Vieles bleibt im Unklaren. Viel wird angetippt. Oft bleibt Widerspruch. Das Kursorische liegt in der Natur eines nach alle Seiten hin offenen Ausstellungsessays, zu dem das Gespann Juri Steiner und Stefan Zweifel mit „Der erschöpfte Mann“ im Landesmuseum Zürich bereits zum vierten Mal ausholt – nach „1900–1914. Expedition ins Glück“ (2014), „Dada Universal“ (1916) und „Imagine 68. Das Spektakel der Revolution“ (2018).
All das ist gewollt und Strategie der beiden auf Surrealismus und andere widerläufige Kulturströmungen spezialisierten Gastkuratoren: Sie wollen nicht Klarheit, wo es keine gibt, und nicht Harmonie, wo Disharmonie vorherrscht. Das Landesmuseum gab ihnen Carte blanche – mit Erfolg, wie die früheren Projekte zeigten, und wie es nun auch mit „Der erschöpfte Mann“, der Befragung des Männerbildes in rund 2000 Jahren europäischer Geschichte, der Fall ist.
Entstanden ist eine weit ausgreifende, mit bunter Phantasie zusammengestellte und auch publikumswirksame Schau. Bestückt wird sie aus Beständen des Landesmuseums selber, aber auch aus oft weit hergeholten Leihgaben. Aus den vielen teils magistralen, teils auch skurrilen Objekten entwickelt sich ein ganzes Geflecht von Beziehungen und Bedeutungen.
Dass die Ausstellung mehr Fragen stellt als Antworten gibt, gehört zum Konzept und fordert die Besucherinnen und Besucher heraus: Sie kommen zu ihrem Schauvergnügen, doch richtig lustvoll wird es erst, wenn man sich intensiv mit den servierten Widersprüchen beschäftigt und versucht, sich auf die oft verwinkelten und nicht immer leicht zu erschliessenden Gedankengänge der Kuratoren einzulassen.
Laokoon und Zidane – geht das?
Das beginnt schon mit dem Abguss der Laokoon-Gruppe, die in ihrem strahlenden Gipsweiss oben an der Treppe die Besucher empfängt. Sie ist ein richtiger Eyecatcher, und auch der Titel „Der erschöpfte Mann“ knallt so richtig. Doch taugt der trojanische Priester als Blickfang? Ist er der „erschöpfte Mann“? In der Skulpturen-Gruppe ist er der im Kampf gegen die Schlangen sich aufbäumende und schliesslich überwältigte Held. Die Götter strafen ihn, weil er – je nach mythologischer Überlieferung – entweder im Tempel Sex hatte (Sophokles und andere) oder weil er die Trojaner vor dem trojanischen Pferd warnen wollte (Vergil).
Der Auftakt ist mehrdeutig. Auch dass seine grosse Geste als Pathosformel durch die europäische Kunstgeschichte ging und mit ganz verschiedenen Bedeutungen unterlegt wurde – bis hin zur triumphierenden Gestik des auferstehenden Christus – deckt mancherlei Widersprüche in den Deutungen auf.
Im Landesmuseum gibt die Projektion eines Ausschnitts aus Douglas Gordens und Philipp Parrenos Film von 2006 über den Starfussballer Zidane den Hintergrund zu Laokoon ab. Der Ausschnitt konzentriert sich auf ein Foul des Stars. Die Kombination ist typisch für Steiner und Zweifel, die gerne auf zufällige Begegnungen und damit auf der surrealistischen Denkungsart entlehnte Strategien setzen. Der zum Anti-Laokoon stilisierte Fussballgott begegnet über zwei Jahrtausende hinweg dem sterbenden Priester: Zwei gegensätzliche Männerbilder als Auftakt – das packt: Der eine siegt, der andere unterliegt, auch wenn es damit mit sinnvollen Gegenüberstellungen schon ein Ende hat.
Achilles als Leitfigur
Anderes passt sehr gut – die Figur des Achilles zum Beispiel, in der sich die ganze Ambivalenz des Männerbildes spiegelt: Er ist der – bis auf die berühmte Achillesferse – unverletzbare und strahlende Held. Er ist gierig nach Ruhm und will lieber ein kurzes heftiges Heldenleben als ein langes ödes. Er kämpft. Er zieht sich aber auch beleidigt in die Schmollecke zurück. Er braust auf. Er liebt Penthesilea, die er trotzdem tötet, liebt aber auch Patroklos, dessen Tod er rächt, indem er Hektor im Kampf besiegt und tötet. Er stirbt, dahingerafft durch einen Pfeil des Paris, den Apollon in seine Ferse lenkt.
Diesen Achilles erklären Steiner und Zweifel zu einer Leitfigur ihres Parcours durch 2000 Jahre Männerwelt mit ihren widersprüchlichen Facetten. Cy Twomblys Meisterstück «The Vengeance of Achill» (1962, Kunsthaus Zürich) steht für diese Figur, ein hoch aufragendes Dreieck voller Blut, ein ausbrechender Vulkan, ein riesenhaftes A eben für Achill.
