Er liess das grösste Gefängnis der Welt bauen. Hunderttausend meist junge Menschen brachte er hinter Gitter. Sein Land wies weltweit die höchste Mordrate auf. Dank ihm ist El Salvador jetzt eines der sichersten Länder der Welt. Und dennoch.
Sie nennen ihn «Trumpito», den kleinen Trump. Er versprüht Energie. In den sozialen Medien hat er sechs Millionen Follower – mehr als El Salvador Einwohner zählt. Er liebt den Applaus, er liebt das Bad in der Menge. Sein Markenzeichen sind bunte Socken, sein gestutzter Bart und seine Mütze. Fast jeden seiner Schritte dokumentiert er auf seinem Youtube-Kanal. Und natürlich hat er eine schöne Frau, eine ehemalige Balletttänzerin. Seine Fans bezeichnen den 43-Jährigen als «coolsten Diktator der Welt».
Geboren wird Nayib Bukele am 24. Juli 1981 in der Hauptstadt San Salvador. Sein Vater ist ein eingefleischter PR-Mann, der auch eine Fernsehstation betreibt. Zuerst wird Nayib Bürgermeister von Nuevo Cuscatlán, einem Vorort von San Salvador. Dann schafft er, getragen von PR-Aktionen seines Vaters, die Wahl zum Stadtpräsidenten der Hauptstadt.
Er ist Mitglied der linken FMLN-Partei, überwirft sich dann mit ihr und tritt der konservativen GANA-Partei bei, was ihm den Ruf eines Opportunisten einträgt. 2019 wird er mit 53 Prozent der Stimmen zum neuen Präsidenten von El Salvador gewählt. Und dann beginnt er, die Demokratie auszuhebeln und das Land in einen Polizeistaat zu verwandeln. Dafür wird er jetzt umjubelt.
75’000 Tote
Für den Jubel gibt es gute Gründe: Seit Ende der Siebzigerjahre wurde sein Land mit Terror überzogen. Die krassen sozialen Gegensätze in El Salvador führten zu dem, was als «schmutziger Krieg» in die Geschichte eingeht. Weltweit bekannt wird 1980 der Mord an Erzbischof Óscar Romero, einem der prominentesten Kritiker des Militärregimes.
Die Oberschicht und die reichen Grossgrundbesitzer verteidigten mit Hilfe der Armee ihre Privilegien. Und die verarmte, mittellose Masse begann sich dagegen aufzulehnen. Der Bürgerkrieg dauerte von 1980 bis 1991 und forderte 75’000 Tote. Auf der einen Seite kämpften das Militär und paramilitärische terroristische Gangs – auf der anderen die Kirche, Gewerkschaften, Studenten, Professoren, Intellektuelle und Kommunisten. Sie schlossen sich in der marxistisch orientierten revolutionären Bewegung FMLN zusammen. Die USA, aus Angst vor dem Kommunismus, unterstützten die Militärregierung.
Im März 1991 wurde ein Friedensabkommen geschlossen. Der Armeebestand wurde halbiert. Die Guerilleros der FMLN streckten die Waffen. Der «schmutzige Krieg» war zu Ende. El Salvador war plötzlich keine Militärdiktatur mehr, sondern ein demokratischer Staat mit der rechtskonservativen ARENA-Partei an der Macht.
Bandenkriminalität
Doch die sozialen Gegensätze blieben. Die entlassenen Soldaten, die amnestierten Kriegsverbrecher, die Guerilleros und Mitglieder paramilitärischer Organisationen waren nun plötzlich «arbeitslos». Nach wie vor waren Hunderttausende Waffen im Umlauf.
All dies förderte die Bandenkriminalität. Viele junge Leute, die in der Armee, in der Guerilla oder in den Todesschwadronen gekämpft hatten, waren plötzlich ohne Aufgabe. Dazu kamen jene, die während der Diktatur in die USA geflohen und jetzt zurückgekehrt waren. Sie alle fanden keine Aufnahmestrukturen, keine Familien mehr und liessen sich von den Banden anheuern. Für viele war die Bandenzugehörigkeit die einzige Möglichkeit, um wirtschaftlich überleben zu können. Dazu kam die Drogenkriminalität.
