Der jüngste Bollywood Blockbuster heisst Dangal, im Bauerndialekt von Nordindien das Wort für „Ringkampf“. Es geht um den uralten Kampfsport der Pehelwans, wie die eingeölten Fleischkolosse genannt werden, die sich im Sand wälzen und auf den Rücken werfen. Es ist aber auch die Geschichte eines neuartigen Ringkampfs – zwischen Patriarchat und weiblichem Geschlecht.
Athletische Tochter
Der Film von Superstar Aamir Khan ist auf dem besten Weg, sechs Milliarden Rupien (100 Millionen CHF) einzuspielen – ein indischer Rekord. Das Skript basiert auf einer wahren Geschichte (ich habe sie auch in meinem Indien-Buch von 2015 erzählt): Mahavir Phogats Pehelwan-Karriere ist zu Ende, und er sitzt in der Kleinstadt-Bürokratie irgendwo in Haryana seine Jahre aus. Er ist zudem mit drei Töchtern bestraft, und er frisst dieses Karma buchstäblich in sich hinein, wird dick und einsilbig.
Bis er eines Tages Zeuge wird, wie seine älteste Tochter Geeta einen Burschen in die Knie zwingt, weil er sie auf dem Schulweg ständig hänselt. Plötzlich sieht er eine neue Lebensaufgabe vor sich: Er will seine Töchter für den Ringkampf trainieren. Er lässt sie frühmorgens über die Felder laufen, Liegestütze machen, Ziegel stemmen. Zum Schrecken von Mutter und Töchtern verpasst er ihnen zudem einen Kurz-Haarschnitt, als wolle er sie zu kleinen Kerlen machen.
Siegesserie
Weil im Sandplatz der Kleinstadt, wo die vierschrötigen Bauernsöhne trainieren, kein Platz ist für zarte Pflänzchen, baut er ihnen draussen auf dem Feld einen offenen Schuppen. Dort bringt er ihnen die ersten Kniffe bei, und er schickt einen Neffen als Sparringpartner in den Sandring, der die Fliegengewichte regelmässig auf den Rücken schmeisst.
Bis eines Tages das Gegenteil geschieht. Geeta kompensiert ihr mangelndes Gewicht durch Technik, Geschmeidigkeit und Ausdauer. Mahavir Phogat lässt sie darauf in Dorfturnieren gegen die Jungen antreten. Die Tochter überwindet auch den Brachialstil der Männerriege. Geeta und dann ihre Schwester Babita eilen von Sieg zu Sieg, lokal, regional, national und schliesslich international. In den Commonwealth Games von 2010 setzt sich Geeta im Final gegen eine Australierin durch und gewinnt die Goldmedaille.
Autoritäre Vaterfigur
Es ist eine gute Geschichte, und der Subtext macht sie noch besser. Dessen Botschaft: Es braucht eine autoritäre Vaterfigur, um der indischen Frau zu ihrem Recht auf Chancengleichheit zu verhelfen. Allerdings – und das ist neu im Film – auch diese Autorität wird schliesslich untergraben. Als Geeta in der Nationalen Sportakademie von Patiala zur jungen Frau wird, ihr Haar wachsen lässt, Make-up entdeckt, ins Kino geht, kommt es im Heimurlaub regelmässig zu Auseinandersetzungen. Sie gipfeln schliesslich in einem Ringkampf mit dem Vater. Es ist der Höhepunkt des Films, eine lange Filmsequenz, an deren Ende der Zweihundert-Pfunder auf dem Rücken liegt.
Dennoch endet alles dann wieder in bewährter Bollywood-Manier in Minne, auch für das gebeutelte Patriarchat. Der Film verdankt dies einem fiktionalen Trick Aamir Khans, der zwischen guter und schlechter Vater-Autorität zu unterscheiden weiss. Der Trainer in der Akademie ist verschlagen und korrupt, missgönnt dieser Bauerntochter die Siege über seine städtischen Schützlinge. Falsche Anweisungen führen zu Niederlagen, bis der Vater genug hat und aus der Schmollecke kommt. Er mietet in Patiala ein Zimmer, lässt seine zwei Töchter in der Morgendämmerung über die Mauern klettern und jagt sie über die Felder.
