Erst am 10. Juni 1944 genehmigte der Bundesrat den dringenden Wunsch von General Henri Guisan, mehr Schweizer Truppen zu mobilisieren. Der Generalstab hielt noch am 6. Juni 1944, als bereits die Invasion in der Normandie begonnen hatte, eine Krisensitzung ab. Guisan befürchtete, dass die Deutschen, die mehrere Divisionen in Grenznähe zusammengezogen hatten, die Invasion der Alliierten in der Normandie nutzen könnten, um die Front im «schweizerischen Sektor» der «Festung Europa» zu bereinigen und das Land handstreichartig zu besetzen.
Diese Informationen stammen von Thomas Bürgisser, Historiker bei der Forschungsstelle, welche die «Documents Diplomatiques Suisses» (dodis) publiziert. Dieser Tage erschien zudem ein Buch mit diplomatischen Archivalien aus mehreren Ländern über den Mauerfall 1989 (www.dodis.ch/q12). Die Dokumente der Datenbank des Forscherteams sind frei zugänglich (www.dodis.ch).
Mehr Verteidigung gefordert
Am 3. Juni 1944, einem Sonntag, gab es einen Rapport von Brigadier Roger Masson, Chef des Nachrichten- und Sicherheitsdienstes der Armee im Generalstab. Im Telegrammstil meldete Masson, dass Deutschland die Mittel für einen Überraschungsangriff auf die Schweiz besitze. Es gebe keine unmittelbare Gefahr, aber der Krieg nähere sich den Grenzen. «Notwendigkeit der Verstärkung des Verteidigungsdispositivs.»
Ausserdem wurden während der Sicherheitskonferenz über die allgemeine Situation, die Beziehungen zur Sowjetunion, zu Italien und die Probleme des Exports von Kriegsmaterial angesprochen. So forderte Guisan am 6. Juni 1944 vom Bundesrat die Mobilisierung zusätzlicher Kräfte. Wie in einem Protokoll zu einer Sitzung über die militärische Lage der Schweiz deutlich wird, schlugen der General und das Oberkommando der Armee dem Bundesrat vor, das Verteidigungsdispositiv zu verstärken und Grenztruppen durch gelbe Plakate zu mobilisieren.
Bevölkerung nicht erschrecken
Wie längst bekannt ist, zögerte der Bundesrat – einmal mehr – mit der Begründung, man wolle die Bevölkerung mit den gelben Mobilmachungsplakaten nicht erschrecken. Dies nach beinahe fünf Jahren Krieg beziehungsweise Schweizer Aktivdienst, Rationierung, Anbauschlacht und wechselnden Nachrichten vom Kriegsgeschehen ausserhalb der Grenzen. An seiner Sitzung vom 10. Juni 1944 stimmte der Bundesrat dann endlich zu: In einem Brief teilte der Chef des Militärdepartements, FDP-Bundesrat Karl Kobelt, dem General mit, der Bundesrat bevollmächtige ihn, die Grenztruppen zu mobilisieren, aber ohne gelbe Plakate.
Auch andere Neutrale wie Schweden hegten ähnliche Befürchtungen. Dies vermeldete eine Nachricht des Militärattachés von der Schweizer Gesandtschaft in Berlin am 7. Juni 1944 über die militärische Situation der Neutralen in Europa: Schweden erwarte, von deutschen Truppen besetzt zu werden. Für die Schweiz bestehe keine unmittelbare Gefahr. Aber: «Die Situation kann sich ändern.»
Die Gefahr für die Schweiz wurde auch in den kommenden Wochen als hoch eingeschätzt. Am 26. Juni 1944, als die alliierten Truppen in Frankreich nach der erfolg- und gleichzeitig verlustreichen Landung im Landesinneren den erbitterten Widerstand der Nazi-Truppen bekämpften, beurteilte Brigadier Roger Masson die militärische Situation der Schweiz so, dass die Gefahr eines Angriffs von Deutschland «existiere». Er schlug vor, die Verstärkungsmassnahmen beizubehalten.
