Es war kein Schleck, mit Mahatir bin Mohammed ein Gespräch zu führen. Er wirkte, mit 53 – vier Jahrzehnte jünger als heute –, unnahbar. Er hatte weder ein Partei- noch ein Regierungsamt, soweit ich dies im Zeitalter vor der totalen Informationsgesellschaft als Anfänger im Drittweltjournalismus wissen konnte. Seit den sechziger Jahren sass er im Parlament. Malaysia lebte damals von Zinn und Palmöl: „Englische Bergbau- und Plantagenwirtschaft, verschlafen, uninteressant“, befand ein betagter Redaktionskollege.
Warum wollte ich diesen Mahatir überhaupt treffen, am Rande einer meiner frühen Reisen für die NZZ? Er hatte nach gewalttätigen Strassenunruhen in Kuala Lumpur und Malacca ein sozialpolitisch revolutionäres Buch geschrieben. Ich wollte herausfinden, warum die Ideen in diesem Buch eines Aussenseiters innert wenigen Jahren die Regierungspolitik eines südostasiatischen Landes zu bestimmen vermochten. Dies, obwohl die Kampfschrift nach der Publikation 1970 sofort verboten worden war.
Das Dilemma der Malaien
Mahatirs schmaler Band trug den Titel <The Malay Dilemma>; er war eine Herausforderung für die Oberschicht von alten malaiischen Adelsgeschlechtern und postkolonialen Parteibürokraten, sowie einer schmalen chinesischen und noch dünneren indischen Elite. Die drei Parteien dieser Führungsschichten regierten gemeinsam seit der Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich anno 1957 bis zum 9. Mai 2018. Aus Sicht der alten Eliten war Mahatir unerlaubt frech; sie erkannten sich selbst, ihr System, das Land nicht wieder in seiner Beschreibung, im Clinch zwischen Beharren und Veränderung. Den grössten Fehltritt beging er in offizieller Sicht mit der Charakterisierung der indigenen Malaien als genügsam und faul. Er selbst ist indisch-malaiischer Abkunft.
In <Das Malaiische Dilemma> diagnostizierte der Arzt Mahatir seine Sicht der Krankheit, an der Malaysia litt: das Trauma des kolonialen englischen Prinzips von Teilen und Herrschen. Es funktionierte in Malaysia wie in anderen Kolonien dank dem Aufteilen der wirtschaftlichen und politischen Macht zwischen den unterschiedlichen, traditionell führenden Gruppen. Es ermöglichte eine innere Ordnung, erleichterte das Herrschen und beliess im übrigen den divergierenden Ethnien und Schichten sowie Religionen ihre herkömmliche Kulturen und Sprachen.
Der zum Politiker mutierte Arzt skizzierte eine radikale Therapie für die Gesellschaft der grossen Halbinsel. Er verordnete der Mehrheitsbevölkerung der ethnischen Malaien den Aufschwung aus Armut und Rückständigkeit; diese waren vorwiegend Kleinbauern und Plantagenarbeiter oder gehörten in den Städten zur Unterschicht. Die über die Jahrhunderte eingewanderten Chinesen und Inder sowie andere Minderheiten hatten und haben das Nachsehen. Denn die politische Hauptthese Mahatirs war, die Malaien seien vorrangig zu fördern. Er verlangte die Abkehr vom Nebeneinander, das aus seiner Sicht die „bumiputra“ (Söhne der Erde) genannten Malaien gegenüber den wirtschaftlich dominierenden Chinesen und Indern benachteiligte.
Die Forderungen des Gesellschaftskritikers hatten denkbar weitreichende Wirkungen. Fünf Jahre nach ihrem Erscheinen und trotz dem Verbot des Buchs wurden Mahatirs rassisch-nationale Thesen Regierungspolitik. Seither werden die Minderheiten der Chinesen, Inder, Europäer, Thai, Vietnamesen bei der höheren Ausbildung und Stellenvergabe sowie in allen Bereichen des Alltagsleben benachteiligt. Die rassistische Grundtendenz wurde von der Malaienpartei Umno zuerst mit antibritischem Postkolonialismus verbrämt und mit dem günstigen Investitionsklima der industriellen Modernisierung übertüncht.
Damit war der Vordenker des neuen Malaysia salonfähig. Er wurde für über zwei Jahrzehnte Regierungschef. Sein Rücktritt 2003, im Alter von 78 Jahren, liess keine Wünsche offen, Mahatir schrieb einen Memoirenschinken. Das System trug den Sohn des früheren Premiers Tun Abdul Razak an die Spitze, den jetzt wegen Misswirtschaft, Korruption, persönlicher Bereicherung durch demokratische Abwahl in die Wüste geschickten Najib Razak.