Der Ritter Spiel um Liebe und Macht
Der in der Öffentlichkeit leidende Mann ist ein Thema – als der geschundene Marsyas, als der asketische Körper, auch als Jesus am Kreuz. Ein weiteres Thema ist die Figur des Ritters, in der sich ganz verschiedene Männlichkeitsaspekte überschneiden: die Verkörperung der Ritterlichkeit gegenüber den Damen, die ritualisierte Liebe im Minnedienst, die Gewalt im Kampf und auch im Kampfspiel.
Prominent zum ritterlichen Männerbild gehört die eiserne Schamkapsel, die das Gemächt des Ritters schützen und zugleich profilieren soll: Zahlreich liegen sie in einer Vitrine. Eine Leihgabe aus der Hofjagd- und Rüstkammer des Kunsthistorischen Museums Wien bringt eine wiederum manche Widersprüchlichkeiten ausleuchtende Note in die Ausstellung: Ein „Rennzeug zum Scharfrennen“ (ein Panzer für keineswegs harmlose Turnierspiele) von 1498 gehörte dem nachmaligen Kurfürsten Johann dem Beständigen von Sachsen, einem engen Freund Martin Luthers.
Hannah Wilke und Louise Bourgeois
Den Schritt in die Moderne tun Zweifel und Steiner mit Marcel Duchamps „Boîte en valise“, in der es auch eine Abbildung des „Grossen Glases“ gibt – für die Kuratoren ein Signal für den Rückzug ins Innere und Private. Auch da kommt es zu einer nun allerdings alles andere als zufälligen Begegnung: Den Hintergrund zu Marcel Duchamps Werken bildet die Projektion eines Filmes von Hannah Wilke (1940–1993). Die amerikanische Künstlerin zeigte sich 1976 selbstbewusst als Stripperin – gesehen eben durch Duchamps „Grosses Glas“: Ein feministisches Statement der ersten Stunde zu Duchamps „Junggesellenmaschine“ und der mit ihr formulierten Vorstellungen vom sich auf sich selbst zurückziehenden und sich selbst auch genügenden Mann.
Robert Mapplethorpes ikonisches Foto von Louise Bourgeois verweist auf ein weiteres feministisches Statement: Die 71-jährige Künstlerin präsentierte sich 1982 listig-ironisch in die Welt lächelnd, unter dem Arm ihr mächtiges phallisches Objekt „Fillette“.
Melancholie oder die fehlenden „Crying Men“
„Der erschöpfte Mann“: Der Titel der Ausstellung ist griffig und werbewirksam, weil er gradlinig abzielt auf den Wandel des Männerbildes vom glanzvollen Alleskönner hin zu dem an seinem Rollenverständnis zweifelnden oder an den Leistungsvorgaben der Gesellschaft scheiternden Mann. Doch der Titel ist aber auch problematisch: Triumphierende Helden – so der genüsslich seine Zigarre schmauchende Che Guevara auf René Burris Foto von 1963 –, auch leidende oder sterbende asketische Männerkörper wie Christus am Kreuz lassen sich attraktiver ins Bild setzen als ausgepumpte, erschlaffte und melancholisch ihren Weltschmerz pflegende Männer.
In der Ausstellung gibt es diese Erschöpften als ambivalente Andeutungen – von Franz Xaver Messerschmidts (1736–1783) Charakterköpfen über die Soldaten im Ersten Weltkrieg bis zu Andy Warhols Fotografie eines Pietà-Reliefs. Auch aktuelle Gender-Thematik ist nicht ausgeblendet: Eine antike männliche Figur kann schon mal weibliche Züge annehmen und umgekehrt. Die Französin Claude Cahon (1894–1954) schliesslich dreht alles um, was sich umdrehen lässt, und überspielt alle Geschlechtergrenzen. Sie präsentiert sich im Männer-Jackett und mit kahlem Schädel. Das volle Haar, für manche Männer klassisches erotisches Signal, ist weg. Einen markanten Schlusspunkt bildet das Thema des schlafenden und träumenden Hermaphroditen.
Es gäbe packendere und klarere Bildfindungen zum Thema des erschöpften Mannes. Zum Beispiel die Serie „Crying Men“ von Sam Taylor-Johnson; da zeigt ein Bild den still vor sich hin weinenden Schauspieler Robin Williams (2004). Oder, näherliegend, Urs Lüthis programmatisches Selbstporträt „Lüthi weint auch für Sie“ (1970). An Urs Lüthi haben Juri Steiner und Stefan Zweifel aber gedacht. Sie lassen ihn mit einem anderen Werk zu Wort kommen.
Rösselsprünge
Dass sich in der Schau nicht alles leicht in die Thematik des Männerbildes einbinden lässt – zwei Beispiele: Lutz & Guggisbergs „Globus“ (2008) oder Franz Xaver Heubergers wundersames kleines Wachsmedaillon mit drei Kindern (1831) –, auch dass dies und jenes vielleicht austauschbar sein mag, tut vielleicht nicht allzu viel zur Sache. Ein Ausstellungsessay wie „Der erschöpfte Mann“ muss nicht in jedem Detail absolut schlüssig und rational nachvollziehbar sein. Kleine Winkelzüge oder zufällig anmutende dadaistische Rösselsprünge der Kuratoren mögen gar, da sie unser suchendes Nachdenken ankurbeln, die Lust am Besuch erhöhen.
Landesmuseum Zürich, bis 10. Januar