Die Gangs, vor allem die berüchtigt gewordene MS-13 (Mara Salvatrucha) und die rivalisierende M-18 begannen das Land zu terrorisieren und zu erpressen. Kaum jemand getraute sich mehr auf die Strasse. Zehntausende Menschen wurden ermordet. El Salvador wies weltweit die höchste Mordrate auf. Pro Tag starben Dutzende Menschen.
Und dann kam Nayib Bukele.
Zehntausende Verhaftungen
Es gelang Bukele, mit den Gangs ins Gespräch zu kommen. Doch die Mordrate schnellte nach vorübergehendem Abflauen wieder auf 22 Tote pro Tag hoch. Daraufhin rief Bukele den Ausnahmezustand aus.
Dieser erlaubt den wild wütenden Sicherheitskräften jeden festzunehmen, der nur im Entferntesten im Verdacht steht, ein Terrorist zu sein. Tausende Unschuldige landen im Gefängnis, wo sie unter schrecklichen Bedingungen dahinvegetieren. Viele werden gefoltert. Es herrsche totale Willkür, sagen oppositionelle salvadorianische Journalisten. Sie vermuten, dass jeder Dritte unschuldig ist. Bei Prozessen werden 10, 20 Gefangene «im Multipack» abgeurteilt, ohne dass man auf die Einzelnen eingeht. Sogar Kinder werden laut Human Right’s Watch festgenommen und misshandelt.
Um die Festgenommenen unterbringen zu können, liess Bukele in Tecoluca, 75 Kilometer südöstlich der Hauptstadt San Salvador, das «grösste Gefängnis der Welt» bauen. Das «Terrorism Confinement Center» ist ein Gefagnenenkomplex, der von über 800 Soldaten bewacht wird. Allein hier werden 40’000 Menschen festgehalten.
Verstörende Bilder
Insgesamt befinden sich in El Salvador zurzeit zwischen 90’000 und 100’000 Menschen hinter Gittern. Das sind 1,6 Prozent der Bevölkerung.
Bukele lässt die Gefangenen filmen und verbreitet die Bilder zur Abschreckung. Da sieht man, PR-mässig inszeniert, tätowierte, halbnackte, gebückte Kreaturen mit kahlgeschorenen Häuptern, drangsaliert von Gefängniswärtern. Verstörende Bilder.
All das hat Erfolg. Die Mordrate sinkt. El Salvador gilt heute als das sicherste Land Lateinamerikas. 2023 werden nur noch 154 Morde registriert – ein Rückgang von 97,7% im Vergleich zu 2015.
Das Volk jubelt, es kann wieder auf die Strasse, wieder Besuche abstatten, wieder auf den Plätzen Feste feiern. Die tägliche Angst vor Raubüberfällen oder willkürlichen Verhaftungen ist gewichen. Bukele wird gefeiert. Im Februar dieses Jahres wurde er mit 83 Prozent der Stimmen wiedergewählt, obwohl die Verfassung eine «zweite konsekutiven Amtszeit» verbietet.
Doch nicht alle jubeln. Viele Eltern wissen nicht, wie es ihren Söhnen in den Gefängnissen geht. Viele Frauen haben Angst um ihre verhafteten Männer. Noch immer herrscht in El Salvador der Ausnahmezustand. Immer mehr biegt «Trumpito» die Verfassung zu seinen Gunsten um. Seinen Vizepräsidenten lässt er sagen, es gebe «etwas Besseres als die Demokratie». Viele fürchten, das Land könnte zu einer Diktatur werden.
Scharfe Kritik
Nun wird Bukele aufgefordert, die Notstandsdekrete zumindest teilweise aufzuheben. In einem diese Woche vorgelegten Bericht der «Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte» (CIDH) wird von der Regierung «nachdrücklich verlangt», die ausser Kraft gesetzten Rechte und Garantien wiederherzustellen. Die Kommission betont, dass diese aussergewöhnliche Massnahme «nicht zu einem dauerhaften Bestandteil der Sicherheitspolitik des Landes werden» dürfe. Nicht genug: Die Kommission erinnert Bukele an die Verpflichtung, Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen, die Wahrheit zu ermitteln und die Verantwortlichen strafrechtlich zu verfolgen und zu bestrafen, wobei die Rechte der Opfer zu beachten seien.
