Der Kampf um Mosul ist noch nicht zu Ende. Die Kämpfer der IS halten sich zäh in der Altstadt auf der Westseite des Tigris. Weil das enge Altstadtquartier schwer zu erobern ist, hat die irakische Armee eine neue Offensive nördlich der Altstadt lanciert. In diesen nördlichen am Stadtrand liegenden Vierteln können Panzer eingesetzt werden. Zudem ist die Gefahr geringer, dass bei den Luftangriffen auch Wohnhäuser getroffen werden, in denen sich noch Zivilisten befinden.
Flucht über den Fluss
Aber es geht im Norden nur langsam voran. Die irakische Armee meldet alle paar Tage die Einnahme eines neuen Viertels im Norden der Stadt. Viele der Bewohner dieser nördlichen Stadtviertel versuchen, sofort ihre Häuser zu verlassen, wenn sie von der Armee erreicht worden sind. Die meisten von ihnen wollen den Fluss überqueren, um auf der Ostseite Unterschlupf zu finden. Doch der Wasserstand des Tigirs ist zur Zeit hoch.
Die Armee musste die Pontonbrücken demontieren, die sie über den Tigris gelegt hatte, um einige der zerstörten fünf Brücken zu ersetzen. Den Flüchtlingen wurde ein Motorschiff versprochen, das sie regelmässig übersetzen sollte. Doch dazu kam es nicht. Die Armee erklärte, der Treibstoff sei ausgegangen. Daher müssen die Flüchtlinge in kleinen Gruppen auf Ruderbooten übergesetzt werden.
Es gibt Photos von Überlebenden, die die Leichen von Familienangehörigen in Tücher gewickelt auf die Boote mitbringen, um sie auf der Westseite zu begraben. Was dafür spricht, dass die Bewohner von Ostmosul nicht daran glauben, dass die Armee schon bald die gesamte Oststadt unter Kontrolle hat.
Doch die IS-Kämpfer sind in der Altstadt umzingelt. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann ihr Widerstand zusammenbricht. „Noch diesen Mai“, versprechen die irakischen Offiziere, die allerdings stets optimistische Meinungen äussern.
Die Anbar-Wüsten als Rückzugsgebiet
Mittlerweile zeichnet sich ab, wie sich der Krieg gegen den IS entwickeln wird. Viele der IS-Kämpfer haben sich in der weiten und wilden Wüstenprovinz Anbar festgesetzt. Die weite Wüstenprovinz ist die Heimat von sunnitischen Stämmen. Einige von ihnen haben für den IS Partei ergriffen, weil sie die schiitischen Regierungsmilizen mehr fürchteten als den sunnitischen IS.
Sie sind nun so stark mit dem IS identifiziert, und bittere Fehden sind mit den anderen Gruppen ausgebrochen, die zur Regierung hielten, dass sie schwerlich ihre Haltung verändern können. Jedenfalls nicht, solange die Regierung nicht Versöhnungsschritte einleitet und solange der IS selbst eine Präsenz in den Wüstengebieten bewahrt.
Die Regierung hat Truppen in Anbar stehen. Doch sie gehören nicht zu der relativ kleinen Minorität von Soldaten, die – meistens mit amerikanischer Hilfe – als Kampftruppen ausgebildet wurden, nachdem die Armee im Sommer 2014 unter den Überraschungsschlägen des IS praktisch zusammengebrochen war. Diese ausgebildeten Kampftruppen werden in Mosul dringend gebraucht.
IS-Offensive im Hinterland
Der IS hat begonnen, die Garnisonssoldaten in Anbar anzugreifen. Täglich kommen Meldungen von Überfällen mit Verlusten der Armee, meist in Grössenordnungen von zwanzig oder mehr Todesfällen. Die irakischen Offiziere behaupten, es gebe ganze „unterirdische Städte“, aus denen die IS-Leute plötzlich auftauchten. Sie besässen bessere Waffen und schnellere Fahrzeuge als die eigenen Soldaten.Sie haben zweifellos den Vorteil, das Gelände besser zu kennen als ihre Gegner, die oftmals aus den Städten und Bauerndörfern des irakischen Südens stammen.
In Anbar ist der IS aktiv, weil seine Kämpfer versuchen, Teile der irakischen Armee dazu zu veranlassen, vom Kampf um Mosul abzulassen oder jedenfalls zu verhindern, dass die dortigen Truppen weiter verstärkt werden. Die irakische Armee versucht ihrerseits, die wichtige Durchgangsstrasse durch die Wüste zu halten, die Bagdad mit Damaskus verbindet und in einer Abzweigung auch nach Jordanien führt. Sie hat auch die Stadt Falludscha zu sichern, die sie vor einem Jahr, im Juni 2016, dem IS entrissen hat und wo immer noch Anschläge stattfinden.