Schweiz unter Druck
Nach dem D-Day schien die Niederlage des «Dritten Reichs» absehbar. Obwohl nach der Invasion den westlichen Alliierten – und auch der Roten Armee – bis zur bedingungslosen Kapitulation der Nazi-Truppen am 7./8. Mai 1945 noch ein Dutzend schwerer Schlachten bevorstand, zum Beispiel jene in den Ardennen, begannen die alliierten Regierungen die Planung für die Weltordnung nach dem Krieg.
Dabei geriet die Schweiz zunehmend unter alliierten Druck, etwa bezüglich des Transitverkehrs, aber auch wegen der Aktivitäten der Schweizer Banken. Wie einflussreich diese waren, zeigt wiederum ein Protokoll einer Bundesratssitzung vom 17. Juni 1944, worin die Landesregierung die Vorschläge der Bankiervereinigung zur Beantwortung alliierter Forderungen zur Kenntnis genommen hat.
Die vermeintlich grosse Gewinnerin
Die Schweiz, so Bürgisser, stand zunehmend als «Kriegsgewinnerin» da, die selbst angesichts der sich abzeichnenden Niederlage wirtschaftlich eng mit dem nationalsozialistischen Deutschland verbandelt blieb. «Es wäre wirklich eine Drangsal für jeden freiheitsliebenden Schweizer, wenn er spürte, dass er in irgendeiner Weise die Bemühungen anderer freiheitsliebender Länder behindert hätte, die Welt von einem rücksichtslosen Tyrannen zu befreien», schrieb US-Präsident Franklin D. Roosevelt im Januar 1945 an Bundespräsident Eduard von Steiger.
Aber siehe da, schon damals ging es um einen Handelsvertrag zwischen der Schweiz und den USA: Roosevelt schlug die Wiederaufnahme entsprechender Verhandlungen vor. Er bedankte sich auch für die Anstrengungen der Schweiz während des Krieges. Allerdings wünschte er die Beendigung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und der Schweiz. Und der siegreiche US-Präsident schlug in diesem Brief vor, dass die Eidgenossenschaft Teil einer Weltorganisation der Sieger werden solle.
Im Frühjahr 1945 forderte eine alliierte Delegation die Sperre deutscher Guthaben in der Schweiz, die Einstellung von Exporten nach Deutschland und des Goldhandels mit der Reichsbank sowie ein Ende des Transitverkehrs zwischen Deutschland und Norditalien.
Mit grossen Flüchtlingsströmen gerechnet
Entscheidendes tat sich in der Flüchtlingspolitik. General Guisan vermutete schon im Juni 1944, dass künftig «wieder in vermehrtem Masse mit grösseren Flüchtlingsströmen gegen die Schweizer Grenze zu rechnen ist». Am 24. Juni 1944 forderte der General in einem Brief an Bundesrat Karl Kobelt die «hermetische Schliessung der Grenzen und klare Anweisungen des Bundesrates». Rothmund (Heinrich Rothmund war der Chef der Polizeiabteilung, Anm. d. Red.) denke gegenwärtig nicht, dass eine komplette Grenzschliessung unabdingbar sei. Man müsse die internationale Entwicklung berücksichtigen.
Was mit den Juden und anderen «unwerten» Menschen geschah, war zwar längst bekannt, aber offenbar gibt es Hinweise, dass sich bei den Behörden die Informationen über die Vernichtungspolitik der Deutschen verdichteten. Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund forderte am 26. Juni 1944 den Bundesrat zum Einschreiten auf, um die Schrecknisse in Ungarn und die Vernichtung der Juden zu verhindern.
Die restriktive Aufnahmepolitik wurde zwar langsam, aber doch zunehmend gelockert. Der Schweiz stand das Washingtoner Abkommen bevor, und erst die Bergier-Kommission zeichnete – ebenfalls auf Druck von aussen – ein präzises Bild der Schweiz vor, während und nach dem zweiten Weltkrieg.
Eine Version dieses Berichts erschien am 7. Juni 2019 im jüdischen Wochenmagazin Tachles.