Diese Wende wird erst kommen, wenn die Armee beginnt auseinanderzubrechen. Man weiss nicht alles, was innerhalb der syrischen Streitkräfte und Sicherheitsdienste vor sich geht. Es ist jedoch deutlich, dass die Armee immer noch einsatzbereit ist, und jedermann, einschliesslich der Aufständischen, ist sich bewusst, dass sie über weit mehr schwere Waffen verfügt als der Widerstand.
Quartier Midan belagert von der Armee
In Damaskus haben die Truppen des Regimes auf das Eindringen der Kämpfer der Volkserhebung dadurch reagiert, dass sie Tanks im Quartier Midan auffahren liessen und versuchten, die dortigen Kämpfer zu umzingeln. Midan ist ein altes Volksquartier, schon berühmt zu den Zeiten, als sich die Damaszener gegen den französischen Kolonialismus und dessen Truppen erhoben. Es ist unter allen jenen, die Widerstand leisten, der Stadtteil, der am nächsten bei den Geschäfts- und Innenstadtvierteln liegt, die als der eigentliche Sitz der herrschenden Institutionen der Hauptstadt gelten können.
Neben den Tanks sind in Midan auch Scharfschützen des Regimes aufgetaucht, die auf den Dächern Stellung bezogen haben und von dort aus auf die Kämpfer und auch auf die Bevölkerung schiessen, die es wagen, sich in den Strassen zu zeigen.
Vom Widerstandsnest zum Widerstandsnetz
Einer der Sprecher der Kämpfer erklärte, sie leisteten weiter Widerstand in Midan, weil sie nicht mehr in der Lage seien, sich aus dem Viertel zurückzuziehen. Andere Sprecher erklärten, Beweglichkeit durch alle Quartiere der Stadt sei die Taktik des Widerstandes. Es gehe darum, die Truppen des Regimes zu zwingen, an möglichst vielen Stellen aktiv zu werden, um so ihre Macht zu verzetteln.
Solche Aussagen machen klar, dass der Widerstand immer noch gegen weit überlegene Truppen zu kämpfen hat. Die Widerstandskämpfer sind heute offenbar besser bewaffnet, als sie es vor einigen Monaten waren und vermutlich auch besser geführt. Doch sie sind immer noch auf eine Strategie angewiesen, die ihnen erlaubt, die überlegene Feuermacht des Regimes aufzuspalten und zu verzetteln, bis kleinere Gruppen von Feinden für ihre Kämpfer verwundbar werden.
Weit überlegene Feuerkraft der Armee
Das Regime verfügt über 5000 Tanks, Artillerie, Raketen, Kampfhelikopter, Bombenflugzeuge und Kampfflugzeuge, gepanzerte Truppentransporter, sowie Milizen, die es aufbieten kann, um die Blutarbeit zu leisten, die es den regulären Truppen ersparen möchte, bewaffnete Geheimdienstleute zur Niederhaltung der zivilen Bevölkerung. Es soll auch über grössere Bestände von Giftgas verfügen, die es bisher nicht eingesetzt hat und wohl auch nur einsetzen dürfte, wenn irgendwo "befreite Gebiete" entstünden, deren seine Bodentruppen nicht mehr Herr zu werden vermöchten.
Verwüstungen in der Hauptstadt?
Solche Gebiete gibt es bisher noch nicht. Es gibt einzig solche, in denen sich die Kämpfer der Rebellion verstecken und dadurch das Vordringen von Bodentruppen für diese gefährlich und verlustreich machen. Das Regime pflegt in solchen Fällen mit Artillerie vorzugehen, und es hat bisher die vom Widerstand infiltrierten Stadtgebiete und Dörfer zuerst wochenlang zusammengeschossen und weitgehend zerstört, bevor es in sie einzudringen wagte.
Homs hat diese Taktik am deutlichsten gezeigt, doch sie ist auch in vielen kleineren Ortschaften angewandt worden. Ob sie nun auch in der Hauptstadt selbst verwendet werden wird, bleibt abzuwarten.
Dies dürfte einerseits von der Art des Widerstandes abhängen, den die dortigen Kämpfer zu leisten imstande sind: statisch und eingenistet wie in Homs oder beweglicher und flexibler, wie es einer klassischen Guerrilla entspricht.
Sinkende Glaubwürdigkeit des Regimes
Doch auch politische Rücksichten werden für das Regime zählen. Wenn es sich gezwungen sieht, Teile seiner eigenen Hauptstadt zu verwüsten, wird seine Propagandaversion der Ereignisse sehr sichtbar dementiert. Nicht nur im Ausland sondern auch bei jenen Teilen der eigenen Bevölkerung, die bisher zum Regime gehalten haben, unter ihnen besonders die Bewohner der Innenstadt von Damaskus und von Aleppo, dürfte die Regimepropaganda, die stets von Banden spricht, die vom Ausland gelenkt würden, im Falle von massiven Bombardierungen in der Hauptstadt fast alle Glaubwürdigkeit verlieren.
Bisher hat die syrische Propaganda die Geschehnisse in der Hauptstadt heruntergespielt. Einige Banden seien aufgespürt, gestellt und niedergeschlagen worden, erklärte das syrische Fernsehen, um die Explosionen, die alle Bewohner von Damaskus wahrnehmen konnten, zu begründen.
Immer mehr Brandherde
Der Widerstand hat sich offensichtlich ausdehnen können. Das ist ein Gewinn für seine Kämpfer. Die Armee kann nicht mehr wie bisher all ihre Kräfte und ihre verlässlichsten, alawitischen, Truppen auf einige wenige Brandherde konzentrieren. Es gibt offensichtlich mehr und mehr solche Brandherde. Doch ein wirkliches Ende kommt erst, wenn die syrische Armee als ganzes nicht mehr eingesetzt werden kann, weil ihre Kommandostruktur zusammenbricht oder ihre Mannschaften sich kollektiv gegen diese erheben.
Am Horizont der Zusammenbruch
Dies ist noch nicht der Fall, möglicherweise noch lange nicht; doch möglicherweise könnte es plötzlich kommen. Man kann es nicht wissen, weil niemand Einblick in den inneren Zustand der syrischen Streitkräfte nehmen kann. Wahrscheinlich tasten sogar die syrischen Offiziere und deren alawitische Vorgesetzte und Wächter im Dunkeln. Denn was die einzelnen Soldaten denken, müssen sie verstecken, so gut es geht, wenn sie am Leben bleiben wollen, und wann sie eine Gelegenheit zu desertieren erhalten, falls sie dies planen, wissen sie selbst nicht im Voraus.
Doch steter Tropfen höhlt den Stein, und dass es tropft, ist nicht zu verkennen.