Bei meinen morgendlichen Spaziergängen komme ich oft an einem Mango-Hain vorbei, an dessen Rand ein riesiger Banyan-Baum steht. Eine Reihe seiner Luftwurzeln sind bereits wieder zu meterdicken Stämmen gewachsen. Auch von deren Ästen baumeln ihrerseits Wurzeln herunter und krallen sich im Boden fest. Der Banyan ist ein kleiner Wald geworden, mit einem Blätterdach von gut fünfzig Metern.
Als ich heute früh an der Mauer des Baumgartens vorbeilief, bemerkte ich die ungewohnte Helligkeit, in die das Strässchen getaucht war. Ich schaute mich um und hatte plötzlich einen noch nie gesehenen Durchblick auf die Mangroven und dahinter den Palmenwald, der die Meeresküste abschirmt.
Plötzlich sah ich es: Der Banyan war verschwunden. An dessen Stelle erhob sich ein regelrechter Trümmerberg von meterdicken Stämmen, Geäst und den Überresten der Umgebungsmauer, die unter dem Gewicht des fallenden Baums zerborsten war. Für einmal schauen auch die Bodenwurzeln in die Luft, dachte ich belustigt, aber das Lachen blieb mir in der Kehle stecken. Ich erinnerte mich an die Berichte vom Wirbelsturm, der im letzten Monsun über die Region gefegt war. Auch in unserem Garten waren Bäume entwurzelt worden und Mauern eingebrochen.
Die Bauern vom angrenzenden Dorfteil Bhagatali hatten die grössten Äste zersägt und die Strasse freigelegt. Entlang der Mauer standen nun Bündel davon, bereit, um damit Wasser zu kochen und Speisen zuzubereiten; und, so dachte ich, um Leichen zu verbrennen, denn nur einige Meter weiter stand eine Kremationsplattform.
Bauunternehmer Srinivas Bhagat
Die meisten Bewohner hier leben in bescheidenen Verhältnissen und haben erst in den letzten Jahren ihre Lehmmauern und Blechdächer durch Ziegel ersetzt. Von Srinivas Bhagat lässt sich das nicht sagen. Er war hier in einer Hütte aufgewachsen und wohnte nun am Rand von Bhagatali, direkt am Mangrovensumpf, in einer prächtigen Villa. Er hat sie selber gebaut, denn er ist der grösste Bauunternehmer des Dorfs – derselbe Mann, der vor zwei Wochen die Hochzeit seines Sohns ausgerichtet hat, über die ich in meiner letzten Kolumne berichtete.
Ein schmaler Steg führt von Niwas’ Anwesen über den Sumpf zum Strand, und direkt davor steht die Einäscherungsstätte. Wie so viele gemeinnützige Anliegen – ungepflasterte Wege, die bröckelnde Bus-Haltestelle, der alte Tempel, die vom Banyan niedergerissene Mauer – hatte Niwas auch diese auf eigene Kosten mit einer neuen Plattform versehen und ein hohes Blechdach mit Rauchfang installiert.
Am Vorabend hatte wieder eine Kremation stattgefunden. Als ich heute Morgen dort vorbeiging, lag immer noch Glut in der kleinen Senke mitten auf der Plattform, und ein dünner Rauch stieg in die Morgenluft. Nur wenige Leute seien zur Einäscherung gekommen, erklärte mir mein Gärtner später. Ob alle eine Maske getragen hätten, fragte ich ihn. „Ja, alle“, gab er bedeutungsvoll lächelnd zurück.
Ich wusste, was sein Lächeln bedeutete. Vor zwei Wochen, bei der grossen Hochzeit des Stammhalters von Niwas, hatte praktisch niemand eine Maske getragen. Auch Niwas nicht, der jeden seiner vielen hundert Gäste persönlich begrüsst hatte, die meisten mit einem Namasté. Bei vielen nahm er zudem deren gefaltete Hände in seine und dankte für die Ehre des Dabeiseins.
Auch bei der Einäscherungszeremonie stand Niwas im Mittelpunkt. Eine Maske war nicht mehr nötig für ihn, denn es war seine Asche, die heute früh noch warm auf der Plattform lag. Vor einer Woche traten bei ihm die ersten Infektionssymptome auf, es entwickelte sich rasch eine Sauerstoff-Insuffizienz.
Niwas wurde ins beste Krankenhaus von Mumbai – das Breach Candy Hospital – verlegt. Nach einer kurzen Erholung am Beatmungsgerät kam es am Mittwoch zu einem Kreislaufkollaps und Herzstillstand. Seine Gattin und ihr zweiter Sohn, beide ebenfalls infiziert, waren bei der Kremation nicht dabei.
Die Superspreader-Hochzeit
Nun ist das Dorf plötzlich voll von Berichten über Mitbewohner, bei denen sich nach der Hochzeit leichte Corona-Symptome gezeigt hatten, und die darauf positiv getestet wurden. „Etwa neunzig“, sagten sie auf der Gemeinde zu Viraj, dem Mann unserer Köchin. Ich hatte ihn gebeten, dort Erkundigungen einzuholen. Die meisten seien zuhause und würden „überwacht“, damit sie ihre Quarantäne auch einhielten. Fünfundzwanzig Personen seien ins Spital von Alibagh eingeliefert worden.