Lange Haare – kurze Haare
Geeta siegt wieder, und es sind wieder seine Siege. Am Ende, beim Commonwealth-Sieg, schenkt ihm Geeta ihre Medaille. Er nimmt sie ab und hängt sie ihr wieder um den Hals. Dann streichelt er ihr über das Haar, das einmal den grossen Streit provoziert hatte. Es ist ... kurzgeschoren.
In den Filmkritiken entbrannte darauf ein Streit, ob dies nicht beweise, dass am Ende doch die väterliche Autorität den Sieg davontrage. Nein, lautete der Konter: Es war Geetas Entscheid gewesen, das Haar wieder kurz zu tragen, und zwar aus sportlichen Gründen. Zudem habe sie ihre Autonomie unter Beweis gestellt, indem sie das übliche Trotzmuster überwand.
Widersprüchliches Indien
Die Journalistin Natasha Narwal sah sich den Film in Rohtak an, einer Stadt im Herzen von Haryana. Es ist auch die Heimat von Sakshi Malik, die bei den olympischen Spielen in Rio die Bronzemedialle geholt hatte, nicht zuletzt dank ihrem grossen Vorbild Geeta Phogat. Die ganze Stadt, so schrieb Narwal im Newsportal „The Wire“, sei mit Plakaten von Maliks Konterfei behängt gewesen. Dies hielt die jungen Männer im Kino nicht davon ab, die derben Sprüche Mahavirs zu beklatschen – und zu pfeifen und grölen, wann immer Geeta ins Bild kam.
Wann muss Aamir Khans Dangal zugute halten, dass er Indiens komplexe und widersprüchliche Entwicklung unvergoren und ehrlich zur Schau stellt. So spielt er auch Mahavir Phogat, autokratisch und unglücklich über das fehlen eines Stammhalters. Doch als sich seine Frau entschuldigt, weist er sie zurecht: „Es ist nicht Dein Fehler.“
Fatale Selektion
Dass die Zeit reif ist für Veränderungen – und dass das doppelbödige Skript diese wirksam beschleunigen kann – zeigt die Entwicklung in Mahavir Phogats Heimat Haryana. In der Bevölkerungszählung von 2011 hielt der Bundesstaat im Westen von Delhi den Negativ-Rekord beim Geschlecht von Neugeborenen: Auf 1000 Knabengeburten kamen nur 879 Mädchen; beim fünften Lebensjahr sank das Verhältnis gar auf 1000/834. Dank Ultraschall wurden zahlreiche weibliche Foetizide verübt, und weibliche Kleinkinder erhielten schlechtere Pflege und Nahrung als Knaben.
Die Daten wurden landesweit diskutiert und verurteilt. Auch die sexuellen Übergriffe auf Mädchen nahmen zu – kein Wunder, denn Eltern haben immer mehr Mühe, für ihre Söhne eine Braut zu finden. Die Regierung von Narendra Modi machte endlich ernst mit der Durchsetzung des Gesetzes gegen den Missbrauch von Ultraschall-Techniken.
Stolz auf Töchter
Haryana wurde zur Kampffront erklärt. Zahlreiche Diagnostik-Zentren wurden geschlossen, über 400 Strafanzeigen gegen Radiologen und Gynäkologen erhoben. Die Wirkung blieb nicht aus. Die Geburtsrate für Mädchen zog steil an und erreichte letztes Jahr 935 Mädchen auf 1000 Knaben. Im Subdistrikt von Nathusari allein stieg sie von 852 (2013) auf 1452 (2016).
Der Premierminister stellte sich persönlich an die Spitze einer Kampagne, mit dem Ziel, Mädchen nicht aus der Schule zu nehmen, wenn sie in die Pubertät kommen, wie dies häufig geschieht. Er forderte Väter auf, ein Selfie mit der Tochter zu schiessen und dies über Twitter zu verbreiten. Es wurde ein Riesenerfolg. Und es blieb nicht bei einer Tochter – Väter posierten, mit allen Töchtern um sich geschart. Der Bauer Banwari Lal aus Nathusari Kalan stellte sich stolz mit sechs Töchtern und einem Sohn ins Bild.
Allerdings: Jedermann war sich sofort klar, wessen Geschlechts das jüngste Kind war. Und als ein Reporter des Indian Express das Dorf besuchte und eine 20-Jährige nach ihrer Reaktion auf den Aamir-Khan-Film befragte, war diese voll des Lobes. „Es ist wie die Geschichte unserer Familie“, sagte sie treuherzig. „Unser Vater ist für uns Schwestern ebenfalls das grosse Vorbild.“