Auch der britische „Economist“ vertritt in seiner letzten Titelstory die Meinung, dass Putin seinen Zenit als russischer Herrscher deutlich überschritten habe. Eine wachsende Mittelschicht habe das Vertrauen in seinen Willen, Russland zu einer funktionierenden Demokratie zu entwickeln, unwiederbringlich verloren. Seine dritte Wahl zum Präsidenten, signalisiere im Grunde den „Beginn des Endes von Putin“, so die Titelzeile des „Economist“.
Noch sechs oder zwölf Jahre?
Diese Prognose mag auf den ersten Blick dramatisch klingen, aber sie ist zugleich vorsichtig formuliert. Wie lange soll dieses Ende von Putins Herrschaft dauern? Bis zur nächsten Präsidentenwahl in sechs Jahren? Das wäre schon eine sehr lange Endphase. Theoretisch könnte Putin 2018 sogar für weitere sechs Jahre als Kremlchef kandidieren. Das wäre, so lässt der „Economist“ durchblicken, allerdings ein kapitaler Fehler Putins. Um die wachsende Schar seiner Kritiker einigermassen zu besänftigen, sollte er vielmehr sofort versprechen, dass er in sechs Jahren definitiv als Präsident zurücktreten werde.
Selbst ein solches Zugeständnis kann Putin indessen keineswegs eine sichere sechsjährige Amtszeit garantieren. Gewaltsame Revolutionen sind bei der Mehrheit des Volkes nach den bitteren und blutigen Erfahrungen in der russischen Geschichte zwar nicht populär. Doch überraschende politische Aufbrüche und Umwälzungen waren in diesem vermeintlich so trägen Lande gerade in den letzten beiden Jahrzehnten keine Seltenheit. Sowohl Gorbatschow, der letzte sowjetische Staatschef, als auch Putins Vorgänger und Mentor Jelzin sahen sich gezwungen, von ihren Ämtern vorzeitig zurückzutreten. Putin wird das kaum vergessen haben.
Die Unberechenbarkeit der Geschichte
Gewiss gilt für alle Voraussagen das Winston Churchill zugeschriebene Diktum: „It is difficult to make predictions – especially about the future." Doch im Falle Russlands scheint das Risiko, dass sich die zukünftigen Dinge in diesem Land oft ganz anders abspielen, als die Gegenwart und die Erfahrungen der Vergangenheit vermuten lassen könnten, besonders hoch.
Der Schreibende ist in dieser Hinsicht selber ein gebranntes Kind. Zum Abschluss meiner mehrjährigen Moskauer Korrespondentenzeit in der Ära Breschnew verstieg ich mich zu der Prognose, die Sowjetunion werde wohl das Jahr 2000 überleben. Das schien damals keine übertrieben waghalsige Vorhersage – aber sie unterschätzte sträflich die Unberechenbarkeit der Geschichte.
Der damals bekannte Dissident Andrei Amalrik kam der realen Entwicklung etwas näher. In einem in jener Zeit viel beachteten Essay „Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben?“, beantwortete er die Frage tendenziell negativ. Allerdings vertrat er die – von der Geschichte ebenfalls widerlegte – Meinung, die Sowjetunion werde hauptsächlich wegen eines zerstörerischen Krieges mit dem kommunistischen Rivalen China untergehen.
Custines und Solschenizyns Warnungen
Auch die düstere Prognose des französische Reisenden und Schriftstellers Marquis de Custine, der die Dominanz Russlands über ganz Europa voraussagte, ist zumindest langfristig nicht in Erfüllung gegangen. In seinem berühmt gewordenen Bericht „La Russie en 1839“ schrieb er: „Russland sieht in Europa eine Beute, die ihm früher oder später durch unsere Uneinigkeit zugeführt werden wird.“ Aber auch der grosse russische Schriftsteller und geistige Gegenspieler der Sowjetmacht, Alexander Solschenizyn, hat sich im Hinblick auf die Zukunft seines Landes verschätzt, als er 1975 – ein Jahr nach seiner Deportation aus der Heimat – behauptete, der vermeintlich windelweiche Westen haben den "Dritten Weltkrieg" gegen das sowjetische Imperium bereits verloren.
Viele werden sich noch daran erinnern, dass nach dem unerwartet schnellen Zerfall des Sowjetreiches nicht wenige Optimisten in West und Ost von einer schnellen wirtschaftlichen und politischen Eingliederung des neuen Russlands in eine globale Allianz aller demokratischen Länder träumten. Solche hochfliegenden Visionen (Stichwort: „Ende der Geschichte“) haben sich schon unter Jelzin und dann verstärkt unter Putins „gelenkter Demokratie“ und dessen Neigung zur Mobilisierung chauvinistischer Aufwallungen wieder weitgehend verflüchtigt.
Zweierlei Meinungen
Ganz versickert ist in Russland der Glaube an die Möglichkeiten demokratischer Mitbestimmung und die Entwicklung einer rechtsstaatlichen Zivilgesellschaft allerdings nie. Nun hat die gesunde Empörung über Putins abgekarteten Ämtertausch mit dem von ihm zur Marionette degradierten Protégé Medwedew diesen unterschwelligen Strömungen vor allem in den Grossstädten zu neuer Kraft und neuem Zulauf verholfen.
Über die Zukunftschancen dieses unerwarteten gesellschaftlichen Aufbruchs gehen die Meinungen aber wiederum weit auseinander – selbst unter russischen Sympathisanten der Anti-Putin-Bewegung. Der Schriftsteller Viktor Jerofejew, ein weitgereister, welterfahrener Zeitgenosse, schrieb nach der ersten grossen Protestdemonstration gegen die von der Putin-Kamarilla manipulierten Duma-Wahlen im Dezember begeistert: „Egal, was weiter passiert, Russland hat im Dezember 2011 bewiesen, dass es zur Demokratie fähig ist und in bedeutendem Ausmass von einem zurechnungsfähigen Volk mit Selbstwertgefühl bewohnt wird.“
Sein in Moskau geborener Schriftstellerkollege Michail Schischkin, der heute in Zürich lebt und mit seinen Büchern in Russland bedeutende Erfolge erzielt, meinte im gleichen Zusammenhang pessimistisch in der NZZ: „Die Menschen in Russland auf die Barrikaden zu rufen, klingt schön, ist aber sinnlos. Denn wir haben das alle schon einmal durchgemacht. Die besten Leute setzen sich ein im Kampf um Ehre und Würde....Und über ihre Leichen hinweg werden Zyniker und Banditen die Macht an sich reissen.“
Durchlöcherten Informationskontrolle
Wer solche tief widerstreitenden Einschätzungen eingefleischter Kenner der russischen Gesellschaft und ihrer Geschichte liest, wird sich hüten, sich auf verbindliche Prognosen über das Ende der Ära Putin und die Zukunftsperspektiven der russischen Demokratie festzulegen. Unbestreitbar aber bleibt, dass in Russland in den gut zwanzig Jahren seit der Auflösung des Sowjetregimes bewusstseinsträchtige Umwälzungen in Gang gekommen sind – namentlich was die individuellen Bewegungsfreiheiten und den Zugang zu nicht staatlich kontrollierten Informationen betrifft. (50 Prozent der Bevölkerung hat heute Anschluss ans Internet, in Moskau sind es 70 Prozent).
Solche Umbrüche garantieren natürlich noch keineswegs das rasche Ende autokratischer Machtverhältnisse. Aber einiges spricht dafür, dass sie die Zukunft manipulativer Potentaten vom Schlage Putins untergraben und verkürzen werden.