Doch lehren die steigenden Zahlen und Superspreader-Events wie Niwas’ Hochzeitsgesellschaft die Leute das Fürchten? Die lässigen Kontrollen in Mumbai oder Alibagh sprechen dagegen. Allein in Mumbai testeten am Donnerstag (1. April) 8646 Personen positiv und der Gliedstaat Maharashtra kam auf über 40’000 Neu-Infektionen. Doch die Todeszahlen liegen weiterhin tief, und so nimmt das Leben seinen Gang.
Die Regierung scheint ihr Heil in einer beschleunigten Impfkampagne zu suchen. Seit dem 1. April sind alle Inder über 45 Jahre aufgerufen, eine Impfstation aufzusuchen. Das sind zwar nur dreissig Prozent der Gesamtbevölkerung, aber immerhin 400 Millionen Leute. Doch die Impfrate hinkt den Sollzahlen weit hinterher. Immerhin macht der Staat den Leuten – und auch dem Covid-Personal – Beine, indem er mit einem neuen Lockdown droht.
Die Angst davor scheint ein wirksames Mittel zu sein, zumindest für die Politiker. Die letztjährige Blockade war brutal und buchstäblich rücksichtslos gewesen. Doch eine Neuauflage könnte Millionen Menschen das wirtschaftliche Rückgrat brechen, verletzlich wie sie nach dem letztjährigen Rückschlag ohnehin bereits sind. Dies will die Regierung nicht riskieren.
Tod als „Rite de passage“
Es sieht also nicht so aus, als würden Untergangsszenarien und Hochzeits-Hotspots die Leute aufrütteln. Dazu kommt die Allgegenwart des Sterbens in einer Gesellschaft, in der der Tod noch weithin ein „Rite de passage“ ist. Dies scheint zu verhindern, dass der Fall eines wuchtigen Baums – der Tod eines jungen und beliebten Bauunternehmers – zum Weckruf wird.
Ob er seine Hände gewaschen habe, fragte ich Viraj nach seiner Rückkehr. „Ich habe einen ‚Sanitizer’ gekauft“, antwortete er trocken. Das hielt ihn nicht davon ab, gleich um einen Lohnvorschuss zu bitten. Zwei Hochzeiten stünden an, von engen Verwandten (‚eng’ heisst in Indien: mindestens bis zum dritten Grad).
Ob er denn nicht gehört habe, dass Hochzeiten (übrigens auch Kremationen) nun auf fünf Personen beschränkt seien? „Ja, aber die Hochzeitsfamilien haben eine Spezialbewilligung erhalten. Jede darf fünfzig Personen einladen.“ Wer denn die Bewilligung gegeben habe? „Government.“. Wer’s glaubt, wird selig.
Am Nachmittag verschwand Viraj, ohne sich zu verabschieden. Als ich ihn später fragte, wo er gewesen sei, sagte er im Ton trotziger Selbstverständlichkeit: „Bei der Haldi-Zeremonie natürlich.“ Es ist der erste Teil einer Hochzeit, bevor die Braut das Haus verlässt. Die Braut und ihre Familienmitglieder werden mit einer Gelbwurz-Paste an Händen, Füssen und Gesicht betupft. Kurkuma ist auch in Indien ein beliebtes Schutz- und Heilmittel gegen und bei Infektionen. „Draussen oder im Haus?“, fragte ich. „Drinnen natürlich!“. Fünfzig Leute seien dabeigewesen.
Dass er sich der Gefahr einer Virus-Infektion ausgesetzt hatte, just um einer jungen Frau einen rituellen Schutz auf den Weg in die Ehe zu geben, schien meinen Gärtner nicht zu beschäftigen. Es war die gleiche Gedankenlosigkeit, die Srinivas Bhagat veranlasst hatte, aus einer Mischung von Prestigedenken und blindem Glauben eine Hochzeit zu veranstalten, die alle Vorsichtsmassnahmen über den Haufen warf.
„Indiens Hochzeiten sind kein Maskenball“ – so überschrieb ich meine letzte Kolumne. Der Tod des Unternehmers und der tödliche Hochzeitsreigen davor lassen mich an einen anderen Ball denken, ohne Verdis Musik. Er findet in der Erzählung „The Masque of the Red Death“ von Edgar Allan Poe statt, die es in diesen Tagen zu erneuter Berühmtheit geschafft hat.
Dort mischt sich der Pest-Tod unter die fröhlichen Teilnehmer eines Maskenballs. Sie bewundern die realistische Maske des Gastes, bis sie, zu spät, feststellen, dass die Maske – das Gesicht ist. Bei Poe verkörpert der Rote Tod das Böse, das Unheil schaffen will. In Indien kommt es unschuldig maskiert daher, in der Verkleidung von kollektivem Glauben und sozialer Verblendung – und ist umso verheerender.