Am Abend des 2. Januar, fast genau vier Jahre nach dem Attentat auf den Chef der al-Quds-Einheiten der iranischen Revolutionsgarden, Qassem Soleimani, in Bagdad, wurde ein Treffen hochrangiger Hamas-Kommandeure im südlichen Beiruter Vorort Bi’r al-Abd zum Ziel eines Anschlags.
Sieben Menschen wurden getötet, darunter der stellvertretende Vorsitzende des Politbüros der Hamas, Salih al-Aruri (57), und der stellvertretende Leiter des Politbüros der Hamas in Gaza, Khalil al-Hayya (63). Ob auch der Sprecher der Hamas im Libanon und bis 2011 ihr offizieller Vertreter im Land, Osama Hamdan (58), bei dem Anschlag verletzt oder getötet wurde, war zunächst unklar. Hamdan hatte sich besonders als Hardliner hervorgetan. Die Hizbullah betonte jedoch, er sei wohlauf.
Die Urheberschaft
Es wäre eine Überraschung, wenn sich ein anderer Akteur als Israel zu erkennen geben würde. Man kann aber nicht ausschliessen, dass es im Libanon Gruppen gibt, die die Hamas-Vertreter aus dem Land vertreiben wollen. Nur bezweifle ich, dass diese Gruppen über die technischen und logistischen Mittel für einen solchen Angriff verfügen. Eher ist anzunehmen, dass die IDF (oder andere israelische Stellen) in Zusammenarbeit mit lokalen Informanten das Ziel ausgekundschaftet und mit der Drohne angegriffen haben (wenn es denn ein Drohnenangriff war).
Ein Anschlag auf die Führung
Die Hamas porträtiert gerne ihre vier Führer bei einem gemeinsamen Auftritt. Auf einem solchen «Hamas-Bild» waren bisher neben al-Aruri und al-Hayya auch der bis 2017 amtierende Hamas-Chef Khalid Mash’al und sein Nachfolger Ismail Haniyyeh zu sehen. Letztere gelten als Köpfe einer politischen Führung, die derzeit in Doha (Katar) sitzt, erstere waren Vertreter der politisch-militärischen Führungsebene mit direktem Draht nach Gaza. Der Angriff in der «südlichen Dahiyeh», dem von der Hizbullah dominierten Vorort im Süden Beiruts, dürfte grössere Auswirkungen auf die interne Führungskoordination und strategische Planung der Hamas haben.
Ein Mann des Westjordanlandes
Al-Aruri unterscheidet sich von den anderen Hamas-Grössen dadurch, dass er nicht aus Gaza, sondern aus dem Westjordanland stammt, aus einem Dorf in der Nähe von Ramallah. In den 1980er Jahren studierte er islamisches Recht in Hebron, wo er bis zu seiner Verhaftung 1992 als Studienleiter tätig war. Im Jahr 2007 wurde er aus dem Gefängnis entlassen, jedoch für weitere drei Jahre inhaftiert. Nach seiner Freilassung 2010 wurde er des Landes verwiesen. Grund für seine Inhaftierung war der Vorwurf, er habe 1991/2 die ersten Zellen der al-Qassam-Brigaden im Westjordanland gegründet.
Nach seiner Freilassung lebte er zunächst in Damaskus, das er aber zu Beginn des Aufstands in Richtung Istanbul verliess. Bereits 2010 stieg er in das Politbüro der Hamas auf und machte sich einen Namen als Drahtzieher hinter den Kulissen. Neben seiner Funktion als Koordinator der al-Qassam-Brigaden im Westjordanland agierte er als «Unterhändler», etwa im Verhandlungsteam zum Abschluss des «Shalit-Deals» 2011, als die israelische Regierung im Gegenzug für die Freilassung von Gilad Shalit 1027 palästinensische Gefangene freiliess.
Noch bedeutsamer war al-Aruris Initiative, eine strategische Allianz mit der Hizbullah und darüber hinaus mit den iranischen Revolutionsgarden einzugehen. Dies bedeutete eine politische Neuausrichtung der Hamas, die nun zunehmend ihren religiös-nationalistischen Kurs betonte und ihre Herkunft aus der Muslimbruderschaft relativierte. 2015 wurde al-Aruri nach Beirut geschickt, um die Allianz mit der Hizbullah zu schmieden. Sein Erfolg brachte ihm die Beförderung zum Stellvertreter Haniyyehs ein, als dieser 2017 den Posten des Leiters des Politbüros der Hamas von Khalid Mash’al übernahm.
Kontrollierte Eskalation
Angriffe auf Führungspersönlichkeiten von Hamas und Islamischem Jiihad waren zu erwarten, und nach der gezielten Tötung des Verbindungsoffiziers und Kommandeurs der iranischen Revolutionsgarden in Syrien, Seyyed Razi Musavi, am 25. Dezember in Damaskus war klar, dass es weitere Aktionen dieser Art geben würde. Die Hizbullah hielt sich damals noch zurück, obwohl die Verbindungen zu den Revolutionsgarden deutlich enger sind als zur Hamas. Auch heute, so scheint es, weigert sich die Hizbullah, das Risiko einer offenen Konfrontation mit der IDF einzugehen. Die Hizbullah weiss, dass Israel mit einer Besetzung des Südlibanon bis zum Litani-Fluss reagieren würde. Die Hizbullah wird jedoch ein Zeichen setzen wollen, da sie durch den Angriff die Souveränität des Libanon verletzt sieht. Weniger wahrscheinlich ist, dass die Hizbullah «Vergeltung» für die Hamas üben wird. Und doch ist nicht sicher, ob die Hizbullah die bisher gepflegte punktuelle Eskalation noch beherrschen kann. Befürchtet wird im Libanon, dass militärische Fraktionen der Hamas im Libanon (die es gibt) aktiv werden und den Konflikt mit der IDF an der Grenze suchen.
