Antoine Roquentin, der Protagonist in Sartres Roman „Der Ekel“, macht an einer berühmten Stelle eine „eklige“ Erfahrung seiner Hände:
Ich sehe meine Hand, die auf dem Tisch liegt. Sie lebt – sie ist ich. Sie öffnet sich, die Finger spreizen sich, sie liegt auf dem Rücken, zeigt mir ihren fetten Bauch. Sie sieht aus wie ein umgeworfenes Tier, die Finger sind seine Beine. Es macht mir Freude, sie sehr schnell zu bewegen, wie die Beine eines Krebses, der auf den Rücken gefallen ist (...) Meine Hand (...) liegt platten Bauches auf dem Tisch, zeigt mir ihren Rücken. Ein Silberrücken, ein wenig glänzend, beinahe ein Fisch, wären nicht die roten Härchen an den Ansätzen der Glieder. Ich fühle meine Hand. Diese beiden Tiere, die sich da am Ende meiner Arme rühren – das bin ich.
Die existenzielle Ur-Erfahrung
Man könnte sagen, dass Roquentin an seinen Händen eine existenzielle Ur-Erfahrung macht, nämlich zugleich ein Ding und ein Ich zu sein. Wenn ich auf meinen Handrücken blicke, sehe ich ein Objekt, das ich aus intimster Nähe kenne – das ich bin. Teile davon sind gegenwärtig nicht sichtbar, etwa der Handballen, aber dennoch fühle ich ihn durch den sanften Druck der Tischplatte, auf der meine Hand ruht. Ich spüre auch ihr Inneres durch Empfindungen wie Wärme, Gewicht oder – lokaler – Schmerz. Auf diese Weise zeigt diese Hand hier und jetzt stets zwei Seiten: Sie ist „da draussen“ und sie ist „da drinnen“, sie ist meine Hand. Sie kann mir wie ein fremdes Objekt erscheinen, etwa dann, wenn sie betäubt ist. Ich habe dann die Empfindung, als gehörte sie mir nicht. Zudem können andere das „Draussen“ meiner Hand sehen und auch berühren, nicht aber das „Drinnen“, zum Beispiel meinen Schmerz. Wann und wo immer wir auf irgendeine schmerzende Hand in der Welt stossen – wir stossen auf eine unüberwindbare Grenze zwischen einem „Innen“ und „Aussen“.
Diese Grenze ist etwas Banales und etwas zutiefst Erstaunliches, Beunruhigendes. Der Körper des Menschen lässt sich „ver-dinglichen“ und „ver-ichlichen“. Darin liegt die Seinsweise des Menschen – philosophisch gesprochen: sein ontologischer Status, der ihn wahrscheinlich von allen uns bekannten Dingen und anderen Lebewesen unterscheidet. Er ist ein nicht beruhigter, ein instabiler, ein zittriger Zustand.
Existiert die Welt „da draussen“?
Es gibt die philosophische Frage, die das Denken immer wieder aufscheucht und flattern lässt: Wie können wir unseren Glauben an eine Welt beständiger materieller Dinge „da draussen“ rechtfertigen? Die neuzeitliche Philosophie begann bekanntlich mit dieser Frage und der skeptischen Antwort von Descartes: Wir können an all dem, was uns die Sinneserfahrung liefert, zweifeln, sogar an unserem eigenen Körper – nur das Denken gibt uns Sicherheit, sichert unsere Kontrolle über den Körper, über die ganze körperliche Welt.
In der Nachfolge dieser tiefen Erkenntnisskepsis äusserte zum Beispiel David Hume die Meinung, dass alle materiellen Objekte, die wir erfahren, letztlich blosse Vorstellungen oder Fiktionen sind, Konstrukte aus Sinneseindrücken. Auch unser Ich ist gemäss Hume eine solche Fiktion. An einer bekannten Stelle seiner „Abhandlung über die menschliche Natur“ schreibt er: „Wenn ich recht tief in dasjenige eindringe, was ich mein Selbst nenne, so treffe ich stets auf gewisse partikuläre Vorstellungen oder auf Empfindungen von Hitze und Kälte, Licht oder Schatten, Liebe oder Hass, Lust oder Unlust. Ich kann mein Selbst nie allein ohne eine Vorstellung ertappen, was ich beobachte, ist nichts als eine Vorstellung.“ Und im 20. Jahrhundert sprach ein Geistesverwandter Humes – der Philosoph Willard van Orman Quine – ähnlich von den „kulturellen Setzungen“ („cultural posits“), die ich aus den „Reizen der sensorischen Oberflächen“ zurechtschneidere.
