Lediglich 200 statt der üblichen 1600 Personen waren Mitte vergangener Woche im US- Kongress zugegen, um zu erfahren, wie der 46. amerikanische Präsident die ersten 100 Tage seiner Amtszeit einschätzt. Der Publikumsschwund war sowohl Corona-Massnahmen als auch strengen Sicherheitsvorkehrungen geschuldet, die Washington DC nach dem Sturm auf das Kapitol am 6. Januar ergriffen hat.
Auch so waren die Erwartungen an Joe Bidens erste grosse Rede seit seinem Amtsantritt hoch, denn die Herausforderungen, denen sich die USA derzeit gegenüber sehen, sind beträchtlich: «Es sind hundert Tage vergangen, seit ich meinen Eid geschworen habe, seit ich – wie wir alle – eine Nation geerbt habe, die sich in einer Krise befand, die schlimmste Pandemie dieses Jahrhunderts, die schlimmste Wirtschaftskrise seit der Great Depression, der schlimmste Angriff auf die Demokratie seit dem Bürgerkrieg.» Der Präsident hätte im selben Atemzug noch die Rassenproteste nach der Ermordung George Floyds in Minneapolis, die jüngsten Fälle von Schusswaffengewalt oder das Problem steigender Einwanderungszahlen erwähnen können.
Die hohen Erwartungen hat Joe Biden zumindest rhetorisch erfüllt, wenn auch nur für die Wählerinnen und Wähler der demokratischen Partei. Die Republikaner zeigten sich unbeeindruckt und enttäuscht, was zwar angesichts der Spaltung der amerikanischen Gesellschaft wenig überrascht. Ihr Vorwurf aber, der Präsident tue zu wenig, um die Nation zu einen, war pure Heuchelei, als hätte Donald Trump alles versucht, um die zerstrittenen Lager im Lande zu versöhnen. Oder als hätte er strikte Ausgabendisziplin geübt, wie das die republikanische Partei stets fordert, aber an der Macht prompt vergisst, wenn es um ihre Lieblingsprojekte wie etwa eine starke Armee geht.
Auch Joe Biden weiss, dass die Details seiner politischen Kernbotschaft erst einmal den Punkten eines Wunschzettels ähneln, weil hochfliegende Rhetorik erfahrungsgemäss das eine, praktische Umsetzung in die Realität das andere ist: «Jetzt, nach nur hundert Tagen, kann ich dieser Nation bescheinigen, Amerika ist bereit zum Abheben. Gefahr in Möglichkeiten verwandelnd, Krise in Chancen, Rückschläge in Stärke.»
Bidens Optimismus gründet auf dem Erfolg seines 1,9 Billionen Dollar teuren Corona-Hilfspakets, das zwar ohne eine einzige Stimme aus dem republikanischen Lager verabschiedet worden ist, aber bei 64 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner, selbst unter Republikanerinnen und Republikanern, auf Zustimmung stösst. Landesweit liegen Bidens Zustimmungswerte bei 52 Prozent, elf Prozent höher als seinerzeit die Donald Trumps, der nie über 42 Prozent kam.
Auf das Corona-Hilfspaket («American Rescue Plan») will Biden ein Infrastrukturprogramm («American Jobs Plan») über 2,3 Billionen Dollar und ein Bildungsprogramm («American Families Plan») über 1,8 Billionen Dollar folgen lassen. Es sind dies die grössten und die ehrgeizigsten Programme des US-Staates seit dem 2. Weltkrieg. Finanziert werden sollen die zusätzlichen Hilfspakete durch Steuererhöhungen für Unternehmen sowie für Jahreseinkommen über 400’000 Dollar.
Zwar gibt es in der Bevölkerung laut einer Umfrage der Monmouth University für beide Vorhaben eine Zustimmung von 68 Prozent, aber ihnen erwächst nicht nur seitens aller Republikaner, sondern auch aus den Reihen der Demokraten vereinzelt Widerstand, denen die Programme je nach Standpunkt zu weit oder zu wenig weit gehen oder zu kostenneutral sind.
Auch ist noch ungewiss, durch welchen Mechanismus die beiden Gesetze angesichts der prekären Mehrheitsverhältnisse im Kongress zu verabschieden wären. Die meisten der ambitiösen Vorhaben Joe Bidens erfordern im 100-köpfigen Senat eine Mehrheit von 60 Stimmen. Derzeit stehen in der kleinen Kammer 50 Demokraten 50 Republikanern gegenüber. Und nächstes Jahr sind bereits wieder Zwischenwahlen.
Wenig Neues war im Kongress über die Pläne des US-Präsidenten in Sachen Aussenpolitik zu vernehmen. Biden bekräftigte seinen Entscheid, bis zum 20. September 2021 Amerikas verbliebene Truppen aus Afghanistan zurückzuziehen – aus einem Krieg, der die Nation innert zwei Jahrzehnten 6’118 Menschenleben gekostet und Milliarden von Dollar verschlungen hat. Was Länder wie China, Russland, den Iran und Nordkorea betrifft, wiederholte er seine Absicht, ihnen gegenüber wenn nötig hart aufzutreten, gleichzeitig aber wo möglich zu kooperieren.
«Es ist ihm todernst, die wichtigste Nation der Welt zu werden», sagte Joe Biden über Chinas Präsident Xi Jinping: «Er und andere Autokraten denken, dass Demokratie im 21. Jahrhundert nicht mit Autokratien konkurrieren kann – es dauert zu lange, um gemeinsamen Grund zu finden.» Und an anderer Stelle: «Kann unsere Demokratie die Lügen, den Zorn, den Hass und die Ängste überwinden, die uns auseinandergerissen haben? Amerikas Gegner – die Autokraten der Welt – wetten darauf, dass wir das nicht können.»
Anders als für Ronald Reagan ist für Joe Biden der amerikanische Staat die Lösung und nicht das Problem. Einzelne Kommentatoren vergleichen ihn denn bereits mit Franklin D. Roosevelt (F. D. R.), einem demokratischen Präsidenten, der die Nation 1933 während einer schweren Wirtschaftskrise übernahm und dessen Initiativen das Land nachhaltig zum Besseren veränderten. «Biden kann seine Präsidentschaft nach wie vor mit einem Leistungsausweis beenden, der mehr dem Obamas oder Clintons ähnelt als dem Roosevelts», meint im «New Yorker» Susan B. Glasser, die als Journalistin über sechs amerikanische Präsidenten berichtet hat, die alle, egal ob Republikaner oder Demokraten, im Schatten Reagans gestanden und sich davor gehütet hätten, dem Staat spürbar mehr Einfluss zu verschaffen: «Bidens erste Entscheide lassen vermuten, dass er zum Anfang eine fundamental andere Reihe von Wegen einschlagen will. Das Ergebnis ist der unverblümt liberalste Aufruf zu Taten, den ich je von einem Präsidenten im Kongress habe hören können.»