Über hundert Journalisten belagern die Gemelli-Klinik nördlich des Vatikans. Stündlich stehen Reporter vor den Kameras und berichten Neues. Gläubige blicken mit verzerrten Gesichtern an ein Fenster im dritten Stock. Überall wird gebetet und gefleht. Im Innern des Spitals kämpft ein Mann mit dem Tod.
Mitte März kehrt er in den Vatikan zurück. Am 2. April um 21.37 Uhr stirbt er. Rom gerät aus den Fugen. Mehr als vier Millionen Menschen überfluten die Stadt. Das war vor neun Jahren.
Gequältes, grimmiges Gesicht
Kein Papst hat sich so in Szene gesetzt wie Johannes Paul II. Selbst seine Leiden und Krankheiten zelebriert er mit fast schamloser Offenheit. Da schleppt er das Kreuz und keucht in die Mikrofone der Fernsehkameras. Da klammert er sich an den Fensterrahmen über dem Petersplatz und stammelt heilige Worte.
Und immer sind die Kameras dabei. Vor allem auch jene des Vatikans. Grosseinstellungen auf ein gequältes, grimmiges Gesicht. Als ob er dem Teufel den Kampf ansagte.
Sein Leiden beginnt schon früh. 1981 wird er von einem türkischen Rechtsextremisten angeschossen. 1992 findet man einen Tumor in seinem Dickdarm.
Einmal, bei einem Spaziergang in seinem geliebten Aosta-Tal, mag er nicht mehr. Er klagt: „Ich bin ein armer Teufel“. Ganz so wörtlich meinte er das mit dem Teufel wohl nicht.
1994 stürzt er im Badezimmer, bricht sich den Oberschenkel und erhält ein künstliches Hüftgelenk. In den letzten Jahren leidet er an Parkinson und einer schweren Arthritis. Und dann noch ein Luftröhrenschnitt.
Er hastet durch die Welt
Die Gläubigen leiden mit, sie fiebern um seine Gesundheit, viele weinen. Der Vatikan-Sprecher füttert die Medien mit immer neuen Details. Diskretion gibt es kaum. Endlich sind sie wieder da, die Gläubigen, zu Hunderttausenden, zu Millionen.
Er hastet durch die Welt, der eilige Heilige. Kein Papst reiste so viel wie er. 127 Länder hat er besucht: Staatsbesuche, Happenings. Er hat den Weltjugendtag erfunden, er will seine Interpretation des Evangeliums vermitteln – doch in Europa leeren sich die Kirchen. Missionieren ist schwer, wenn man eine weltentrückte Philosophie verkündet.
Jeder Auftritt des kranken Mannes wird zu Mega-Show. Niemand soll sagen, die bösen Medien stünden dahinter. Der Vatikan hat sie gerufen. PR à la Vatikan. Am Ostersonntag 2005 sehen wir den fast 85-Jährigen zum letzten Mal. Stumm spendet er den Segen Urbi et Orbi.
Die Früchte der Selbstvermarktung
Johannes Paul ist längst zum Superstar geworden. Zu seiner Beisetzung erntet er die Früchte seiner Selbstvermarktung. Von überall her kommen sie, aus den Philippinnen, aus Lateinamerika und vor allem aus Polen. Sie schlafen auf den Strassen, sie beten und singen. Und immer rufen sie: „Santo subito“.
Zwei junge Spanierinnen, die man eher in einer Disco vermutet, blicken in den Himmel und werfen die Hände in die Höhe: „Herr, öffne den Himmel, zieh uns hinauf, der Jüngste Tag ist da.“ Andern versagt der Kreislauf, das Rote Kreuz ist präsent.
Hollywood vom Feinsten
Wie im Rausch taumeln die Gläubigen durch die Gassen. Rom ist nicht mehr passierbar. Die Stadt kollabiert. Viele Römer bleiben zu Hause, sie ertragen ihn nicht, diesen grössten Massenauflauf in der Geschichte des Christentums.
Zehntausende ziehen an der aufgebahrten Leiche vorbei. Alles wird gefilmt. Grosseinstellungen des Toten, Tränen, Klagen. Dann das Begräbnis. Die Ewige Stadt im religiösen Wahn. Die Gewänder der Kardinäle und Bischofe flattern, auf dem Sarg liegt eine Bibel, der Wind blättert die Seiten um. Hollywood vom Feinsten.
Auch nach dem Tod beherrscht der tote Pontifex die Szene. Postkarten mit seinem Bild sind noch heute ein Renner. Überall Gipsfigürchen und Kalender. Seinen Nachfolger sieht man kaum: keine Postkarten, keine Huldigung. Ratzinger gibt es nicht. Als er zurücktrat, ging ein erleichtertes Seufzen durch das Land. Die Italiener mochten den Deutschen nicht.
„Steh auf, hab‘ keine Angst“
Nur wer ein Wunder bewirkt hat, wird selig- und heiliggesprochen. Also musste ein Wunder her. Der damals kranke Benedikt war in Eile. Noch vor seinem Tod wollte er seinen Gleichgesinnten Wojtyla in den Heiligen-Stand versetzen.
Und plötzlich war es da, das Wunder. Es geschah in Costa Rica. Floribeth Mora Díaz, eine 50-Jährige litt an einem spindelförmigen Aneurysm im Hirn. Der Tod schien nahe. Als Johannes Paul seliggesprochen wurde, veröffentlichte „La Nación“, die grösste Zeitung des Landes, ein Schwarz-weiss-Foto von Johannes Paul. Floriberth sah das Bild auf der Frontseite. Da hörte sie eine Stimme. Die Hände des eben Gesegneten kamen aus dem Foto heraus: „Steh auf“, sagte die Stimme“, habe keine Angst“. Floriberth war geheilt.