Der Skandal der neuzeitlichen Philosophie
Nun ist das alles höchst seltsam, ja, bizarr, aus mindestens drei Gründen. Erstens mutet schon das Bedürfnis einer Rechtfertigung unseres Glaubens an die Welt „da draussen“.ziemlich „gestört“ an. Zweitens suggeriert das Bild der Sinnesoberflächen, dass ich „da drinnen“ durch die Schicht der Sinne irgendwie abgeschirmt bin von den Dingen „da draussen“. Und wer ist drittens eigentlich dieses „Ich“? Sitzt es „da drinnen“ wie in einem Cockpit mit lauter Monitoren, die mir das Geschehen aus der Welt zutragen? Letztlich wirkt hier das Erbe Descartes’ nach, die Idee nämlich eines körperlosen Intellekts: der „denkenden Sache“ irgendwo in meinem Kopf. Als ob der denkende Mensch nicht immer auch ein verkörperter wäre und somit agierend und reagierend mitten in der Welt stünde, die er tausendfältig wahrnimmt. – Das Intellektuelle und das Körperliche gehören zusammen wie die Aussen- und die Innenansicht meiner Hand. Der Skandal der ganzen modernen Philosophie besteht darin, dass sie unserem Köper das Ich entzieht und unserem Ich den Körper.
Hände: existenzielle Rückversicherer
Dabei ist es gerade die Hand, ihr taktiler Sinn, der uns die Dinge in den Griff bringt, handfest macht. Der Mensch wird mit zur Faust geschlossenen Händen geboren. Kaum auf der Welt, öffnet der Säugling die Faust – ein geadezu emblematischer Akt: er will die Welt ergreifen, er will – später – die Welt begreifen.
Die Hand anschauen, die ich zugleich direkt als meine fühle, vermittelt eine visuelle und taktile Parallelerfahrung. Das Sehen-und-Fühlen verleiht den Dingen eine ontologische Tiefe. Sie existieren nicht einfach bildschirm-artig. Ich sehe mehr als ich fühle – zum Beispiel die Schatten in den Falten meiner Fingerknöchel –, und ich fühle mehr als ich sehe – zum Beispiel den Druck auf meine Hand. Auf diese Weise eröffnen mir die beiden Sinnesmodalitäten eine zusätzliche Erfahrungsdimension, analog zum beidäugigen Sehen. Wenn ich also auf meine Hand schaue, habe ich immer eine Ding- und eine Ich-Erfahrung. Der Gesichtssinn lokalisert das Objekt „da draussen“, und wenn ich nicht sicher bin, ob das Objekt existiert, versichert mir dies der Tastsinn, der gefühlte Kontakt über meinen Körper. Meine Hände sind sozusagen existenzielle Rückversicherer. Ich erinnere mich an die über neunzigjährige Frau im Altersheim, die immer kleine Stoffhasen mit sich herumtrug, drei oder vier; drückte sie, knetete sie, hätschelte sie. Der einzige noch verbleibende Kontakt zur Welt, die ihr allmählich buchstäblich abhanden kam? –
Das Denken ist nicht im Kopf
Weil die Hände Verkörperungen meines Ichs sind, und dieser Körper in der Welt ist, bin auch ich dank ihm buchstäblich in der Welt. Selbst mein Denken findet nicht bloss in meinem Kopf statt, es ist eine körperliche Handlung, eine Handlung in der Ich-Perspektive. „Ich denke, ich bin“ heisst immer zugleich „Ich denke, er (der Körper) ist“. Mein Körper ist nicht einfach ein Konstrukt des Denkens, weil das Denken bereits meinen Körper voraussetzt. Ludwig Wittgenstein hat sich in seinem Spätwerk immer wieder gegen den cartesianischen Gedanken gewandt, dass wir uns aus unserer körperlichen Existenz herauszweifeln können. Wir können es nicht: „Wenn Einer mir sagte, er zweifle daran, ob er einen Körper habe, würde ich ihn für einen Halbnarren halten. Ich wüsste aber nicht, was es hiesse, ihn davon zu überzeugen, dass er einen habe. Und hätte ich etwas gesagt, und das hätte den Zweifel behoben, so wüsste ich nicht wie und warum.“ (Philosophische Untersuchungen, Par. 257)
Der schreiendste Widerspruch unserer Gesellschaft
Man kann heute nicht von der Hand sprechen, ohne auf den wohl schreiendsten Widerspruch in unserer Gesellschaft hinzuweisen. Sie gefällt sich ja in der näheren Charakterisierung „digital“, was vom Wortsinn her auf die Finger, also auf die Hand deutet. Nun verraten aber die digitalen Technologien eine höchst defizitäre Anthropologie, die die Intelligenz des lebenden Körpers in seiner Offline-Umwelt kaum gebührend berücksichtigt, ja oft geradezu wie ein rezessives Merkmal betrachtet. Genau hier aber liegt die Chance, das wiederzuentdecken, was wir immer schon haben und immer schon können. Intelligenz ist haptisch, sie braucht Finger. Die Dichte der Nervenenden in unseren Fingerspitzen ist enorm gross. Ihr Unterscheidungsvermögen gleicht nahezu jenem unserer Augen, sagt der finnische Neurologe Matti Bergström. Wenn wir unsere Finger nicht gebrauchen, werden wir „fingerblind“, verlieren wir unser Fingerspitzengefühl: eine Form von Selbstverstümmelung, ergo Dummheit.
Atmen Sie also, wenn Sie das nächste Mal auf Ihre Hände schauen, einen Augenblick lang tief durch – im Bewusstsein, welch ein philosophisches Geschenk Sie da eigentlich Ihr Eigen nennen.