussenminister. Bundesrat Numa Droz (1844–1899)» von Urs Kramer und Thomas Zaugg vorgestellt. Sie beleuchtet insbesondere die Auseinandersetzungen mit dem deutschen Reichskanzler Bismarck um die deutschen Emigranten in der Schweiz, und sie wirft einen Blick ins Innere einer keineswegs konfliktfrei agierenden Schweizer Landesregierung. Vor der Buchpräsentation führt Thomas Zaugg um 17 Uhr durch die Ausstellung «Bundesrätinnen und Bundesräte seit 1848» (Voranmeldung erforderlich). Und er beantwortet hier ein paar Fragen zu Numa Droz.
Der Neuenburger Numa Droz ist bis heute mit 31 Jahren das jüngste in den Bundesrat gewählte Mitglied der Landesregierung. Wie war im Jahr 1875 dieser kometenhafte Aufstieg möglich?
Thomas Zaugg: Droz’ Aufstieg ist tatsächlich ungewöhnlich und erklärungsbedürftig. Dies umso mehr, als er bereits früh eigene politische Positionen vertrat und sich damit Kritiker im eigenen Lager schuf. Von einem Arbeitersohn, der innerhalb von zwei Jahren Vater und Stiefvater verliert, würde man mehr Anpassung erwarten. Droz umgab eine gewisse Rastlosigkeit, er war Autodidakt und wurde als unermüdlicher Arbeiter auch in seiner Regierungstätigkeit wahrgenommen. Diese auferzwungene Schaffenskraft ist wohl auch mitverantwortlich für seinen frühen Tod. Droz lebte nie befreit von Sorgen. Urs Kramer beschreibt erstmals und eindrücklich, wie Bundesrat Droz in den 1880er Jahren aus finanziellen Gründen in die Privatwirtschaft wechseln wollte.
Numa Droz wurde 1844 geboren und stammte aus einfachen Verhältnissen. Er war das Kind eines Uhrmachers aus La Chaux-de-Fonds. Warum hat er sich mit diesem sozialen Hintergrund nicht der politischen Linken, also sozialistischen Kreisen, angeschlossen, sondern jener Hauptströmung, die sich dann später im Freisinn konstituierte?
Zaugg: Das nahe Juragebiet ist ein wichtiger Geburtsort der internationalen anarchistischen Bewegung ab den 1870er Jahren. Droz’ Jugend aber fällt ein Jahrzehnt früher in eine Zeit, in der in Neuenburg immer noch der Gegensatz zwischen Konservativen und Radikalen herrschte. Um 1860 bewegte sich Droz sogar noch in klerikalen Kreisen. Er wollte Missionar werden, stiess aber beim Klerus auf Ablehnung. Die Radikalen, wie sich die eher linksstehenden Freisinnigen in Neuenburg nannten, setzten sich für soziale Fragen ein. So fand Droz, der sich auch für den Arbeiterschutz interessierte, bei den damaligen Freisinnigen wohl genug soziales und auch bildungspolitisches Engagement, dem er sich anschliessen konnte. Die Radikalen suchten ihre Anhänger genau in jener Gesellschaftsschicht, in der sich Droz etablieren wollte: bei den Lehrern, Uhrenherstellern und Beamten aus der Mittelschicht. Einige Historiker vermuten übrigens, dass es die frühere Ablehnung seitens des Klerus gewesen sei, die Droz’ Wirken als Staatsrat zu Beginn der 1870er Jahre ein Stück weit angetrieben habe.
Wie hat überhaupt die politische Landschaft in diesen ersten Jahrzehnten des Bundesstaats ausgesehen?
Zaugg: Von Parteien im heutigen Sinn kann in den ersten Jahrzehnten des Bundesstaats nicht die Rede sein. Die SP gründete sich 1888, die FDP 1894, der Vorgängerin der CVP gelang der nationale Zusammenschluss sogar erst 1912. Eine Mehrheit der frühen Bundespolitiker war Teil der «freisinnigen Grossfamilie», wie es der Politikwissenschaftler Erich Gruner einmal ausgedrückt hat. Bis zur Wahl des ersten Katholisch-Konservativen in die Landesregierung 1891 gehörten alle Bundesräte jener freisinnigen Grossfamilie an.
Die Unterschiede zwischen den Vertretern dieser Grossfamilie waren jedoch von Beginn an beträchtlich. Man findet darin kämpferische Republikaner und Wirtschaftsliberale ebenso wie radikale Demokraten und in der sozialen Frage engagierte Politiker. Auch wenn die Parteienforschung in den letzten Jahrzehnten aus verschiedenen Gründen nicht mehr besonders gefördert wird, könnte man hier neue Fragen stellen – auch im Sinne einer Geschichte des vielgestaltigen Freisinns. Interessanterweise schrieb Droz noch kurz vor seinem Tod Ende des 19. Jahrhunderts, dass sich der Sozialismus allmählich in den Bundesstaat integrieren werde. Im Staatssozialismus, in der Überlastung des Staates, sah Droz die grössere Gefahr.
Und unter welchen Bedingungen arbeitete der Bundesrat?