„Ein etwas schäbiges Wunder“, meinen heute einige Römer.
„Der widersprüchlichste Papst“
Jetzt also wird Johannes Paul II. heiliggesprochen. Verdient er das? Verdient das die katholische Kirche?
Nicht alle finden es. Benedikt XVI., der konservative Traditionalist, hat die Heiligsprechung vorangetrieben. Auch Opus Dei huldigt dem Polen.
„Ich kann nicht verstehen, dass dieser Papst heiliggesprochen werden soll“, sagte Hans Küng, einer der prominentesten Kirchenkritiker, im Dezember in einem Spiegel-Interview. „Er ist der widersprüchlichste Papst des 20. Jahrhunderts … Er hat ständig anders geredet als gehandelt“.
Ein Heiliger, der Kinderschänder schützt?
Karol Wojtyla alias Johannes Paul II. verbot Kondome und schickte damit Hunderttausende in den Tod. Er verehrte Maria, doch Frauen haben keinen Platz in seiner Kirchen-Hierarchie. Er beklagte die Armut, war gegen Empfängnisverhütung und trug dazu bei, dass die Armen noch ärmer wurden. Und: Er duldete sexuelle Übergriffe innerhalb der Kirche.
Er hatte seltsame Freunde. „Er hat zum Beispiel“, so Küng, „auch Pater Marcial Maciel, einen der schlimmsten Knabenschänder und Gründer der Legionäre Christi, als seinen persönlichen Freund betrachtet und ihn gegen alle Kritik in Schutz genommen.“
Ein Heiliger, der Knabenschänder schützt?
Und wieder geht es los
Küng kritisiert auch, dass die Heiligsprechung „unter Missachtung aller vorgeschriebenen Fristen“ erfolgt. "Es gibt zu viele Einwände gegen ihn, die nicht genug gewertet wurden.“
All das kümmert jetzt Wojtylas Anhänger wenig. Vier oder fünf Millionen strömen in diesen Tagen nach Rom. Selbst aus Polen erwartet man über eine Million.
Und wieder geht es los: 34 Fernsehkameras sind am kommenden Sonntag im Einsatz, 13 übertragen in 3D, 112 ausländische Fernsehstationen haben sich angemeldet. Der Vatikan mag mit rückständigem Personal bestückt sein und weltfremde Philosophien verbreiten: Wenn es um die Vermarktung geht, ist man top.
Pizza Giovanni Paolo
2‘500 Freiwillige werden in den Strassen Wasser verteilen. Fliegende WCs werden aufgebaut, damit der Tiber verschont bleibt. 12‘000 zusätzliche Sanitäter sind aufgeboten. Der Wetterbericht verheisst nach einem regnerischen Samstag einen sonnigen Sonntag bei 19 Grad.
Der Verkehr in der Innenstadt wird gesperrt: Rom wird zur Fussgängerzone. Die Restaurants freut‘s, längst gibt es die „Pizza Giovanni Paolo“ – nur Mozzarella und Tomaten, weiss-rot, die Farben der polnischen Flagge. Die beiden Metro-Linien A und B werden nonstop fahren. Die Polizei hat Anweisung, Schlafende in den Strassen nicht wegzuräumen.
Eine geniale Idee
Franziskus, der jetzige Papst, hat wenig gemeinsam mit Wojtyla und Benedikt. Dass er eine Art Gegenpol zu ihnen ist, zeigt er fast täglich. Und ausgerechnet er muss nun den stur-konservativen Johannes Paul heiligsprechen. Es ist zu vermuten, dass ihm das wenig behagt. Doch täte er das nicht, wäre dies ein Affront gegenüber Ratzinger und den strammgläubigen Polen – und ein Affront gegenüber den vier Millionen, die zur Beisetzung Wojtylas gekommen waren. Also beisst er in den sauren Apfel. Auch Päpste müssen Konzessionen machen.
Doch da hatte er eine geniale Idee. Um den Biss in den Apfel zu versüssen, spricht er am kommenden Sonntag nicht nur Wojtyla heilig, sondern auch Johannes XXIII., den „guten Papst“. Heiligsprechung im Multipack. Wojtyla hat die Bühne nicht für sich allein, sondern muss sie mit Angelo Roncalli alias Johannes XXIII. teilen.
Brauchen wir Heilige?
Der Italiener Roncalli wollte das Rad nach vorne drehen, der Pole Wojtyla klammerte sich am Rad fest: dass es sich ja nicht drehe. Karol Wojtyla war ein verbissener, unbelehrbarer Konservativer. Johannes XXIII. war das Gegenteil. Er wollte während des Zweiten Vatikanischen Konzils eine historische Kirchenreform durchführen. Johannes XXIII. starb noch während des Konzils an Krebs und aus der Kirchenreform wurde kaum etwas.
Dass er jetzt heiliggesprochen wird, ist eine Botschaft des neuen Papstes. Und Franziskus setzt noch eine obendrauf. Bei Johannes XXIII. wurde für die Heiligsprechung kein Wunder nachgewiesen, wie dies strengstens vorgeschrieben ist. „Macht nichts“, sagt Franziskus, die Kirchenreform und die offene, progressive Haltung des 23. Johannes seien „ein Wunder selbst“. Damit zeigt er, was er vom Heiligenkult hält. Gar nichts. Die Traditionalisten schäumen.
Progressive Katholiken betrachten die Heiligen-Folklore längst als mittelalterlichen Zopf. 81 Päpste wurden bisher heiliggesprochen. Allein Johannes Paul II. hat 482 Menschen zu Heiligen erkoren. Es wimmelt von Heiligen auf dieser Welt. Jetzt gibt es zwei weitere.