«Unser Bundesrat ist nicht in der Lage, eine strategische Perspektive und eine auf Schwerpunkte ausgerichtete kohärente Regierungspolitik aufzuzeigen.» 1)
Im Vorfeld der anstehenden Bundesratswahl ist es spannend, sich in Erinnerung zu rufen, was in der Schweiz Regieren heisst und welches die Beurteilungskriterien des schweizerischen Bundesrats seit den letzten 50 Jahren sind. Als Basis dieser kleinen historischen Rückschau verwende ich das Buch «Das politische System der Schweiz»1 des Politikwissenschaftlers Adrian Vatter, *1965, geschrieben 2014.
Helvetischer Stillstand
Als Beispiel meiner Analyse dient das Verhältnis der Schweiz zu ihrem wichtigsten (Handels)-Partner. Seit dem 26. Mai 2021, als Bundesrat Cassis in einer veritablen Nacht- und Nebelaktion die Verhandlungen über das institutionelle Abkommen Schweiz-EU (Rahmenabkommen) abbrach, herrscht Stillstand in diesem zentralen Dossier. Längst üben politisch interessierte Schweizerinnen und Schweizer, auch Vertreterinnen und Vertreter des bedeutenden Exportsektors, unsere Hochschulen und die Strombranche (als Beispiele) Kritik an diesem No-Go des Bundesrates. Erfolglos.
«Schon seit längerer Zeit», schreibt Vatter, «wird der Bundesrat mit Vorwürfen der Inkohärenz sowie mangelhafter Weitsicht und fehlender Priorisierung konfrontiert.»1 Nach wie vor ist dieser Vorwurf berechtigt, was zu meiner persönlichen Konklusion führt, dass dieser helvetische Stillstand seit mindestens 15 Jahren andauert. Eine damals publizierte Studie (PVK 2009) stellte fest, dass die politische Steuerung des Bundesrates zu wenig aus einer Gesamtoptik heraus erfolge. Sie verfehle so den ursprünglichen Zweck der strategischen Perspektive und eine auf Schwerpunkte ausgerichtete Regierungspolitik aufzuzeigen. 2023 sind keine Anzeichen einer Verbesserung dieses gravierenden Defizits zu erkennen.
Mangelhafte Informations- und Kommunikationsfunktion des Bundesrates
Zweifellos sind die Informations- und Kommunikationsansprüche der Bevölkerung an die Regierung in der Vergangenheit laufend gestiegen. Veränderungen in der Medienlandschaft, das Aufkommen von Social Media, das fast gänzliche Verschwinden der Parteipresse sowie die generelle Steigerung des Informationstempos haben eine neue Welt des Informationsbedürfnisses geschaffen.
«Gemäss den gesetzlichen Vorgaben sollte die Regierung rechtzeitig und umfassend, einheitlich, frühzeitig und kontinuierlich über die politische Lage sowie ihre Planungen, Entscheide und Vorkehrungen informieren.»1 Ein Bericht der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates (GPK 1997) konstatiert nüchtern, dass der Bundesrat bei ausserordentlichem Geschäftsgang rasch an seine Grenzen stosse, was seine Informationspflicht betreffe. «In der Krise wird auch die Information oft zur Krise», tönt es an dieser Stelle nicht gerade schmeichelhaft, wenn auch in Zusammenhang mit der Debatte um nachrichtenlose Vermögen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges.
Übertragen auf mein Beispiel des gekündigten Rahmenabkommens mit der EU im Jahr 2021 darf der Analogieschluss gezogen werden, dass hier ebenfalls eine ungenügende Informationspflicht bei ausserordentlichen Ereignissen vorliegt – einerseits bei der mangelhaften Koordination unter den involvierten Departementen und andererseits in der fehlenden Gesamtführung durch den Bundesrat. Oder möchte jemand behaupten, der einseitige Abbruch der Verhandlungen mit der EU sei kein «ausserordentliches Ereignis»?
Seit 175 Jahren keine Änderungen …
Vatter stellt nüchtern fest, dass die schweizerische Regierung «seit der Gründung im Jahr 1848 keine grundlegenden Änderungen erfahren hat».1 Dabei spielt der Regierungsstil der Konkordanz eine wichtige Rolle. Doch schon vor zehn Jahren konstatierte Vatter, dass die ständig steigende Polarisierung des schweizerischen Parteiensystems offensichtlich zu einer Schwächung des klassischen Konkordanzsystems geführt hatte. Rückblickend auf die National- und Ständeratswahlen vom 22. Oktober 2023 ist dieser Umstand gut sichtbar: Nicht nur eine allgemein wahrgenommene Tendenz der aus dem Ruder laufenden Asylpolitik, sondern auch die dramatisierende und hetzerische Propaganda der siegreichen Volkspartei haben das Resultat beeinflusst.
Eines ist interessant. Kritik an der bestehenden Regierungsorganisation gab es schon im 20. Jahrhundert. Die in den relevanten Expertenberichten geäusserten Diagnosen (1967 und 1971) gleichen sich in erstaunlichem Ausmass. Trotzdem sind keine nennenswerten Regierungsreformen zustande gekommen. Sie scheiterten allesamt am Widerstand von Parlament, Regierung oder Stimmvolk. «Vor allem dem Bundesrat scheint es äusserst schwer zu fallen, grundlegende Änderungen dort vorzunehmen, wo er selbst direkt betroffen ist.»1
Zukünftiger Optimierungsbedarf
Rückblickend müsse festgestellt werden, dass man sich lediglich auf die Schaffung von Staatssekretären, die Gewährung persönlicher Mitarbeiter und eine Aufwertung der Bundeskanzlei einigen konnte, schreibt Vatter weiter. Dann folgt das Wichtigste der Analyse: Was zukünftige Reformen betrifft, darf nicht nur die Optimierung der Organisationsstrukturen im Fokus stehen, sondern «ebenso das Wahlverfahren des Bundesrates, das mit der Einzelwahl der Exekutivmitglieder keine Anreize zur Förderung der Kollegialität und des Zusammenhalts in der Regierung schuf».1
Dazu erinnern wir uns: Im Sommer 2022 konnte man in den Printmedien verschiedentlich lesen, dass der Bundesrat in Machtkämpfen feststecke. In wichtigen Dossiers würden Konflikte sichtbar, so zum Beispiel bei der Bewältigung der Folgen des Ukrainekrieges. «Das Vorgehen bei der Übernahme der EU-Sanktionen war chaotisch, auch weil mehrere Bundesratsmitglieder versuchten, sich für die Geschichtsbücher ins rechte Licht zu rücken. Und immer noch zanken sich die Departemente über die Zuständigkeiten für die Aufnahme von Kriegsverletzten aus der Ukraine» (Tages-Anzeiger).
Die Zauberformel
Am Mittwoch, 13. Dezember 2023, wird die Vereinigte Bundesversammlung (National- und Ständerat) wieder für vier Jahre die Mitglieder des Bundesrates wählen. Während die parteipolitische Zusammensetzung unserer Regierung dank der Zauberformel (2,2,2,1) seit vielen Jahren unverändert geblieben ist, darf spekuliert werden: Nachdem die Mitte bei den Wahlen vom 22. Oktober 2023 die FDP beinahe überholt hat (peinlicher Rechenfehler!), ist deren Anspruch auf zwei Sitze nicht mehr sakrosankt. So oder so, ob der neu zusammengesetzte Bundesrat danach führungsstärker auftreten wird, bleibt abzuwarten.
1 Adrian Vatter: Das politische System der Schweiz. Baden-Baden: Nomos, 2014, 589 Seiten