Zaugg: Die Bundesverwaltung war noch vergleichsweise klein. Die Departementsangestellten konnte man manchmal an einer Hand abzählen. Die imposante Erscheinung des Bundeshauses heute hinterlässt insofern einen historisch falschen Eindruck. Lange Zeit stand in Bundesbern nur das Bundeshaus West, das bis heute das Bundesratssitzungszimmer, damals aber auch Parlament und Verwaltung beherbergte. Dieses Bild sagt einiges aus über den in der Frühzeit eher niedrigen Stellenwert der Bundespolitik.
Warum hat denn die Aussenpolitik eine so geringe Rolle gespielt, dass das für sie zuständige Departement vom jeweiligen Bundespräsidenten übernommen wurde und damit jedes Jahr die Hand wechselte?
Zaugg: Kantonale Wirtschaftskammern prägten in der Schweiz lange Zeit die Handelspolitik. Später, ab 1870, war der Industrie- und Handelsverein oft federführend. Der Bund hingegen konnte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum Schritt halten mit der rasanten Industrialisierung. Da viele Politiker in Bundesbern und der Wirtschaft eine Doppelrolle spielten, glaubte man wohl, in der altbewährten Weise in der Handelspolitik fortfahren zu können und sie von Einzelfiguren und einzelnen Verbänden leiten zu lassen. Man sprach zu Beginn bezeichnenderweise auch nicht vom Aussendepartement, sondern vom Politischen Departement.
Numa Droz hat das 1887 geändert. Warum?
Zaugg: Die Professionalisierung der Verwaltung ist ein allgemeines Thema in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, insbesondere nach der neuen Bundesverfassung von 1874, die dem Bund viele neue Aufgaben zutrug. Droz muss bereits Anfang der 1880er Jahre gemerkt haben, wie wenig professionell die Schweizer Aussenpolitik organisiert war: Damals zeigte Johann Konrad Kern, der erste eigentliche Berufsdiplomat der Schweiz, allmählich Alterserscheinungen und Droz musste zwischenzeitlich einspringen, um den Handelsvertrag mit Frankreich zu sichern.
Im grossen Ganzen aber förderte vor allem eine grosse Entwicklung die Professionalisierung: Die protektionistischen Zollmassnahmen, die seit der Wirtschaftsdepression von 1873 zunahmen, zogen neue Handelsverträge nach sich und hart erkämpfte Zolltarifrevisionen im Inland. Allgemein wirkte sich auch der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71 auf die Schweiz aus: Man fand sich in einem Europa der Nationenkriege wieder und wollte sich aussenpolitisch stärker absichern. Viele werden sich wohl gefragt haben, wie in diesem Europa ein Staat mit einem jährlich wechselnden Aussenminister weiterbestehen könne.
Mit welchen Fragen musste er sich als erster eigentlicher Aussenminister der Schweiz bis zu seinem Rücktritt 1892 auseinandersetzen?
Zaugg: Er musste die Ausweisungen von politisch agitierenden Anarchisten, aber auch von deutschen Spitzeln nach aussen legitimieren, was viel diplomatisches Gespür erforderte. Die Handelsverträge und die Zolltarifverhandlungen verlangten aufwendige Vernehmlassungen in der Innenpolitik. Droz war aber auch bekannt für seine vielen publizistischen Beiträge, mit denen er die finanziell schwierige Lage seiner Familie aufbesserte.
Warum war gerade die Frage der politischen Flüchtlinge so brisant?
Zaugg: Die offizielle Schweiz zeigte wohl im Vergleich zu den 1830er Jahren, als sie ein Hort republikanischer Flüchtlinge war, mit den politischen Dissidenten der zweiten Jahrhunderthälfte weniger Verständnis. Die Abneigung gegenüber dem Anarchismus und dessen politischen Anschlägen kann nur ein Teil der Erklärung dafür sein. In der Zeit der repressiven Sozialistengesetze von Reichskanzler Bismarck ab 1878 stand man unter verstärktem aussenpolitischem Druck.
Auch neutralitätspolitische Überlegungen spielten eine Rolle: Man hatte 1848, mit der Gründung des Bundesstaates, gegen die alte Ordnung des Wiener Kongresses verstossen, musste aber hoffen, dass die Grossmächte die Neutralität der revolutionären Schweiz weiterhin anerkennen würden. Der junge Bundesstaat reagierte daher sehr sensibel auf den Vorwurf, ein Zentrum internationaler staatsgefährdender Bewegungen zu sein.
Was hat Numa Droz der Schweiz politisch hinterlassen?
Zaugg: Droz war zu erratisch, aber auch zu pragmatisch, um ihn heute als Abziehbild einer grossen Hinterlassenschaft betrachten zu können. Er war in gewissen Fragen radikal und antiklerikal, ein beherzter Zentralist, zugleich ein Anhänger des Freihandels mit sozialem Engagement, der bereits früh den eigenen etablierten Kreisen widersprach. Später war er ein zunehmend einsamer und etatismuskritischer Liberaler, der das Instrument der Volksinitiative kritisierte, aber bei genauerer Betrachtung nicht gegen den Sozialismus polemisierte. Diese Widersprüche hinterlässt uns Droz als unaufgelöste Fragen.
Urs Kramer, Thomas Zaugg: Der erste Schweizer Aussenminister. Bundesrat Thomas Droz, NZZ Libro, 2021