Die Staaten seien zwar verpflichtet, schreibt die Kommission, Massnahmen zur Bekämpfung und Ausrottung der organisierten Kriminalität zu ergreifen, diese müssten jedoch «mit ihren rechtlichen und internationalen Verpflichtungen in Einklang stehen». Die Kommission betont, sie habe zahlreiche Berichte über Menschenrechtsverletzungen erhalten, darunter systematische und weit verbreitete illegale und willkürliche Inhaftierungen, rechtswidrige Hausdurchsuchungen, übermässige Gewaltanwendung und Verletzungen der Rechte von Kindern und Jugendlichen.
Der Bericht zitiert Informationen, die darauf hindeuten, dass zwischen 189 und 200 Gefangene in der Haft gestorben sein könnten. Die Familien würden ungenügend benachrichtigt und Leichen unsachgemäss behandelt.
Zur Genugtuung Washingtons
Bukele wird sich von dem Bericht wohl nicht beeindrucken lassen. Am 4. September hat «sein» Parlament den Ausnahmezustand zum dreissigsten Mal um 30 Tage verlängert. Und das wird wohl so weitergehen, befürchten oppositionelle Journalisten in San Salvador.
Die Regierung brüstet sich damit, dass jetzt wieder ausländische Investoren ins Land kommen. Jene, die einst geflohen sind, ködert die Regierung mit Steuerbefreiung zur Rückkehr. Pro Jahr, heisst es, würden jetzt etwa 20’000 Menschen zurückkehren.
Bukele scheint sich alles erlauben zu können, weil er auf die Unterstützung der USA zählen kann. Während sich Hunderttausende Menschen aus El Salvadors Nachbarstaaten Guatemala, Honduras und Nicaragua auf den Weg in die USA machen, verlassen jetzt immer weniger Bürgerinnen und Bürger aus El Salvador ihr Land Richtung Norden – zur Genugtuung Washingtons.
Da tickt eine Zeitbombe
Wer jetzt das Land verlässt, tut es nicht mehr aus Angst vor den Gangs – sondern aus wirtschaftlichen Gründen. Und da tickt eine Zeitbombe. Zwar verzeichnet El Salvadoir seit Bukeles Amtsantritt ein sachtes Wirtschaftswachstum, doch laut Angaben der Weltbank ist die Armutsquote in El Salvador nach wie vor eine der höchsten in Lateinamerika. Letzte Zahlen liegen aus dem Jahr 2021 vor. Damals lebten 28,4 Prozent der Bevölkerung in Armut. Noch schockierender ist, dass 1,8 Millionen Salvadorianer in Armut leben und keinen Zugang zu Grundnahrungsmitteln haben. Es ist bemerkenswert, dass die Quote der extremen Armut in El Salvador während Covid-19 anstieg und seitdem nicht mehr zurückgegangen ist.
Darüber hinaus leben 40 Prozent der salvadorianischen Bevölkerung (2,5 Millionen Menschen) in einer «prekären Situation», wobei viele von ihnen zwischen 6,85 und 14 US-Dollar pro Tag verdienen. Mit diesem Einkommen gelten sie zwar nicht als «offiziell arm» doch besteht für diese Menschen ein hohes Risiko, dennoch in die Armut abzurutschen.
Trotz gegenteiliger Beteuerung der Regierung kommt die Wirtschaft nicht recht in Gang. Gemäss der Weltbank stieg die BIP-Wachstumsrate 2022 um 2,6 Prozent. Die Nachbarländer Honduras, Guatemala und selbst Nicaragua können bessere Werte vorweisen. Wenn es Bukele nicht bald gelingt, das Wachstum im Land anzukurbeln und die Armut zu bekämpfen, könnte die Gewalt wieder zunehmen. Und wenn die Gewalt wieder zunimmt, bekommt er ein ernsthaftes Problem: In den Gefängnissen sind kaum mehr Plätze frei.
PS: Donald Trump verbreitet seine eigene Version von den Ereignissen in El Salvador. Die Mordrate sinke nicht wegen der rigorosen Politik von Präsident Bukele, sagte er am republikanischen Parteitag in Milwaukee, sondern weil das Land alle Verbrecher in die USA abschiebe.