Richtungsstreit in der sunnitischen Führung
Im politischen Bereich zeichnet sich eine Auseinandersetzung unter den irakischen Sunniten darüber ab, wie ihre Gemeinschaft sich in Zukunft ausrichten soll. Es gibt Politiker, wie Osama al-Nujaifi, der sich in Erbil aufhält, die die Schaffung eines autonomen Sunnitengebietes im Nordirak anstreben – nach dem Vorbild des autonomen kurdischen Staates. Es gibt jedoch auch sunnitische Politiker, die das Gegenteil vorziehen: eine sunnitische Gemeinschaft, die sich an die grössere und stärkere schiitische anlehnt und im Gegenzug Hilfe und Konzessionen von der Bagdader Regierung erhält, die notwendigerweise in den Händen der schiitischen Mehrheitsgemeinschaft verbleiben wird. Wenn die Kurden ausfallen, weil sie ihren eigenen Staat bilden, sind die arabischen Sunniten im Irak nur knapp ein Viertel der verbleibenden Gesamtbevölkerung.
Zusammenarbeit mit der schiitischen Führung?
Salim al-Jaburi, der gegenwärtige Parlamentssprecher, gehört mit seinen Anhängern zu dieser kooperationsbereiten Richtung. Er steht dem früheren Ministerpräsidenten, Nuri al-Maleki, nahe, der nach wie vor über bedeutende Macht verfügt und seinerseits mit den schiitischen Politikern und Milizführern zusammenarbeitet, die Iran zuneigen. Als Ministerpräsident hatte al-Maliki sich nahezu ausschliesslich auf seine eigene schiitische Gemeinschaft abgestützt und hatte die Sunniten aus allen führenden Positionen im Parlament, in der Verwaltung und den Sicherheitskräften entfernt. Dies hatte zu wachsenden Ressentiments gegen „die Schiiten“ und damit auch zur Stärkung der sunnitischen Islamisten des späteren IS geführt.
Angesichts dieser Vorgeschichte ist die Frage der Zusammenarbeit mit der schiitischen Regierungsmehrheit oder der Abtrennung von ihr mittels eines eigenen autonomen Gebiets heute leidenschaftlich umstritten. Die Beleidigungen im Parlament und in der Presse gehen hin und her. Beide Seiten werfen der Gegenrichtung vor, sie „verrate“ die eigene sunnitische Gemeinschaft, weil sie dem IS zuneige, oder weil sie es mit den Schiiten halte.
Milizen auch für die Sunniten?
Den sunnitischen Politikern und Gruppen, die sich zur Mitarbeit mit den schiitischen Mehrheitsparteien bereit zeigen, ist es gelungen, vom Parlament die Erlaubnis zu bekommen, auch ihrerseits – bisher noch kleinere – sunnitische Milizen aufzustellen. Unter den Schiiten gibt es davon schon eine beträchtliche Anzahl durchaus schlagkräftiger Einheiten.
Das irakische Parlament hat beschlossen, dass diese Milizen der sogenannten „Volksmobilisation“ permanente Bestandteile der staatlichen irakischen Sicherheitskräfte werden sollen. Kritiker dieser Massnahme sehen in ihr eine Übernahme des iranischen Vorbilds, weil es im Iran seit Chomeini neben der regulären Armee, und heute viel einflussreicher als diese, die Revolutionswächter gibt. Chomeini hatte sie ursprünglich als Gegengewicht gegen die – mehr nationalistisch als islamistisch ausgerichtete – Armee geschaffen.
Geografie und Politik
Für die sunnitischen Politiker im Irak stellt sich die Grundfrage, entweder bei der Entwicklung der dominierenden schiitischen Macht mitzuwirken und sich dadurch ein Mitspracherecht zu erkaufen oder aber, wie es die Gegenrichtung fordert, auszuscheren und auf eine eigene abgesonderte politische Gemeinschaft, einen autonomen sunnitischen Staat, hinzusteuern.
Da die Sunniten von Bagdad, heute eine Minderheit in der Hauptstadt, wie auch in anderen gemischten Gebieten, nicht hoffen können, ihr eigenes Staatsgebiet zu bekommen, neigen sie eher der Zusammenarbeit, wenngleich als Minderheit, mit den Schiiten zu. Doch jene, die in überwiegend oder rein sunnitischen Landesteilen zuhause sind, haben mehr Grund, auf Autonomie zu hoffen. Politiker, die mit ihren Parteien oder Klientelgruppen in der Mitte zwischen den beiden Richtungen stehen, gibt es auch, und hohe Geistliche auf der sunnitischen Seite versuchen ebenfalls – wie es ihr schiitischen Kollegen tun – in politischen Fragen mitzusprechen.
Vorwahlstimmung
Im kommenden September sollen lokale Wahlen stattfinden. Sie werden als Stimmungsbarometer gewertet für die Parlamentswahlen, die 2018 anstehen. Viele der politischen Beobachter beklagen, dass die sunnitischen Politiker nicht in der Lage seien, zusammenzuarbeiten, anstatt sich zu streiten. Sie merken an, dass die sunnitische Bevölkerung nach der Besetzung durch den IS, die in erster Linie sie betraf, und nach den verheerenden Jahren der Kriege dringend einer Führung bedürfte, die sich ihrer Anliegen und Nöte annimmt. Doch die sunnitischen Politiker, so sagen sie, seien vollauf damit beschäftigt, miteinander zu streiten.