Im ihrer jüngsten Ausgabe gewährt die Wochenzeitung «Die Zeit» der Literaturwissenschafterin Ingeborg Harms einen grossen Auftritt zur Reflexion von Taten wie jener von James Holms, der bei einer Premierenvorführung des Films «Batman» in Colorado zwölf Menschen getötet und zahlreiche weitere verwundet hat. Der Text ist in vieler Hinsicht aufschlussreich, wenn auch nicht für die Tat, von der er handelt.
Ob bei James Holmes, Anders Breivik oder anderen wahl- und skrupellos Mordenden: Die Öffentlichkeit ist nicht nur zu erregter Aufmerksamkeit, sondern auch zu bohrendem Fragen faktisch gezwungen. Dabei ist sie sich in ihrem widerwilligen Interesse bewusst, von den Tätern gegängelt zu sein. Deren Kalkül liegt offen zutage, und nicht selten wird, so etwa von Breivik, das Medienecho unverblümt vorweg als Mittel zum eigentlichen Zweck der Tat deklariert. Fast immer geht es den Gewalttätern um die Verbreitung irgendeiner ideologischen oder pathologischen Botschaft. Es ist die gleiche bösartige Kommunikationsstrategie, wie sie auch terroristischen Aktionen zugrunde liegt. Sie nimmt Medien und Öffentlichkeit in Geiselhaft.
Verschweigen und Wegschauen geht nicht
Der Vereinnahmung der Medien durch Gewalttäter ist fast nicht zu entgehen. Das Netz weltweiter Informationswege ist so dicht und die Konkurrenz der Nachrichtenvermittler so hart, dass an ein Boykottieren böswilliger Akteure nicht zu denken ist. Doch nicht nur die praktische Unmöglichkeit des Totschweigens gebietet es, über Aurora, Utöya, Columbine und all die Schreckensschauplätze sowie die Hintergründe zu berichten.
Wichtiger noch ist dies: Zivilisierte Gesellschaften können es sich nicht ersparen, nach Gründen solcher Taten zu fragen. Denn als Alternativen zum Blick in die Abgründe blieben sonst nur dumpfe Gleichgültigkeit oder archaische Vergeltung. Und wie könnte man an einem einzigen Menschen einen vielfachen Mord überhaupt vergelten? Wenn also die Medien sich bemühen, für die unausweichliche Auseinandersetzung Stoff und Impulse zu liefern, so befreien sie sich selbst und die Öffentlichkeit aus der Geiselhaft des Terrors.
Deutung in überlegener Pose
Der Aufgabe, im Dschungel der Indizien und Vermutungen nach der Tat von Aurora zur Aufklärung beizutragen, hat sich auch das Feuilleton der «Zeit» angenommen. Die Autorin Ingeborg Harms bahnt sich ihren Weg zur Deutung, indem sie einer Reihe möglicherweise vergleichbarer Verbrechen der letzten Jahrzehnte jeweils ähnlich gelagerte persönliche Motive und kulturelle Symptome unterstellt. Auf diese schmale und wenig gesicherte Grundlage türmt sie in der Folge ein Konstrukt, welches die grosszügig zu einer Kategorie zusammengefassten Taten zu erklären beansprucht.
Die Argumentation des Artikels bedient sich eines Sammelsuriums medialer, literarischer und popkultureller Echos auf Gewalttaten sowie eines komplexen Verfahrens des Interpretierens von Interpretationen. So meint Ingeborg Harms mit dem englischen Kultursoziologen Chris Rojek, «beachtungshungrige Killer (seien) ein Symptom der Demokratie, die auf Gleichheit basiert und in der doch jeder aussergewöhnlich sein möchte.» Solche «Psychopathologie des Alltagslebens» habe ihren Ursprung in der mit der französischen Revolution vollzogenen Übertragung der göttlich begründeten Souveränität des Königs (sie verwechselt hier übrigens Ludwig XIV. mit Ludwig XVI.) auf jeden einzelnen Bürger. Dieser aber sei durch den Wegfall der gesellschaftlichen Hierarchie der «transzendentalen Obdachlosigkeit» ausgesetzt (dass dieser von Georg Lukács geprägte Terminus in einen ganz anderen Sinnzusammenhang gehört, scheint die Autorin nicht zu kümmern) und mit seinem Status als Souverän überfordert.
Souveränität sei nichts anderes als das absolut gesetzte Verfügungsrecht über Leben und Tod. Die Autorin folgt diesem Motiv und seinen Abwandlungen bei Giorgio Agamben und Elias Canetti, in literarischen und populärkulturellen Bezügen sowie mit Verweisen auf Königtümer in traditionellen Stammesgesellschaften. Das königliche Recht, so der weitere Duktus der Argumentation, sei über die «Stildiktatur» des Dandytums im 19. Jahrhundert zur Herrschaft des modernen Medienstars mutiert. Was nun den Amokläufer betreffe, so sei «seine bestialische Kaltblütigkeit am Ende genau das, was ihn als einen Erben der Königsposition ausweist.» Im Unterschied zu den von Publikums- und Mediengunst abhängigen Stars nehme er im Kampf um Aufmerksamkeit eine unangreifbare Machtstellung ein und beweise so «das Potenzial zum Souverän, das in jedem steckt.»
Nivellierung des Ungeheuerlichen
Der Artikel von Ingeborg Harms steht für eine intellektuelle Haltung, die eine Modeströmung der aktuellen Geistes- und Sozialwissenschaften repräsentiert. Dieses kulturwissenschaftliche Paradigma fügt die Erscheinungen der sozialen Welt zu vielfach sich überlagernden «Kulturen» zusammen und erblickt in allem Vorfindlichen deren Ausdrucksformen. Diese Betrachtungsweise vermeidet normative Aussagen nicht nur, sondern lehnt sie als unwissenschaftlich ab. Normen sind beobachtbare gesellschaftliche Phänomene und haben keinen besonderen Status. Nichts kann ausserhalb der Gesellschaft sein. Überschreitet eine Handlung oder ein Sachverhalt die Grenzen des gesellschaftlich Verstehbaren, so gibt dies Anlass, dessen Raum zu erweitern und das zuvor mental Ausgeschlossene in eine wertneutral verstandene «Normalität» einzubeziehen.
Rein wissenschaftlich mag ein solches Vorgehen angebracht sein. Als heuristisches Verfahren kann derartige Urteilslosigkeit dazu beitragen, die Vorstellung von der menschlichen Gesellschaft jeweils faktenreicher, komplexer und offener zu modellieren. Als intellektueller Zugang zu einer Auseinandersetzung der irritierten Öffentlichkeit mit sich selbst und ihrem Umgang mit der Tat von Aurora ist der kulturwissenschaftliche Gestus zu distanziert und unbeteiligt. Es ist vielleicht kein Zufall, dass die Opfer der Gewalttaten – Tote, Verwundete, dauerhaft Traumatisierte, Angehörige – im Artikel von Ingeborg Harms überhaupt keine Rolle spielen. Ein intellektuelles Schaulaufen, wie sie es hier exerziert, trägt kaum etwas bei zur kritischen Auseinandersetzung mit der Erfahrung, immer wieder Beobachter und zugleich indirekter Adressat monströser Gewaltverbrechen sein zu müssen.