Nachdem sie den ersten Schreck über die Massenproteste im ganzen Land überwunden hatte, entschloss sich Dilma Rousseff zu handeln. Sie lud die Gouverneure aller 27 Bundesstaaten und die Bürgermeister der 26 grössten Städte ein, um ihnen einen «grossen Pakt für ein besseres Brasilien» zu verkünden. Die Präsidentin schlägt eine Volksabstimmung über die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung vor. Wird das Referendum angenommen, muss dieses Gremium dann die Grundlagen für eine tiefgreifende Politikreform ausarbeiten. Ziel der Erneuerung, betonte Rousseff, «ist eine stärkere Beteiligung der Bevölkerung am politischen Geschehen».
24 Milliarden für den öffentlichen Nahverkehr
Die Staatschefin versprach, dass Korruption als schweres Delikt eingestuft und mit schärferen Strafen geahndet werden solle. Sie stellte zudem hohe staatliche Aufwendungen für den öffentlichen Nahverkehr in Aussicht. Die Regierung werde umgerechnet rund 24 Milliarden Franken in neue «Projekte für urbane Mobilität» investieren, sagte Rousseff, und damit den Nahverkehr im Land verbessern.
Mit dieser Zusicherung ging sie auf eine zentrale Forderung der Demonstranten ein, die seit rund zwei Wochen in ganz Brasilien zu Hunderttausenden ihrem Zorn gegenüber «denen da oben» freien Lauf lassen. Höhere Fahrpreise für Bustickets, die inzwischen zurückgenommen wurden, waren der Auslöser der sich schnell ausweitenden Proteste. Schon bald richtete sich der Zorn jedoch gegen die politische Klasse im Allgemeinen. Die Demonstranten prangerten Korruption und Vetternwirtschaft an, kritisierten die Ineffizienz der öffentlichen Dienste und die Privilegien der Politiker, brandmarkten die gigantischen Ausgaben des Staates für die Fussball-WM 2014 und andere sportliche Grossereignisse und wiesen auf die gravierenden Mängel im Gesundheitswesen und im Bildungsbereich hin.
Gegensätzlicher Druck von Demonstrierenden und Opposition
Die Proteste halten an. Zwar ist es seit dem Wochenende etwas ruhiger geworden, aber nach wie vor finden Tag für Tag in allen Landesteilen Kundgebungen statt. Dass Rousseff unter dem Druck der Strasse Reformbereitschaft signalisiert, können die Demonstranten, grösstenteils Angehörige der in den vergangenen Jahren deutlich gewachsenen brasilianischen Mittelschicht, als Erfolg werten. Ob sie sich damit zufriedengeben werden, ist allerdings fraglich.
Lange haben die Brasilianer die Arroganz der politischen Elite, ihre Volksferne und ihr ständiges Schachern um Macht und Pfründen lethargisch hingenommen. Jetzt drängen sie auf rasche und umfassende Veränderungen. Die Versäumnisse vieler Jahre lassen sich jedoch nicht von heute auf morgen beheben.
Im Augenblick ist es ohnehin alles andere als sicher, dass die von Rousseff geplante Volksabstimmung tatsächlich zustande kommt. Die rechte Opposition hat bereits zu verstehen gegeben, dass sie sich dem Umbau der politischen Institutionen widersetzen wird. Verfassungsrechtler bezweifeln, dass sich die von der Präsidentin ins Auge gefassten Reformen auf dem von ihr angestrebten Weg umsetzen lassen. Aber selbst wenn alles so laufen sollte, wie Rousseff es sich vorstellt, wird es geraume Zeit dauern, bis sich die von der Mehrheit der Brasilianer erhofften Fortschritte zeigen.
Zu viele Parteien – zu wenig Transparenz
Die Reform des politischen Systems ist in Brasilien seit mehr als einem Jahrzehnt ein Thema. Änderungen sind dringend nötig, sowohl beim Wahlsystem als auch bei der Organisation der Parteien und der Finanzierung der Wahlkämpfe. Aber auch gegen die hohe Zahl der im Parlament vertretenen politischen Organisationen und die vielen Parteienwechsel während einer Legislaturperiode müsste etwas getan werden.
Die Parteienlandschaft ist völlig unübersichtlich. Bei Wahlen steht nicht die Partei im Vordergrund, sondern der Kandidat, und der wechselt im Parlament schnell einmal die Fraktion, wenn er sich davon persönliche Vorteile verspricht. Wegen der vielen Parteien gibt es in den Parlamenten meistens keine klaren Mehrheiten. Das aktuelle Bündnis von Präsidentin Rousseff schliesst bis zu 22 Gruppierungen ein, wobei die Zahl von Abstimmung zu Abstimmung schwankt.
Weiterhin Symptombekämpfung oder echte Reformen?
Auch unter dem gemässigten Sozialdemokraten Luiz Inácio Lula da Silva, der von 2003 bis 2010 regierte, sind die Politreformen nicht vorwärtsgekommen. Seiner Arbeiterpartei war vor allem daran gelegen, politische, wirtschaftliche und soziale Stresssituationen zu vermeiden. Sie konzentrierte sich auf Symptombekämpfung (hauptsächlich der offensichtlichsten Armut) und versäumte es weitgehend, strukturelle Reformen in die Wege zu leiten.
Es ist unbestritten, dass die Sozialprogramme von Lula und seiner Nachfolgerin Rousseff geholfen haben, die Armut massiv zu reduzieren. Allerdings, so gibt der Schweizer Soziologe Jean Ziegler in einem von Portal amerika21.de veröffentlichen Interview zu bedenken, sind Initiativen wie die sogenannte Bolsa Família (Familienstipendien) nur «die Nothilfe, wenn das Haus in Flammen steht». «Sie macht Schluss mit den täglichen Ängsten der Familie», sagt der ehemalige Uno-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, «aber sie führt nicht zu den nötigen strukturellen Änderungen.»
Rousseff ist jetzt offenbar unter dem Druck der Massenproteste zur Einsicht gelangt, dass «Brasilien reif ist, um weiterzugehen», und umfassende Reformen in Angriff nehmen muss. Ob sie ihr Ziel erreicht, hängt nicht zuletzt auch davon ab, wie weit sie bei ihrem anspruchsvollen Vorhaben von der eigenen Partei und vor allem von ihrem nach wie vor sehr populären politischen Ziehvater Lula unterstützt wird.