Vorletzte Woche gab Juncker im Deutschlandfunk bekannt, er wolle 2019 zurücktreten. Erst 2019. Das französische Nachrichtenmagazin „L’Express“ forderte sogleich seinen sofortigen Rücktritt. „Wir brauchen keinen deprimierten Hirten“, schrieb das Blatt.
An diesem Montag nun hatten italienische und französische Journalisten „aus sicherer Quelle“ erfahren, dass Juncker schon im kommenden Monat zurücktreten könnte.
In der Pole-Position für seine Nachfolge seien der frühere finnische Ministerpräsident Jyrki Katainen und der Niederländer Frans Timmermanns, der direkte Stellvertreter Junckers.
„Mit viel Enthusiasmus und viel Energie“
Doch Juncker hat die Rücktrittsgerüchte sofort vehement dementiert. Er wolle definitiv bis 2019 im Amt bleiben und sein Mandat mit „viel Entschlossenheit, viel Enthusiasmus und viel Energie“ zu Ende führen, liess er ausrichten.
Von Enthusiasmus, Energie und Entschlossenheit war in jüngster Zeit allerdings wenig zu spüren. Seit Wochen wirkt Juncker ausgebrannt und desillusioniert. Der Austritt Grossbritanniens und die Folgen haben ihm arg zugesetzt. Auch die Nominierung von Ted Malloch, dem künftigen US-Botschafter bei der EU, macht ihm zu schaffen. Malloch hat mit pointierten Anti-EU-Äusserungen von sich reden gemacht.
Zu feiern gibt es wenig
Auch der 60. Geburtstag der „Römer Verträge“, der Ende März in der italienischen Hauptstadt gefeiert wird, hat sich Juncker anders vorgestellt. Die Verträge waren die Geburtsstunde der europäischen Integration – und eigentlich die Geburtsstunde der EU. Doch die Geburtstagsfeier am 25. März wird wohl eher nüchtern verlaufen.
Denn zu feiern gibt es wenig. Die EU befindet sich in der grössten Krise seit ihres Bestehens. Die Briten sind weg, die Gefahr eines Sieges der EU-Gegnerin Marine Le Pen ist real. Auch in den Niederlanden, in Italien, im Osten Deutschlands, in Ungarn und Griechenland wachsen die Anti-EU-Kräfte. Der Ruf der EU hat arg gelitten. Und das liegt nicht nur an der Regulierungswut drittklassiger Brüsseler Beamter.
„Europa wächst zusammen, früher oder später“
Juncker steht vor einem Scherbenhaufen, den er allerdings nur teilweise selbst verantworten muss. Dann allerdings zum Beispiel, wenn er den sehr umstrittenen deutschen Hansdampf Günther Oettinger zum EU-Kommissar für Haushalt und Personal macht – und das ausgerechnet in einer Zeit, in der die EU wahrlich nicht mit Lorbeeren geschmückt wird.
Doch Juncker, der frühere luxemburgische Ministerpräsident, hat mit viel Passion für ein europäisches Zusammengehen und Zusammenwachsen gekämpft. „Europa wird weiter zusammenwachsen, früher oder später“, sagte er immer wieder.
Jetzt glaubt er nicht mehr daran, dass die EU-Mitgliedländer ein starkes, geeintes Europa wollen. Im Deutschlandfunk zweifelte er daran, ob es der EU gelingen werde, in den Brexit-Verhandlungen die Einigkeit zu wahren. Er sei sich nicht sicher, ob jetzt die „grosse Stunde“ Europas gekommen sei.
Symbol des abgeschlafften Europas
Juncker befürchtet, dass die Briten es schaffen werden, „ohne grosse Anstrengung die anderen 27 Mitgliedstaaten auseinanderzudividieren“. Und zwar, indem sie „Land A dieses und Land B jenes und dem Land C etwas anderes“ versprechen.
Die Analyse mag richtig sein, doch sie zeigt auch: der EU-Präsident hat kapituliert.
Juncker ist das Aushängeschild der EU, einer Organisation, die Gefahr läuft zu zerbrechen. Und wenn der Chef selbst die Schultern hängen lässt und nicht mehr an sein Projekt glaubt – soll er dann nicht gehen?
Juncker wirkt verbraucht. Mit ihm erwartet niemand etwas Neues. Er ist zum Symbol des abgeschlafften Europas geworden. Mit ihm duckt sich Europa, anstatt die Stärken auszuspielen, die der Kontinent hat. Wo bleibt das europäische Selbstbewusstsein?
Europa braucht einen Kämpfer
Die EU braucht jetzt keinen Depro-Präsidenten, sondern einen Kämpfer, einen Krieger, einen, der alles gibt. Einen, der an das Projekt Europa glaubt.
Ob das dann kurz- oder mittelfristig etwas bringt, ist eine andere Frage. Aber sicher bringt es nichts, wenn einer an der Spitze steht, der schon kapituliert hat. Wer die Waffen gestreckt hat, befindet sich in einer schwachen Verhandlungsposition. Und Verhandlungen stehen jetzt an: mit den EU-Mitgliedländern und mit den unberechenbar gewordenen USA.
Wer soll Juncker beerben?
Mit einem neuen EU-Präsidenten würde immerhin ein Zeichen gesetzt. In Washington thront Trump und in Moskau Putin. Gerade in solch turbulenten und unsicheren Zeiten bräuchte die EU eine tatkräftige Galionsfigur.
Doch wer soll die EU aus der Krise führen?
Und da liegt das nächste Problem. Katainen und Timmermanns, die beiden aussichtsreichsten Kandidaten, sind alte EU-Hasen. Würden sie, die vom EU-System infiziert sind, den Elan und den Biss haben, den dringend benötigten neuen Aufbruch zustande bringen? Zweifel sind angesagt.