Einst mit Krawatte
Auf jener ausgedehnten Pressereise 1978 taten die Gastgeber alles, um den begonnenen Umbau des Landes im besten Lichte erscheinen zu lassen. Auf der Hand liegende Parallelen zwischen ihrer volkswirtschaftlich begründeten Politik und den Vorschlägen Mahatirs wurden auf meine Fragen hin mit Unverständnis quittiert, blieben unbeantwortet; ich wurde vor einem Gesprächstermin mit Premierminister Datuk Hussein Onn sogar unumwunden gebeten, diesen nicht auf Mahatir als Person oder auf dessen Buch anzusprechen. Heute wäre es normal, die Frage trotzdem zu stellen.
Welches Äussere Mahatir auch zeigt – einst den dunklen Business Suit mit korrekter Krawatte oder das dezente Batikhemd der Malaien, jetzt im hohen Alter ein jugendlich farbiges Jackett ohne Krawatte: Der alte neu-alte Premierminister hat die gesellschaftlichen, politschen, wirtschaftlichen Entwicklungen seines Landes über fünf Jahrzehnte hin scharfsichtig vorausgesehen und mitgestaltet. Ob er jetzt noch einmal zur Veränderung ansetzt?
Der intellektuelle Revoluzzer der sechziger und siebziger Jahre, Buchautor-Politiker Mahatir bin Mohammed, gab mir keine Auskunft über seine denkbare Rolle bei den blutigen Unruhen am 13. Mai 1969, die offiziell totgeschwiegen werden. Bei seinem diskreten Wirtschaftsbesuch in der Schweiz 1981, kurz bevor er Regierungschef wurde, liess er sich nicht mehr auf sein Buch ansprechen – das Dilemma Malaysias sei ja gelöst. Er strahlte bereits eine stille Arroganz der Macht aus. – So locker, wie er sich auf den Pressefotos heute nach dem Comeback gibt, habe ich ihn nicht erlebt.
Anpassungsfähig
Mahatir verkörpert in meinen Augen den anpassungsfähigen, jedoch starken Mann des langen Übergangs von der britischen Kolonie zum potenten Schwellenland der Postmoderne. Wie sein einstiger politischer Gegenspieler auf der Halbinsel, Lee Kuan Yew in Singapur, erreicht Mahatir ein hohes Alter als aktiver Staatslenker. Seine Thesen über die Bumiputra-Bevorzugung und die Forderung nach kompletter Assimilation aller andern haben sich durchgesetzt, getragen von einer rasanten Entwicklung dank Petrodollars.
Die Steigerung des Wohlstands kam nicht allen zugute. Wie viele gut vernetzte Malaien neuerdings sind wenige Chinesen und Inder von altersher reich; jedoch sind alle Bevölkerungsgruppen in mehrere soziale Schichten zersplittert, haben breite Anteile von Armen. Diese Unterprivilegierten und andere mit der Vetternwirtschaft Unzufriedene haben jetzt für Veränderung gestimmt.
Mahatir selbst verliess erst vor kurzem, im Alter von 90 Jahren, seinen einstigen Nährboden, die Umno-Partei. Er machte eine Abspaltung davon zur Wahlkampfmaschine, im Bündnis mit den wichtigsten Oppositionsgruppen. Er kehrt zu seinen geistigen Wurzeln zurück, jenen des rassistischen Befreiungstheoretikers und nationalistischen Gründervaters. Mit sicherem Instinkt verbrämt er sie heute mit dem islamischen Populismus seines noch im Gefängnis sitzenden Verbündeten Anwar Ibrahim. Und übernimmt erneut die Macht.
Als wichtigstes Kennzeichen würde ich die Konstanz seines politischen Handelns bezeichnen: einmal als Revoluzzer, dann als Arrivierter, als opportunistischer Wendehals die Fronten wechselnd, immer eine Nasenlänge voraus. Eine problematische Nasenlänge: demokratisch verbrämter Rassismus statt moderne Rechtsstaatlichkeit.
Neuer Mainstream
Die Zukunft gehört wohl den neuen Strömungen, die mit dem korrupten Umno-Regime ernsthaft abrechnen wollen. Es war ein Regime, das während 22 Jahren mit Mahatir an der Spitze heran wuchs – wie glaubhaft ist er jetzt als Reformer? Im Vordergrund steht heute ein mystisch-sozialer Islam, den Anwar Ibrahim seit vielen Jahren predigt. Anwar wird als charismatische, friedfertige Persönlichkeit beschrieben, die ich in westlicher Diktion als politisch sozialdemokratisch bezeichnen würde.
Ist der geistige Kopf Anwar noch der politische Führer seiner Bewegung im Parlament? Ist dieser neue Mainstream genügend stark und geeint, um gegen das vorerst politisch gestürzte System zu bestehen? Ist Mahatir wieder Ziehvater, oder wird er in seinen letzten Jahren zum Zögling?