Noch also ist nicht absehbar, ob die Hizbullah den Angriff als Auslöser für einen Krieg mit Israel sieht. Hizbullah-Chef Nasrallah hatte noch am 28. August erklärt, die Tötung von Menschen auf libanesischem Territorium, auch von nicht-libanesischen Staatsbürgern, durch Israel sei ein Casus Belli. In einer Erklärung der Hizbullah heisst es: «Die Hizbullah bekräftigt, dass dieses Verbrechen niemals ungestraft bleiben wird und dass unser Widerstand standhaft, stolz und treu gegenüber den Prinzipien und Verpflichtungen ist, die wir eingegangen sind. Dies ist ein denkwürdiger Tag für das, was folgen wird.»
Sollte es tatsächlich zu einer Eskalation durch die Hizbullah kommen, würde dies eine massive Bedrohung für die Zivilbevölkerung in Nordisrael bis südlich von Haifa bedeuten. Die Hizbullah-Raketen Khaibar-1 (= iranische Fadschr 5) haben eine Reichweite von bis zu 75 km, und die Hizbullah hat inzwischen mehrere zehntausend dieser Geschosse gehortet. Die IDF müssten eine Vielzahl mobiler Abschussrampen im Südlibanon zerstören, was nur im Rahmen einer Bodenoffensive möglich sein dürfte.
Eine brüchige Machtordnung
Inzwischen zeichnet sich deutlich die Triangulation der Macht- und Entscheidungsstrukturen der Hamas ab. In Doha sitzt die politische Führung um Haniyyeh und Mash’al, in Beirut (Usama Hamdan, Ali Barakat) werden politische und militärische Massnahmen in enger Abstimmung mit der Hizbullah und den iranischen Revolutionsgarden koordiniert, und in Gaza befindet sich die operative Kommandoebene der Hamas (Yahya al-Sinwar, sein Bruder Muhammad, Muhammad al-Deif und Marwan Issa) sowie die Organe der religiösen Autorität (Mahmud az-Zahar). Das Machtzentrum der Hamas lag bisher offensichtlich in Beirut. Das Politbüro in Doha ist weiterhin für die Aussenbeziehungen zuständig, scheint aber weniger Kontrolle über das politisch-militärische Geschehen zu haben als die Beiruter.
Die Strategien der Beiruter Hamas-Vertretung und der Aussenpolitik in Doha dürften komplementär, aber nicht spannungsfrei sein. Die Beiruter gelten als Hardliner, die politische Verhandlungsinitiativen eher aus einer Position der Stärke heraus bewerten wollen. Die Auslandsführung um Haniyyeh hingegen sieht Verhandlungen als Möglichkeit, Legitimität zu gewinnen. Bislang haben beide Hamas-Ebenen propagandistisch erfolgreich zusammengespielt. Jüngste Gerüchte über die Bereitschaft der Doha-Gruppe, der PLO beizutreten und Israel nicht nur einen Waffenstillstand anzubieten, sondern auch politisch anzuerkennen, dürften die Beziehungen zur Beiruter Gruppe stark belastet haben.
Aus den Fugen
Der Anschlag von Beirut dürfte die Hamas-Führung empfindlich getroffen haben. Die engen Beziehungen zur Hizbullah und zu den iranischen Revolutionsgarden, die al-Aruri so intensiv gepflegt hatte, dürften so schnell nicht wieder von einer Person fortgeführt werden, die das Vertrauen aller Seiten geniesst und die Kontinuität der Hamas-Beteiligung an der Achse des islamischen Widerstands sicherstellt. Wie schnell sich die Beiruter Hamas-Dépendance von diesem Schlag erholen kann, ist derzeit nicht abzuschätzen. Für die Hamas-Führung in Gaza selbst bedeutet der Angriff den vorübergehenden Verlust eines wichtigen Koordinationsorgans.
Sicherlich muss auch die Doha-Gruppe damit rechnen, Ziel einer Militäraktion zu werden. Vermutlich ist sie schon längst zur Zielscheibe geworden. Allerdings dürfte die Vermittlerfunktion Katars auch für Israel das höhere Gut sein. Der Angriff in Beirut könnte daher auch ein Signal an die Hamas-Führung in Doha sein, dass ihr ein ähnliches Schicksal droht, wenn sie nicht einen entscheidenden Politikwechsel einleitet und die Gaza-Kommandeure zur Aufgabe auffordert. Doch danach sieht es derzeit nicht aus. Der gestern getötete stellvertretende Hamas-Chef al-Aruri war nicht nur Oberkommandierender der al-Qassam-Brigaden der Hamas im Westjordanland, sondern auch die wichtigste Figur in den Schattenverhandlungen um die Geiseln in Gaza. Deshalb hat die Hamas nun angekündigt, alle Gespräche über die Geiseln auf Eis zu legen. Die Situation für die Geiseln wird dadurch sicherlich schwieriger und eine Eskalation wahrscheinlicher.